Analyse
Erscheinungsdatum: 01. April 2025

An die vorderste Front drängte es ihn selten

Stephan Weil hat seinen Rückzug als niedersächsischer Ministerpräsident und SPD-Landesparteichef erklärt. Geräuschlos und geordnet. In der Hauptstadt hat er sich eher rar gemacht, in die Bundespolitik nur selten eingemischt. Und doch wird er Einigen in Berlin fehlen.

Die Nachricht kam überraschend – und vielleicht doch nicht so ganz. Während die Führungsgenossen in Berlin die Grundzüge eines neuen Koalitionsvertrages sondierten, war Stephan Weil mit einer Wirtschaftsdelegation in Brasilien und Argentinien unterwegs. Der Trip nach Lateinamerika war ihm wichtiger als das Feilschen um Spiegelstriche, Nebensätze und Prozentzahlen. Am Dienstagmittag hat Weil, 66 Jahre alt und Ministerpräsident von Niedersachsen, seinen Rücktritt verkündet. Nicht in einem halben Jahr, sondern in sechs Wochen. Und nicht ein bisschen, sondern komplett, aus der Staatskanzlei und als SPD-Landesvorsitzender. Selbst Landtagsabgeordneter wird er wohl nur noch auf Zeit bleiben.

Zuvor hatte Stephan Weil seinen Rückzug dem SPD-Landesvorstand offenbart, der sich zu einer zweitägigen Klausur in Hannover versammelt hatte. Weil führte bei einer Pressekonferenz vor allem persönliche Gründe an. Das politische Geschäft werde „immer anspruchsvoller und immer intensiver“. Er sei nun 66 Jahre alt – „und ich merke das“. Nicht zuletzt den letzten Bundestagswahlkampf habe er, obwohl verkürzt, „als besonders kraftraubend empfunden“. Auch Schlafstörungen hätten ihm im Wahlkampf zugesetzt. Neuer Ministerpräsident soll Mitte Mai Wirtschaftsminister Olaf Lies werden. Wenn die Partei mitspielt, und nichts spricht dagegen, soll er am 24. Mai beim Parteitag in Wolfenbüttel auch den Parteivorsitz übernehmen.

Aus der Bundespolitik hatte sich Stephan Weil eher herausgehalten. Nicht wenige hätten sich von ihm zuweilen mehr Engagement bei Berliner Themen gewünscht, nicht zuletzt in Phasen, in denen die SPD eher orientierungslos und suchend wirkte, als trittsicher und überzeugend. Und von diesen Phasen gab es in der jüngeren Vergangenheit nicht wenige. Aber Weil machte sich rar, ließ die inhaltlichen Debatten oft andere führen. Engagierter trat er in den Ministerpräsidentenkonferenzen auf – aber auch da definierte er seine Rolle eher als Brückenbauer denn als Scharfmacher. Auch die Koordination der A-(SPD)-Länder hatte er lange Malu Dreyer überlassen. Nicht dass er sich herausgehalten hätte, aber das Berliner Terrain war nicht sein Pflaster: zu schnell, zu umkämpft, zu rau, oft auch zu oberflächlich.

Der jüngste Hinweis auf einen absehbaren Rückzug hätten die schwarz-roten Koalitionsgespräche sein können. Während andere SPD-Ministerpräsidenten wie Manuela Schwesig oder Alexander Schweitzer – die eine mit mehr, der andere mit weniger Erfolg – in die engere Verhandlungsgruppe der Wahrscheinlich-Koalitionäre strebten, hielt sich der erfahrenste von ihnen, nämlich Weil, vornehm zurück. Da konnte man schon ahnen, dass es ihn nicht mehr ganz an die vorderste Front drängte.

Dabei mischte er in Berlin durchaus mit, wenngleich überaus diskret. Insbesondere, wenn es um Sehnsüchte und Begehrlichkeiten der niedersächsischen Männerriege in Berlin ging. Wenn Hubertus Heil und Matthias Miersch, Lars Klingbeil und Boris Pistorius, die er alle seit vielen Jahren mit ihren Stärken und Schwächen kennt, um Posten und Positionen rangelten, musste Weil immer wieder befriedend eingreifen. Nicht zuletzt als es im November um die Frage Scholz oder Pistorius ging, gab es hohen Beratungsbedarf. Pistorius kennt er aus vielen gemeinsamen Jahren im Kabinett, auch zu dem aufstrebenden Klingbeil wird ihm ein besonderes Verhältnis nachgesagt.

Und ganz sicher hatte er bei seiner Entscheidung auch den Tod seines Freundes Thomas Oppermannn vor Augen, über den er nicht oft sprach, der ihn aber beschäftigte. Im Jahr 2020 war Oppermann, damals 66, tot in einem TV-Studio zusammengebrochen. Mit Oppermann verband Weil seit dem ersten Semester ihres Jura-Studiums damals in Göttingen eine enge Freundschaft. Es gehörte zu ihrem Ritual, in einer Kleingruppe von Freunden jährlich Wanderungen zu unternehmen.

Nun also der Stabwechsel – und obendrein einer wie aus dem Lehrbuch. Aus vollem Lauf, ohne monatelange Gerüchte, für die breite Öffentlichkeit eher überraschend, die Nachfolge geräuschlos vorbereitet, ohne zähe Debatten exekutiert – und auch den Koalitionspartner rechtzeitig eingebunden. Und das alles zur Mitte einer Legislaturperiode, so dass der Nachfolger (oder die Nachfolgerin) noch genügend Zeit hat, sich der Öffentlichkeit bekannt zu machen.Kurt Beck ist das mit Malu Dreyer 2012 in Mainz gelungen, Volker Bouffier (CDU) bei etwas weniger Vorlauf 2022 mit Boris Rhein. Olaf Lies, ganz enger Wegbegleiter von Weil und die grüne Spitzenfrau Julia Willie Hamburg waren schon vor einigen Tagen im Bilde. Der Grünen-Fraktion stattete Weil am Dienstag einen Blitzbesuch ab, bevor er vor die Presse trat.

Nun soll Wirtschaftsminister Olaf Lies übernehmen. Der gleiche Lies, inzwischen 57 Jahre alt, der sich mit Weil im Jahr 2012 um die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2013 duelliert hatte. Weil siegte seinerzeit mit 53 gegen 46 Prozent – und holte den Konkurrenten nach dem Wahlerfolg im Jahr darauf als Verkehrsminister in sein Kabinett. Lange übte sich Lies in Geduld – so lange, dass ihn die taz schon „Prince Charles von der Leine“ nannte.

Und doch: „Aus der Wettbewerbssituation ist eine Freundschaft entstanden“, beschrieb Weil das Verhältnis der beiden. Lies sei „absolut integer“ und stets „absolut loyal“ gewesen, auch als der Rückenwind für Weil zwischendurch abebbte. Und solche Phasen gab es mehrfach. Das ist keine Selbstverständlichkeit im struppigen politischen Geschäft, und der Noch-Ministerpräsident wusste es zu schätzen. Obendrein sei Lies zu einem „der echten Leistungsträger“ der Landespolitik herangewachsen. Das wird er demnächst in der Staatskanzlei beweisen müssen. Noch nicht entschieden ist, wer Lies als Wirtschaftsminister folgen soll.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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