Der Appell der grünen Basis, den 730 Mitglieder unterzeichnet haben, lässt sich auf zwei Arten lesen : Einerseits stellt er mit deutlichen Worten klar, dass die aktuellen Asylpläne der Ampel-Koalition und der Europäischen Union für die Autorinnen und Autoren eine rote Linie überschreiten. Andererseits spricht aus dem Brief keine bloße Rebellion der Basis gegen die Spitze, auch wenn er an Annalena Baerbock, Robert Habeck sowie die Partei- und Fraktionsspitzen adressiert ist. Er lässt sich auch als Argumentationshilfe lesen, mit der den Koalitionspartnern SPD und FDP deutlich gemacht werden soll, dass die geplanten Verschärfungen die Ampel weiter spalten statt befrieden würde.
„Mich sorgt, dass der Schutz von Minderjährigen reduziert werden soll“, sagt Sachsens Justizministerin Katja Meier. Minderjährige und ihre Familien müssten grundsätzlich ausgenommen sein, Gleiches gelte für vulnerable Personen. Europäische Solidarität, das bedeutet für Meier Seenotrettung ebenso wie ein fairer Verteilmechanismus. „Als Justizministerin ist es mir wichtig, dass die Rechtsstaatlichkeit in allen Asylverfahren gewahrt bleibt.“ Das schließe den freien und kostenlosen Zugang zu unabhängiger Beratung, zu einem Rechtsbeistand, zu NGOs und zu effektivem Rechtsschutz ein. Angesichts der verhärteten Positionen einiger Länder sagt Meier: „Eine deutlichere Strategie seitens der Verhandlungsführerin der Bundesregierung wäre wünschenswert.“
„Der Tonfall verdeutlicht, wie wichtig den Unterzeichnenden das Anliegen ist“, sagt MdB Helge Limburg. Der Brief bekräftige, was in der Debatte um die Haltung Deutschlands wichtig sei: „Wir müssen die Grund- und Menschenrechte in Europa verteidigen und bewahren.“ Von der Genfer Flüchtlingskonvention abzurücken, müsse undenkbar bleiben. „Wir brauchen europäische Solidarität und gerechte Verteilung statt willkürlicher Inhaftierung in Lagern an den Grenzen.“
Die Grünen mussten seit Beginn der Koalition zahlreiche schwere Kompromisse schlucken – etwa in der Energiepolitik, aber nicht nur. Umso deutlicher wird jetzt der Widerstand formuliert, sollte ähnlicher Druck auch beim Asylrecht entstehen. Die Gefahr dazu besteht, das befürchten nicht nur die Autorinnen und Autoren des Briefes. Sie verweisen dabei auf alles, was gerade zur Diskussion steht – die Verfahren an den EU-Außengrenzen, die Ausweitung der Liste vermeintlich oder tatsächlich sicherer Drittstaaten, möglicherweise sogar die Definition einer Obergrenze. Nach vielen Zwängen in den letzten 16 Monaten soll jetzt nicht noch ein Zwang dazu kommen.
Und doch beteuert Limburg: „Der Brief ist kein Ultimatum in irgendeiner Form.“ Er verdeutliche eher, „wie wichtig dem zweitgrößten Koalitionspartner in der deutschen Regierung die Bewahrung humanitärer und menschenrechtlicher Mindeststandards in der aktuellen Debatte ist“.
Limburg hat den Brief nicht unterzeichnet, auch kein anderer MdB. Zu den Unterzeichnenden gehören die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina, die Fraktionsvorsitzende im thüringischen Landtag Astrid Rothe-Beinlich und Grüne-Jugend-Co-Chef Timon Dzienus, außerdem ein gutes Dutzend Landtagsabgeordnete aus ganz Deutschland.
Dietrich Herrmann, Grünen-Mitglied seit 1982, sagt, dass er unterzeichnet hätte, wäre der Brief früher bei ihm eingegangen. Eine breitere Mitgliedschaft habe der Brief so kurzfristig gar nicht erreichen können. Er geht deshalb „von einer sehr viel breiteren Zustimmung aus.“ Der Dresdner Historiker und Politikwissenschaftler will den Appell als „Ermutigung, Bestärkung, Rückenwind“ gelesen wissen. Der schwierigen Debatten auf EU-Ebene seien sich alle bewusst, die den Brief verfasst haben. Trotzdem „wollen sie mögliche Asylrechtsverschärfungen nicht einfach hinnehmen.“
Herrmann betont, dass der Brief weder Ausdruck eines Basis-Führung-Konflikts sei noch in übliche Schemata zwischen Linken und Realos passe „Ein solches Framing wäre geradezu absurd.“ Herrmann sagt, dass er Abschottung langfristig für dysfunktional halte. „Forschung zeigt, dass die Wahl des Ziellandes im Migrationsprozess viel komplexer und komplizierter ist und von persönlichen, kulturellen und familiären Faktoren entscheidend mitgeprägt wird.“
„Unterm Strich muss es eine tatsächliche Verbesserung zur bestehenden Rechtslage geben, sonst ist die Änderung für mich nicht zustimmungsfähig“, sagt MdB Kassem Taher Saleh. Er und andere Mitglieder von Brand New Bundestag haben einen eigenen Brief verfasst. Viele Aspekte seien „komplett unklar und hochproblematisch“, so etwa Fragen rund um Rechtsschutz, den Schutz von Minderheiten in den Lagern sowie den Umfang der dortigen Infrastruktur. Zudem stelle sich die Frage, „wie wir es mit den Menschenrechten vereinbaren können, Menschen de facto in Haft zu stecken.“
Der Sachse Taher Saleh ist für die Grünen 2021 in den Bundestag eingezogen, zwei Jahre, nachdem er die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat. Der 30-Jährige ist als Kind mit seiner Familie aus dem Irak geflohen. Er findet: „Der aktuelle Vorschlag wird auch nichts an den vielen Toten im Mittelmeer und auf den Fluchtwegen ändern. Wir brauchen stattdessen sichere Fluchtrouten und eine staatliche Seenotrettung.“