Rigorosum
Erscheinungsdatum: 21. Dezember 2023

Weihnachtliche Inspiration für deutsche Forschung und Lehre  

In diesen Tagen ist auch Thomas Sattelberger weihnachtlich gestimmt. Er widerspricht in seiner Kolumne zwar der früheren Forschungsministerin Annette Schavan – aber nur in einem Punkt. Dabei geht es um seinen Wunsch für mehr Messiness im deutschen Wissenschaftssystem. Es darf gebastelt werden.

Nach vielen kantigen, ab und an bissigen Kolumnen in diesem Jahr, bin ich in dieser meiner letzten Kolumne für 2023 weihnachtlich eingestimmt. Die ehemalige, von mir außerordentlich geschätzte, Bundesforschungsministerin Annette Schavan adressierte jüngst in einem ihrer seltenen Gastbeiträge sehr viel Kluges über die Stärkung von Forschungsfeldern. Über strukturelle Innovation im Forschungssystem selbst, über Bürokratieabbau in der Wissenschaftsverwaltung und über die vielen Forschungsprogramme in allen Ministerien und deren überfällige Konzentration.

Doch mit einem tue ich mich bei Frau Schavan schwer, gerade zu Weihnachten. In ihrem Plädoyer für Talente und damit für die Quellen des künftigen Wohlstands in Schulen, Hochschulen sowie Forschungs- und Innovationszentren geht auch sie von einem technokratischen Verständnis von Reform aus: Es geht ihr ausschließlich um Input, also Fördereuros und Strukturpolitik.

Diese Fixierung der Politik auf die „harten Faktoren“ ist eine ganz wichtige Ursache unseres Transferversagens, aber auch für die wachsende Unruhe unter Forschenden über Arbeits- und Führungskultur und erst recht für die zunehmende Normierung in Wissenschaft, Forschung und Bildung. Im Forschungssystem bestimmt ja inzwischen der h-Index (die Häufigkeit der Zitationen von Publikationen der Forschenden) den Selbstwert eines Menschen.

Die Frage, warum der gerade in weihnachtlichen Zeiten für Junge und Junggebliebene aufflammende Spirit der Imagination, des Neugierigen, des inspirierenden Bastelns und Spielens – das, was die Times Higher Education (THE) „Messing around“ – nennt, erodiert, hat zum einen mit der „Lehre“, mit inspirierenden Lehrern und Forschern zu tun.

Der Logiker, Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead schrieb schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, dass Erkenntnis nur durch Imagination zum Leben gebracht werden kann: „It can only be communicated by a faculty whose members themselves wear their learning with imagination.“

In seinem Essay „Universities and Their Function“ postuliert er „Imagination is not to be divorced from the facts…. it enables men to construct an intellectual vision of a new world”. Und Colm O‘Shea von der New York University ruft in der THE jüngst dazu auf, schon jungen Studierenden Raum freizumachen für Exploration. Sie sollten mit Denken vertraut werden „thats gets messier before clarity emerges“. Welche Lernkultur für neue Gründerinnen und Gründer!

Als Stiftungsvorsitzender der damals herausragenden Zeppelin Universität erlebte ich noch diese „Messiness“ im dortigen Forschenden Bachelor-Studium. Zu wenige Hochschulen sind gefolgt, vieles verkümmerte. Das hatte eine ganz andere Qualität als „betreutes Denken“ wie in den meisten Hochschulen.

Kultur ist in Wissenschaft und Forschung oft reduziert auf Frauenquote, Antidiskriminierung und Initiativen gegen Mobbing. Sozusagen auf die Katakomben des Systems. Aber schon im Erdgeschoss geht es um Grundfragen guter Führung, Zusammenarbeit und Organisationsgestaltung und in den Stockwerken darüber um inspirierende und imaginationsförderliche Bildungs- und Forschungskultur.

Da ist es nicht verwunderlich, dass die in diesen Fragen fortschrittliche britische Regierung im Juli 2021 unter dem Motto „People at the heart of R D“ eine entsprechende People- und Kulturstrategie veröffentlichte.

Das neue britische Research Excellence Framework (2023), welches in mehrjährigem Abstand ein Assessment des nationalen Forschungssystems vornimmt, hat zudem seine Kriterien überarbeitet, um die Institutionen zu wertschätzen, die eine positive Forschungskultur und Mitarbeiterorientierung vorweisen. 25 Prozent der milliardenschweren Förderung ist von „People and Culture“ abhängig. Welch ein Vorbild für eine kommende Förderpolitik des Forschungsministeriums!

Schon in der Evaluierung des Paktes für Forschung und Innovation (PFI) für Fraunhofer, Max-Planck, Helmholtz und Leibniz muss gehandelt werden. Kultur, Arbeitsklima, Führung und nicht nur die Frauenquote müssen als messbare „weiche“ Kriterien zur Incentivierung oder Sanktionierung im dann revidierten Pakt für die zweite Hälfte der zehnjährigen Laufzeit ihren Platz finden.

Das Handeln gilt jenseits der Inspiration und Imagination in der Lehre erst recht für Science Entrepreneurship: egal ob BMBF-geförderte Initiativen oder in Eigenregie von Wissenschaftseinrichtungen. Ich habe inspirierende kennengelernt, aber auch gegenteilige – mit Dominanz antiquierter Lernformen und nur auf den Intellekt ausgerichtet, nicht auch auf die Emotion. Auch und gerade die Sciencepreneur-Programme von Falling Walls haben hier noch Luft nach oben.

In Summe: Welch ein Unterschied zu den erfolgserprobten Innovation Corps der National Science Foundation (NSF) in den USA. Deren Programme durchliefen bisher weit über 1.000 Forschungsteams (darin weit über 4.000 Menschen von rund 300 Universitäten). Programm und Erfolge können sich sehen lassen. Sie rechtfertigen auch die hohe Förderung durch die NSF, die jedes Jahr zwölf bis 16 Programme durchführen lässt.

Die Hälfte der Teams (weit über 600 bis heute) meldet nach Abschluss des Programms eine Firma an und circa 25 Prozent der Teams haben weiteres Funding von fast einer halben Milliarde Dollar einsammeln können. Und dies alles in der richtigen Mixtur von einerseits Imagination, inspirierender Abenteuerlust, emotionaler Dynamik und andererseits dem nüchternen Testen von Hypothesen durch bis zu 140 Interviews mit potentiellen Kunden und wichtigen Stakeholdern (zum Beispiel bei Medizinprodukten), um den erhofften Product/Market- Fit des Geschäftsmodells mit den Realitäten abzugleichen.

Ich selbst habe gelernt, dass bei Entrepreneuring oft Motivation vor Fähigkeit kommt. Kompetenzen kann man beibringen, Motivation dagegen nicht eintrichtern. Und bei beidem hilft nur Inspiration und Imagination. Doch diese „weichen“ Faktoren von Forschung, Bildung und Innovation waren für die Bundesforschungspolitik wie für die Förderung unternehmerischer Forschungs- und Wissenschaftstalente, soweit ich mich erinnern kann, nie relevant. Die Zeitenwende wäre hier jedoch einfacher zu gestalten als in der ganz großen Politik.

Ich wünsche ein frohes und friedliches Weihnachten!

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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