Es sollte eine Demonstration der Stärke sein, aber die Anordnung von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hielt keine vier Wochen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat in mehreren Eilverfahren entschieden, dass Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze rechtswidrig sind. Deutschland müsse sich an das Dublin-Verfahren halten, so argumentiert die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts. Das heißt, dass die Asylbewerber das Recht haben, die Grenze zu überqueren – und das BAMF müsse zumindest prüfen, ob Deutschland für das Asylverfahren zuständig ist.
Die Ausnahmeregelung von Art 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) lässt das Gericht nicht gelten. Er würde eine Abweichung vom EU-Recht im Falle einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erlauben. Dem Gericht aber fehle es „dafür bereits an der hinreichenden Darlegung“ einer solchen Gefahr, argumentieren die Richter. Ausweislich der Pressemitteilung hat die Bundespolizei nicht ausgeführt, worin die Notlage besteht.
Dobrindt hatte am 7. Mai, seinem ersten Arbeitstag, die Bundespolizei angewiesen, die Grenzkontrollen zu verschärfen und Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen. Frauen mit Kleinkindern, Hochschwangere, schwer Erkrankte und andere erkennbar vulnerable Menschen sollten davon ausgenommen werden. Nach Paragraf 18 Asylgesetz sind Zurückweisungen gestattet, allerdings ist das deutsche Recht überlagert vom EU-Recht. Der politische Streit darüber, welche Regelung gilt, schwelt seit 2015. Angela Merkel verteidigte damals den Vorrang des Europarechts gegen den erbitterten Widerstand der CSU. Im Sommer 2018 war das Verhältnis der Schwesterparteien darüber in eine tiefe Krise geraten.
Für die neue Bundesregierung ist die Frage politisch heikel. Einerseits hat die Union eine „Asylwende“ versprochen, die Zurückweisungen sind dabei der zentrale Punkt. Andererseits bemüht sich Friedrich Merz, das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn zu verbessern. Das Signal, dass Deutschland sich nicht mehr an Europarecht hält, ist da nicht hilfreich. Die Folge war eine chaotische Kommunikation: Die Ausrufung einer Notlage wurde vom Regierungssprecher dementiert, allerdings leicht verwaschen. Stefan Kornelius sprach vom „Notstand“, was juristisch etwas anderes ist. Ausgerufen werden muss die Notlage allerdings in der Tat nicht. Dobrindt selbst nannte das Wort „Notlage“, aber vermied eine klare Positionierung zu der Frage, ob die Dublin-III-Verordnung damit außer Kraft gesetzt werde.
Offenbar hatte sich Dobrindts Ministerium trotz der kraftstrotzenden Ankündigung des Chefs auf einen Rechtsstreit nicht hinreichend vorbereitet. Die Hürden für die Ausnahme nach Artikel 72 AEUV sind hoch, den Beweis einer Notlage müssen die deutschen Behörden führen – in dem Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht wurde die Notlage aber überhaupt nicht begründet. Dass das Prozessrisiko hoch war, dürfte im BMI bekannt gewesen sein: Bisher sind alle Versuche von Mitgliedstaaten, sich auf die Norm zu berufen, vor dem EuGH gescheitert. Am Montag erklärte er in Bild, er werde die Zurückweisungen fortsetzen. „Wir bleiben dabei.“ Das Bundesinnenministerium werde nun in das Hauptsache-Verfahren gehen und dort eine „dezidiertere Begründung“ vorlegen. Was das für die Praxis an den Grenzen bis zu einer endgültigen Gerichtsentscheidung bedeutet, blieb zunächst offen.
Dobrindt hatte am 7. Mai nur recht pauschal erklärt, dass Zurückweisungen von Asylsuchenden nötig seien, um hierzulande die Überforderung der Kommunen und der zuständigen Behörden zu verhindern. Die Migrationszahlen seien noch viel zu hoch und müssten signifikant zurückgehen. Eine rechtliche Ausarbeitung, die mit Zahlen und Fakten belegt ist, gibt es dem Vernehmen nach nicht. Die Argumentation wird noch dadurch erschwert, dass die Migrationszahlen im vergangenen Jahr zurückgegangen sind und die EU zudem die GEAS-Reform beschlossen hat, die noch in deutsches Recht umgesetzt werden muss und die Sekundärmigration in der EU weitgehend unterbinden soll.
Die Bundesregierung muss einen Umgang mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts finden. Für die SPD war die Vereinbarung der Zurückweisungen ohnehin nur tragbar durch den Zusatz, dass sie nur „in Abstimmung“ mit den Nachbarstaaten geschehen dürfe. Was das konkret heißen soll, blieb aber unklar. Justizministerin Stefanie Hubig hat zwar erkennbar den Willen, die Zusammenarbeit mit dem BMI fruchtbarer zu gestalten als in der vergangenen Legislaturperiode. Aber sie hat auch deutlich darauf hingewiesen, dass sie sich als Hüterin der europarechtlichen Vorgaben sieht.