Analyse
Erscheinungsdatum: 25. Juni 2024

Antisemitismus: RIAS misst Höchststand für das Jahr 2023

RIAS erfasst seit dem Hamas-Massaker einen radikalen Anstieg antisemitischer Taten. In der Folge ziehen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder aus der Öffentlichkeit zurück.

Die Meldestelle RIAS hat 2023 einen neuen Höchststand antisemitischer Taten in Deutschland erfasst: 4.782 Fälle, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 83 Prozent. Mehr als die Hälfte der Bedrohungen und Angriffe ereigneten sich nach dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Massakers auf Menschen in Israel. Dabei wurden das Massaker und die damit verbundenen Morde, Vergewaltigungen und Entführungen „vielfach geleugnet, relativiert oder legitimiert.“ Israel verharrte noch in Schock und Trauer, da schnellte die antisemitische Aggression in der Bundesrepublik schon hoch. „Wir sehen, dass die antisemitischen Massaker in Israel Menschen in Deutschland motivieren, sich antisemitisch zu verhalten“, sagte die Co-Autorin des Berichts Bianco Loy zu Table.Briefings. „Das auslösende Ereignis bildet sich also als Gewaltform in Deutschland ab.“ Hier geht es zum Interview mit der Wissenschaftlerin.

Besonders die Angriffe gegen Einzelpersonen haben zugenommen, im Vergleich zum Vorjahr um 118 Prozent. Angriffe gegen Institutionen stiegen um 29 Prozent. Dementsprechend wurden zwar auch Synagogen, Online-Plattformen oder Gedenkstätten häufiger zu Tatorten; einen weit größeren Anstieg um mindestens das Doppelte verzeichnete RIAS aber an Alltagsorten wie Schulen, Kitas, Unis, Straßen, Restaurants oder Sportstätten. Im Ruhrgebiet griffen Antisemiten in zwei Nächten hintereinander ein Familienhaus mit Bengalos an, lösten in der zweiten Nacht einen Brand im Garten aus; sie hinterließen antisemitische Parolen auf der Fassade. In Berlin schubsten Täter jemanden mit den Worten „Juden fahren hier nicht mit“ aus der Bahn.

Viele jüdische Eltern nahmen ihre Kinder von staatlichen Schulen; Studierende pausierten, weil sie mit so viel Hass konfrontiert waren. Dass ein Student in Berlin mit schweren Verletzungen im Krankenhaus landete, nachdem ein Kommilitone ihn verprügelt hatte, fand noch nicht mal Eingang in die Statistik, die mit dem 31. Dezember 2023 endete.

Auch Lehrerinnen und Lehrer erlebten im Unterricht antisemitische Beleidigungen. In einer sächsischen Klasse etwa beschimpfte ein Schüler seine Lehrerin als „Dreckjude“ und „Frau Hitler“. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, erinnerte an eine Erklärung, die alle Kultusministerinnen und -minister 2021 unterzeichnet haben – nur an der Umsetzung mangele es bislang. Die Erklärung fasst Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus an Schulen zusammen, darunter Medienkompetenz oder auch die Staatsgründung Israels als Lehrinhalte.

Klein verwies einerseits darauf, dass bei Polizei und Justiz schon viel Fort- und Weiterbildungsarbeit geschehen sei, damit etwa Beamte beim Aufnehmen von Anzeigen Antisemitismus in all seinen Varianten als Motiv er- und anerkennen. Gleichzeitig forderte er mehr Repression gegen Antisemiten. Auch RIAS forderte Reformen bei der Polizei. Immer wieder hätten Jüdinnen und Juden sich nicht ernst genommen gefühlt, manche Beamte hätten ihnen beim Aufgeben von Anzeigen eine Mitschuld gegeben, weil sie in ihrem Jüdisch-Sein erkennbar gewesen wären. RIAS drängt darauf, dass die Polizei stärker die Perspektive von Betroffenen einnimmt.

Am stärksten zugenommen haben im vergangenen Jahr unter den identifizierten Tatmotiven der antiisraelische, der linke und der antiimperialistische Antisemitismus. Eine zentrale Rolle spielten Demonstrationen. Allein von 7. Oktober bis Jahresende zählte RIAS 415 antisemitische Versammlungen.

Am Rande einer Demonstration in Leipzig schüttelte eine Passantin den Kopf über das Geschehen, worauf zwei Männer sie aggressiv angingen. Einer sagte ihr, sie sehe aus wie eine Jüdin – würde er jetzt mit ihr „anfangen“, würde sie die nächsten zwei Wochen nicht mehr gehen können. Verschränkungen von Antisemitismus mit Sexismus erfasste RIAS immer wieder. Auch Rassismus kam in Tateinheit oft vor.

„Es ist in Deutschland immer noch zu einfach und zu günstig, antisemitisch zu sein“, sagt Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden. Neben linkem und islamischem Antisemitismus spielt auch rechtsextremer weiterhin eine große Rolle; ihn beobachtete RIAS gerade in ostdeutschen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern häufig.

In elf Ländern betreibt RIAS inzwischen regionale Meldestellen. In Bremen, Hamburg, Brandenburg, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gibt es noch keine Stellen, was sich deutlich in den Meldezahlen abbildet – in Hamburg etwa verzeichnete RIAS nur 41 Fälle, während es in Berlin 1.270 gab. In Bayern waren es 733 Fälle, in Baden-Württemberg nur 150. Bianca Loy von RIAS kritisierte gegenüber Table.Briefings einen Mangel an politischem Willen und finanzieller Unterstützung in den Ländern ohne regionale Stellen.

Auch Taten ohne versuchte oder tatsächliche körperliche Gewalt tragen zu einem Gefühl der ständigen Angst bei jüdischen Menschen in Deutschland bei. In einem Café in Hessen sagte ein Gast, Gaza sei jetzt wie das Warschauer Getto und Israelis würden wahllos Kinder ermorden – jetzt geschehe es also mal umgekehrt. In Sankt Wendel (Saarland) dokumentierte RIAS unter anderem Schmierereien auf einem Mülleimer, die forderten: „Kauft nicht bei Juden“. In Ludwigsburg war an einer Straßenunterführung zu lesen „Töden alle drekkigen Yuden!“. Auf einer Tür in Zepernick (Brandenburg) stand über einer Karikatur eines Kippa-Trägers mit langer Nase geschrieben: „Deutsche! Wehrt euch!“, darüber rechtsextreme Symbole. Die jüdische Gemeinde in Freiburg erreichte ein Drohbrief mit den großgeschriebenen Worten: „Bald ist wieder Reichskristallnacht auch in Freiburg werden wir das Werk der Vernichtung des Judentums fortsetzen“ und darunter „Tod Israel“.

Dass Jüdinnen und Juden aus Deutschland wegziehen, sei zwar nicht zu beobachten, der Zuzug aus übersteige den Wegzug nach Israel. Infolge der ständigen Bedrohung ziehen Jüdinnen und Juden sich in Deutschland aber wieder aus der Öffentlichkeit zurück, manche wechselten auch den Kiez – so etwa ein Laden, der nach mehreren Angriffen aus Berlin-Friedrichshain nach Charlottenburg umzog. Sichtbarkeit und Sicherheit sind längst zum ständigen Abwägungs-Gegenstand geworden. Hebräische Sprache verschwindet aus Restaurants, Bars, Bussen und Klassenzimmern, die Schriftzeichen von T-Shirts in der Öffentlichkeit.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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