Analyse
Erscheinungsdatum: 02. Mai 2024

Antisemitismus: Warum er immer schlimmer wird – und wie Berlin gegen ihn kämpfen will 

Antisemitische Banner und Parolen wie am 1. Mai nehmen öffentlichen Raum in Besitz, Delikte haben seit dem 7. Oktober sprunghaft zugenommen, Antisemitismus hat sich wie ein Flächenbrand auf verschiedenste Milieus gelegt. Die Behörden reagieren langsam. Manche Initiativen könnten aber zumindest ein wenig helfen.

„From the river to the sea“ – der Spruch, der für die Vertreibung aller Israelis aus ihrer Heimat steht, er prangte am Tag der Arbeit auch auf Plakaten in Berlin. „Stoppt das Töten. Stoppt den Krieg. Palästina bis zum Sieg“: Die Polizei rechnete zwar schon vorher mit „verbotenen und menschenverachtenden Äußerungen“, wie der Berliner Gewerkschaftssprecher Benjamin Jendro Table.Briefings sagt. Aber auch er konstatiert: Das Kernproblem Antisemitismus wird immer größer, seit die Hamas am 7. Oktober Israel angriff. Er geht sogar so weit, vor falschen Hoffnungen zu warnen. Der Staat sei leider aktuell gar nicht in der Lage, Jüdinnen und Juden absolute Sicherheit zu garantieren.

Die Fallzahlen nehmen zu, der Antisemitismus zeigt sich in neuer Unverhohlenheit. Allein im ersten Monat nach dem Angriff stieg die Anzahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland nach einer Messung der Meldestelle RIAS um 320 Prozent. Seither zeigt sich die neue Unverfrorenheit über verschiedenste Milieus hinweg, in denen die antisemitische Menschenfeindlichkeit längst schwelte. Auf Neonazi- ebenso wie auf islamistischen und linksextremen Demonstrationen, aber auch in bestimmten Uni-Gruppen, in entsprechenden Kultur-, Bar- und Clubszenen. Erfasste die Berliner Polizei 381 Fälle über das Jahr 2022 hinweg, waren es allein zwischen 7. Oktober und 25. Februar 526 Fälle, vor allem Sachbeschädigung, Gewalt und Propaganda. Der Verfassungsschutz warnt vor einer antisemitischen Querfront.

Was sich früher nur hinter vorgehaltener Hand zeigte, sucht jetzt die Inbesitznahme des öffentlichen Raumes. In einigen Berliner Stadtteilen kommt Solidarität mit Menschen in Israel auf Bannern oder Fassaden quasi überhaupt nicht vor, während Solidaritätsbekundungen mit Palästina omnipräsent sind. Auf Jüdinnen und Juden wirkt das mit jedem Tag bedrohlicher. "Fuck Israel" ist es, was ihnen begegnet.

Clubs, die sich zum Existenzrecht Israels bekennen, haben Probleme, DJs zu buchen, Veranstalter sagen jüdische Events ab – der „Zenner“ am Treptower Park etwa lud den „Carneval de Purim“ aus. Viele Jüdinnen und Juden trauen sich nicht mehr, ihr Jüdisch-Sein zu zeigen; sie tragen David-Sterne, wenn überhaupt, dann nur noch unter T-Shirts. Hebräische Schriftzeichen tragen sie ohnehin fast nur noch zuhause.

Immer mehr Juden denken darüber nach, Deutschland zu verlassen. Die Angst vor Gewalt und Ausgrenzung überwiegt inzwischen immer häufiger den Stolz darüber, als Enkel von Holocaust-Überlebenden sich wieder in Deutschland niederzulassen. Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg ist entsetzt. „Es ist unerträglich und beschämend, dass Juden Drohungen ertragen müssen und sich nicht mehr sicher fühlen“, sagt sie zu Table.Briefings. „Wir müssen Antisemitismus, sei er politisch oder religiös motiviert, entschieden entgegentreten. Man wird meines Erachtens nicht sagen können, dass genug getan ist, solange es Antisemitismus gibt.“

Im Netz oder auch als Graffiti auf Fassaden bleibt Antisemitismus oft ungestraft, weil es Behörden nicht gelingt, Täterinnen und Täter namhaft zu machen. Außerdem erfüllt Antisemitismus an sich keinen eigenen Straftatbestand. „Der gesetzliche Rahmen ist schwierig, denn er lässt wenig präventive Maßnahmen zu“, so Polizeigewerkschafter Jendro. Wenn etwa Israelfeindlichkeit in der Anmeldung und durch Anmelder einer Demonstration nicht klar auszumachen ist, ließe sich wenig machen, außer vor Ort zu reagieren, „auch wenn du dir sicher bist, was passieren wird.“

Die Berliner Polizei hat seit Jahren immer wieder auf die antisemitische Haltung des Vereins Samidoun verwiesen. Erst nach dem 7. Oktober folgte das Verbot. Derzeit diskutiert der Berliner Senat über eine Antisemitismus-Klausel, die Vereinen und Organisationen mit entsprechender Haltung die Finanzierung verwehren soll. Sie soll im Juni kommen. Auf Bundesebene hat der Bundestag die Richteranklage im Februar erleichtert, um Extremisten aus Richterposten entfernen zu können.

Justizsenatorin Badenberg möchte in einem rechtsstaatlichen Verfahren klare Verhältnisse schaffen. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten Recht sprechen oder auf andere Art und Weise an der Rechtsfindung beteiligt werden.“ Außerdem will sie den Austausch zwischen Verfassungsschutz, Gerichten und Staatsanwaltschaften über Verfassungsfeinde gesetzlich verankern. Der Bundesrat sprach sich zudem dafür aus, ein Bekenntnis zum Existenzrecht des Staats Israel zur Voraussetzung für Einbürgerungen zu machen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!