Der Kanzler war empört. Er ist selten empört und schon gar nicht öffentlich. Aber am Mittwoch war die Geduld des Olaf Scholz erschöpft. Quasi live hatte die BILD-Zeitung den Vorschlag des Finanzministers für eine gemeinsame Auflösung der Bundesregierung öffentlich gemacht. Da platzte dem Kanzler der Kragen. In aller Eile wurde der Redetext für die Pressekonferenz angepasst, in aller Eile der Scholz’sche Zorn eingearbeitet. Zu oft habe Lindner „kleinkariert parteipolitisch taktiert“, polterte Scholz in die Kameras, „zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen“, auch die Einigung auf den Haushalt habe er „einseitig wieder aufgekündigt, nachdem wir uns in langen Verhandlungen bereits darauf verständigt hatten“.
Und dann wurde er in aller Öffentlichkeit so persönlich, wie es noch nie ein Bundeskanzler gegenüber einem seiner Kabinettsmitglieder geworden ist: „Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit!“ Wer in eine Regierung eintrete, müsse „seriös und verantwortungsvoll handeln – der darf sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig wird“. Der müsse zu Kompromissen bereit sein. Scholz: „Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht – ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei.“
Es hatte sich viel aufgestaut in dem sonst so kontrollierten Kanzler. Zwei Jahre lang hatte er tapfer zu seinem Finanzminister gehalten, hatte ertragen, dass die FDP-Fraktion immer wieder aufs Neue scheinbar grundlos Gesetzentwürfe stoppte, hatte sich öffentlich vor den Finanzminister gestellt, wenn der keine Mittel für die Bundeswehr, die Ukraine, die Bahn oder die Bundesländer bewilligen oder einfach keinen Haushaltsentwurf vorlegen wollte, hatte abgewettert, wenn SPD-Größen wiederholt einen rustikaleren Umgang mit Lindner forderten. Auch Lindners Spiel mit den Medien, dem Kanzler grundsätzlich zuwider, hatte er toleriert. Er hatte aus seiner Sicht viel gegeben, für nicht wenige Sozialdemokraten längst zu viel. Doch nun war das Geduldsdepot endgültig leer.
Allerdigs wäre es falsch zu behaupten, dass diese Koalition nicht auch schon früher kurz vor der Aufgabe gestanden hätte. Zum ersten Mal befürchteten das Ende einige in der Koalitionsspitze, als das Bundesverfassungsgericht dem Bündnis mit seinem Nein zum Umgang mit dem KTF ein zentrales Finanzierungsinstrument aus der Hand nahm. Damals, Ende November 2023, hatten nicht wenige ihre Zweifel, ob die Sache noch gut gehen könnte. Allerdings verweigerten sich SPD und Grüne seinerzeit der Forderung von Lindner, sich angesichts der neuen Geschäftsgrundlage auch einen neuen Koalitionsvertrag zu verpassen – ein Umstand, den heute manche Grüne bedauern.
Noch konkreter wurde alles Ende Juni 2024. Aus dem Finale der letzten Stunden der Beratungen für den Haushalt 2025 ist bekannt, dass Lindner im Streit um eine mögliche Schuldenaufnahme den Kanzler anfuhr, wenn ihm sein Nein nicht passe, müsse er ihn schon entlassen. Nicht so bekannt ist, was Table.Briefings vor ein paar Tagen schon einmal berichtet hat: dass Scholz zwei Tage vor der Doch-noch-Einigung mit Sozialdemokraten und Grünen einen Rauswurf der FDP tatsächlich durchgespielt hatte.
Doch damals gab es mehrere Bedenkenträger, die vor der eingeschränkten Handlungsfähigkeit einer Minderheitsregierung warnten. Am Ende klappte es doch noch mit einem Kompromiss. Allerdings war es ein Kompromiss, der die Koalition jetzt eingeholt hat : Damals hatte man quasi angedeutet, dass im Falle einer Trump-Wahl ein Überschreitungsbeschluss im Bereich des Möglichen liege, was Rot-Grün anschließend als feste Option beschrieb – und die FDP schon damals als sehr unwahrscheinlich einordnete.
Den Schaden hatten alle am Mittwochabend im letzten Koa-Ausschuss. Erst lehnte Scholz Lindners Neuwahl-Vorschlag ab, dann lehnte Lindner noch einmal Scholz Überschreitungsbeschluss ab. Und als dann Lindners Vorschlag plötzlich als Eilmeldung der BILD-Zeitung auf den Handys aufploppte, war es gelaufen. Scholz platzte der Kragen; der Kanzler sagte: „ Dann, lieber Christian, möchte ich nicht mehr, dass Du meinem Kabinett angehörst.“ Lindners Reaktion: jetzt sei wenigstens Klarheit geschaffen. Anschließend, so schildern es Teilnehmer, habe man sich die Hand gegeben; manche hätten sich sogar kurz umarmt zum Abschied.
Eine Stunde später, es war 22.30 Uhr geworden, traf sich die SPD-Bundestagsfraktion. Applaus, erstaunlich gelöste Stimmung – vor allem aber sichtbare Erleichterung bei den Genossen. Als ob sie einen Alptraum abgeschüttelt hätten. Noch einmal erläuterte Scholz seine Gründe. Von „Indiskretionen“ war die Rede. „Wir haben ganz schön was ertragen“, sagte er. Nun habe Rot-Grün „die Möglichkeit zu beweisen, dass es immer die FDP war“, die das Regieren beschwert habe. Nun könne die verbliebene Regierung beweisen, „dass es auch anders geht“.
„Wir haben das alles nicht gewollt“, assistierte Parteichef Lars Klingbeil. Aber die Entscheidung sei alternativlos gewesen. Sein Eindruck von Lindner: „Du hast aus jeder Pore gespürt, der will keine Einigung.“ Es sei undenkbar gewesen, „jetzt noch einmal 100 Stunden zu verhandeln“. Der Parteichef schwor die Abgeordneten schon mal auf Kampagne ein: „Wir gehen erhobenen Hauptes in den Wahlkampf.“ Seine Trostbotschaft für den Heimweg: Allein der Krisenabend habe der Partei 72 Neumitglieder beschert – „und das sind nur die, die sich heute Abend digital angemeldet haben“.
Der Finanzminister wiederum warf dem Kanzler am Donnerstag eine „Entlassungsinszenierung“ vor. Mit einer höheren Schuldenaufnahme hätte er gegen seinen Amtseid verstoßen. Er müsse sich selbst vorwerfen, „dass ich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht entschiedener auf eine Klärung der Prioritäten gedrungen habe“. Er müsse sich auch vorhalten lassen, „dass ich im Zuge der Aufstellung des Regierungsentwurfs für den Haushalt 2025 nicht auf dauerhaft belastbare Klärungen gesetzt habe“. Im Koalitionsvertrag hätten sich aus seiner Sicht zudem an zu vielen Stellen „politische Dissense" versteckt, die mit Geld überbrückt werden sollten. Lindner: „Und manche werden mir auch vorwerfen, die FDP hätte zu lange an der Regierung Scholz festgehalten. Dafür muss ich Verantwortung übernehmen."
Und der Vizekanzler?
Der machte am Donnerstag mit einem bewusst zurückhaltenden Auftritt deutlich, dass er die öffentliche Schlacht zwischen Olaf Scholz und Lindner für falsch hält und auch, dass er sich daran nicht beteiligen möchte. In der Debatte, wer letztlich Schuld am Auseinanderbrechen der Ampel trägt, vermied er eine Festlegung. Stattdessen erklärte er: „Hätte man sich einigen wollen, dann hätte man sich auch einigen können.“
Anders als Scholz, der darauf bestand, erneut die Schuldenbremse per Notlagen-Beschluss auszusetzen, meint Habeck, dass es auch anders gegangen wäre. „Es gab Vorschläge aus meinem Ministerium, von mir selbst unterbreitet, wie man die Haushaltslücke ohne weitere Kreditaufnahme hätte schließen können.“ Seine kaum verhohlene Botschaft: Sowohl Lindner als auch Scholz wollten das Ende der Koalition, und allein die Grünen hätten aus staatspolitischer Verantwortung um den Fortbestand der Regierung.
Und an noch einem Punkt setzte sich Habeck von Scholz ab: Dessen Vorschlag, die Vertrauensfrage erst im Januar zu stellen, unterstützt er nicht explizit. Er begegnete mehrfachen Nachfragen mit der knappen Bemerkung, darüber entscheide allein der Bundeskanzler. Mit leiser Betonung auf: allein.