Table.Briefing: Europe

Warnung eines EU-Topdiplomaten + Kritik an IRA-Antwort + Rentenproteste Frankreich

  • Das steht im “Brandbrief” des deutschen EU-Botschafters
  • Antwort auf IRA: EU muss auch wettbewerbsfähiger werden
  • Warum Frankreichs Rentendebatte so vehement geführt wird
  • Gemeinsamer Gaseinkauf läuft über Leipzig
  • EU-Rechnungsprüfer: Kaum Fortschritt bei gemeinsamem Strommarkt
  • Sorgfaltspflichten: Umweltausschuss will nachschärfen
  • Elektromüll: Industrie fordert harmonisierte Regeln
  • M23-Rebellion im Ostkongo: “Konfliktfreie” Lieferketten sorgen nicht für Frieden
  • Presseschau
  • Heads: Volker Löwe – Vertreter Berliner Interessen in Brüssel
Liebe Leserin, lieber Leser,

eigentlich ist Deutschland ein bedeutender Player in der EU. Doch zuletzt fällt Deutschland eher auf, weil es immer wieder spät dran ist, wenn es um Entscheidungen in Brüssel geht. Zu spät, um die Debatten noch zu prägen. All das listet nun der deutsche EU-Topdiplomat Michael Clauß in einer Art Brandbrief haarklein auf. Es geht darin um gute und schlechte Beispiele der Koordinierung, gerade Letzteres dürfte bei einigen sicher Assoziationen wecken. Christof Roche konnte den Brief exklusiv als Erster lesen. Und erklärt in seiner Analyse, was darin steht.

Heute wird die EU-Kommission ihre Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA offiziell vorstellen. Doch schon gestern ist die Debatte darüber in volle Fahrt gekommen. Im Zentrum des “Green Deal Industrial Plan” stehen finanzielle Hilfen sowie ein neuer, befristeter Krisenrahmen für Beihilfen. Das sieht zum Beispiel der CDU-Politiker Andreas Schwab (CDU) kritisch. Und auch sonst hat Deutschland einige Kritik an dem Vorhaben, schreiben Manuel Berkel und Markus Grabitz.

Schon wieder Massenproteste wegen der Rente in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron würde gerne das Renteneintrittsalter erhöhen. Doch 70 Prozent der Franzosen lehnen das ab. Warum also versucht sich Macron nun schon zum zweiten Mal seit 2019 an einer Rentenreform? Für Tanja Kuchenbecker hängt das nicht nur mit Sparzwängen, sondern vor allem mit Macrons Machtwillen zusammen.

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Alina Leimbach
Bild von Alina  Leimbach

Analyse

Das steht im “Brandbrief” des deutschen EU-Botschafters

Der Frust in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU (StäV) über fehlende Unterstützung und mangelnde Weisung der Berliner Ampel-Koalition muss groß sein. Anders lässt sich das Schreiben, das EU-Botschafter Michael Clauß am 9. Januar nach Berlin schickte, nicht interpretieren. Europe.Table berichtete von dem “Brandbrief” zuerst. In der StäV weist man die Bezeichnung “Brandbrief” jedoch weit von sich.

Europe.Table durfte das Schriftstück, das nach internem Sprachgebrauch eine “D-Korrespondenz” ist, jetzt lesen. Botschafter Clauß, unterstützt von Beamten seines Hauses, erklärt darin sehr detailliert, wie erfolgreiche deutsche Lobbyarbeit im Konzert mit den anderen Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen wie Kommission und Europaparlament beim europäischen Gesetzgebungsprozess funktioniert.

Interessen müssen früh eingebracht werden

Der Brief ist dabei diplomatisch nüchtern formuliert: Es geht etwa um eine frühzeitige Kontaktaufnahme mit der Kommission, um bereits in der Phase, in der die Brüsseler Behörde ihre Gesetzgebungsvorschläge erarbeitet, deutsche Positionen einzubringen. Dies sei von Vorteil für Deutschland, aber auch für die Kommission, in deren Interesse stets auch eine konfliktfreie Behandlung der Dossiers im Rat ist.

Deutschland habe als größtes EU-Land zudem eine besondere Verantwortung, heißt es weiter, da die Haltung der Bundesregierung vielen kleineren Partnerstaaten als Orientierung diene. Dies gelte ebenso für einen frühen und erfolgreichen Austausch mit dem Parlament, das in vielen Gesetzesvorhaben gleichberechtigter Partner des Rates ist.

Selbst für den öffentlichen Auftritt Deutschlands in Brüssel mit seinen zahlreichen Vertretern internationaler Medien mahnt der Botschafter eine klare frühzeitige Positionierung an, um nicht als handlungsunfähig angeprangert zu werden. In einem Best-Practice-Beispiel wird dann beschrieben, wie ein Mitgliedstaat – namentlich nicht genannt – seine Interessen vorbildlich über den gesamten Gesetzgebungsprozess koordiniert und letztendlich erfolgreich durchgesetzt hat.

Interne Abstimmung dauert quälend lange

Anschließend liefert er ein Negativbeispiel, welches der tatsächlichen Praxis wohl näher kommt. Wieder wird nur von einem Mitgliedstaat gesprochen. Es heißt darin, die Regierung hat es nicht geschafft, bei einem Legislativvorschlag der Kommission zügig eine abgestimmte Position einzunehmen. Der Gesetzgebungsprozess in Brüssel hat in diesem Fall seinen formalisierten Lauf genommen. Und als der Mitgliedstaat – vermutlich war es Deutschland – nach vielen Monaten endlich seine Position gefunden hat, ist er damit im Rat klar in der Minderheit gewesen. Da war es für Einflussnahme zu spät.

Denn, auch darauf weist der Botschafter in seinem Frustschreiben hin: Die meisten EU-Gesetzesvorhaben werden inzwischen mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Da reicht der Einfluss Deutschlands – trotz seines Gewichts im Rat – häufig nicht, um auf den letzten Metern ein Gesetzesvorhaben zu drehen, auch nicht mit der Brechstange. Das alles deckt sich, wenn auch höflich formuliert, mit dem Eindruck vieler Beobachter der EU-Politik: Die Durchschlagskraft der deutschen EU-Politik in Brüssel ist momentan überschaubar.

“Wer schreibt, der bleibt”

Deutschland ist in vielen Fällen ohne klare Weisung aus Berlin und damit im Rat nicht sprechfähig. Statt seiner besonderen Verantwortung gerecht zu werden und Partner im Rat mitzuziehen, läuft Deutschland unkoordiniert hinterher. Das zeigte sich im vergangenen Jahr besonders bei den Abstimmungsschwierigkeiten zwischen dem grünen Umweltministerium und den FDP-geführten Finanz- und Verkehrsministerien im Streit um das Verbrenner-Aus.

In seinem Drahtbericht an Berlin verweist der Botschafter auf einen bekannten Spruch: “Wer schreibt, der bleibt”. Übersetzt ist das eine deutliche Mahnung an die Ampel in Berlin, den internen Zwist zu überwinden und sich frühzeitig abzustimmen, damit die Bundesregierung ihre gewohnte Führungsstärke auf der europäischen Bühne zurückgewinnt. Christof Roche

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Antwort auf IRA: EU muss auch wettbewerbsfähiger werden

Die EU-Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA (IRA) kommt heute und firmiert unter der Überschrift “Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age” (Grüner-Deal-Industrieplan für das Nettonull-Zeitalter). Laut dem Entwurf, an dem gestern noch gefeilt wurde, kündigt die Kommission an, noch bis zum Sommer und im Zuge der Überarbeitung des Mittelfristigen Finanzrahmens (MFF) einen Vorschlag für einen Europäischen Souveränitätsfonds zu machen.

Deutschland steht diesem Vorhaben sehr kritisch gegenüber. In einer Weisung aus dem Auswärtigen Amt an die deutsche EU-Botschaft vom 25. Januar für die Vorbereitung der Schlussfolgerungen des nächsten Europäischen Rates, die Europe.Table vorliegt, heißt es: “Aktuelle Forderungen nach neuen Finanzierungsinstrumenten lehnen wir ab.”

Fördertöpfe werden neu umgewidmet

Im Zentrum des Green Deal Industrial Plan stehen neue finanzielle Hilfen, für die bestehende EU-Fördertöpfe teils umgewidmet werden. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten weitere Freiheiten bekommen, Beihilfen zu gewähren. Dazu soll der befristete Krisenrahmen (TCF) erneut ausgeweitet werden. Zudem will die Kommission eine Bildungsoffensive starten. Die Ausbildung von Mitarbeitern in Berufsfeldern, die zum Green Deal gehören, soll intensiviert werden.

Die bürokratischen Verfahren sollen entschlackt werden. Ebenso will die Kommission mehr Handelsabkommen. Es soll auch unterhalb der Ebene von förmlichen Handelsabkommen Foren für eine Vertiefung der Handelsbeziehungen geben. Muster hierfür ist etwa das “Trade and Technology Council” mit den USA.  

Erste Vorschläge beim nächsten Gipfel

Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni plädierte in Berlin dafür, die politische Debatte über die Antwort der EU auf den IRA nicht auf Finanzhilfen zu verengen. Die Kommission werde die Diskussion nicht vom Ende her beginnen, sagte Gentiloni. Am Anfang müsse eine Bewertung stehen, in welchen Wirtschaftszweigen den Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit am besten auf EU-Ebene begegnet werden könne. Für den nächsten Europäischen Rat im März erwartet Gentiloni dann vertiefte Vorschläge der Kommission zum Green Deal Industrial Plan.

Den IRA bezeichnete der Italiener als Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe eine “asymmetrische Krise” ausgelöst. “Europa ist durch die Krise stärker betroffen als andere entwickelte Volkswirtschaften. Für einige bedeutsame Sektoren gibt es deshalb eine klare Notwendigkeit, sich dieser Herausforderung für unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stellen”, sagte Gentiloni. In einigen Sektoren sei die EU außerdem zu abhängig von China. Europa müsse nun Beihilfeverfahren im Zusammenhang mit dem sauberen Übergang beschleunigen und straffen.

Schwab für Freihandelsagenda

Andreas Schwab (CDU), Mitglied im Binnenmarktausschuss, hält den Vorschlag eines neuen, wenn auch zeitlich befristeten Krisenrahmens bei den Beihilfen für “kritisch”: “Er löst das Kernproblem der Verlagerungen wie etwa im Fall Tesla nicht: die zurückgegangene Wettbewerbsfähigkeit der EU.” Viel wichtiger wäre es, jetzt Druck aufzumachen, damit es zu einem Freihandelsabkommen mit den USA kommt.

Schwab fordert, die weiteren Lockerungen des Beihilferahmens sehr genau zu prüfen: “Schon unter dem jetzigen Krisenrahmen konnten einige Mitgliedsstaaten die Fördermöglichkeiten nicht ausreizen.” Von den 672 Milliarden Euro an Staatsbeihilfen, die in den vergangenen drei Jahren unter den Beihilferahmen zugesprochen wurden, wurden 77 Prozent allein von Deutschland und Frankreich ausgegeben. Schwab warnt: Das bereits bestehende wirtschaftliche Ungleichgewicht könnte sich durch eine Verlängerung der Ausnahmen verschärfen und eine Verzerrung des Binnenmarktes zur Folge haben.

VDMA will Debatte über den Standort

Michael Bloss (Grüne), Mitglied im Industrieausschuss, sagte: “Es wäre fatal, wenn wir in Europa die Energiewende umsetzen, Solaranlagen, Windräder und Wärmepumpen aber importieren müssten.” Die Initiative der Kommission sei richtig. Er mahnt aber, das Geld nicht mit der Gießkanne auszugeben, sondern sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren, nämlich Erneuerbare Energien.

Deutschlands Maschinenbauer fordern eine umfassende Industriepolitik. “Die Debatte über die Attraktivität des Industriestandorts Europa darf sich nicht darauf beschränken, die durch den IRA versprochenen Subventionen in Europa irgendwie zu spiegeln”, sagte VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. “Wichtig wird sein, dass nicht nur einzelne Produkte und Sektoren kurzfristig von besseren Bedingungen profitieren, sondern dass Europa in der Breite ein guter Standort für ökologisch und ökonomisch nachhaltige Wertschöpfungsketten wird.”

Solarindustrie sorgt sich um Nachfrage

Finanzhilfen allein hält die europäische Solarindustrie nicht für ausreichend. In einer gestern verbreiteten Stellungnahme listet SolarPower Europe zwar auf, welche Finanztöpfe noch nachgebessert werden könnten. Beihilfen müssten außerdem auch für Fabriken fließen können, die schon im Bau sind oder bereits bestehen. Am Ende müsse jedoch auch die Nachfrage unterstützt werden.

“Investitionen in neue Solar- und Wechselrichter-Fabriken werden im nötigen Umfang nur dann stattfinden, wenn die Investoren die Aussicht darauf haben, dass diese Komponenten auch gekauft werden”, schreibt SolarPower Europe. Dies kommt einem Eingeständnis gleich, dass europäische grüne Technologien auch trotz neuer Subventionen wohl dauerhaft teurer bleiben werden als Komponenten aus Fernost oder anderen Regionen. Manuel Berkel und Markus Grabitz

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Warum Frankreichs Rentendebatte so vehement geführt wird

Mit 62 Jahren Austern in der Bretagne essen oder Roséwein in der Provence schlürfen. So sieht das Klischee von Frankreichs Rentnern aus. Tatsächlich konnten viele Franzosen bisher mit 62 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen, wenn sie die je nach Geburtsjahrgang notwendigen 41 oder 42 Einzahlungsjahre voll hatten. Denn im Unterschied zu Deutschland ist das Studium kompakter und der Start ins Berufsleben früher.

Doch nun soll den Franzosen der frühe Freizeitspaß genommen werden. Präsident Emmanuel Macron plant eine Rentenreform, die ab dem 6. Februar im Parlament beraten wird. Sie soll bis zum Sommer entschieden sein.

Erneut Massenproteste am Dienstag

Gewerkschaften, Oppositionsparteien und Studentenverbände sind auf den Barrikaden. Am Dienstag wurde zum zweiten Mal in ganz Frankreich gestreikt. Bahn, Metro, Schulen, Raffinerien und Flughäfen waren unter anderem betroffen. Die Regierung gab die Zahl der Demonstranten am Abend mit 1,27 Millionen an und damit mehr als die 1,12 Millionen beim ersten Ausstand am 19. Januar. Die Gewerkschaften kündigten für den 7. und 11. Februar – Dienstag und Samstag kommender Woche – neue Demonstrationen an.

Die Reform sieht vor, dass die Einzahlungsjahre stufenweise auf 43 Jahre hochgesetzt werden. Gleichzeitig soll auch in Stufen das offizielle Rentenalter bis 2030 von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Die Rentenkassen stehen derzeit zwar noch recht solide dar, doch Präsident Macron befürchtet ein zu großes Rentenloch wegen des demografischen Wandels, der auch Frankreich trifft.

Frankreich: Höhere Renten, früherer Start

Rund 70 Prozent der Franzosen sprachen sich laut Umfragen dagegen aus. Es mehren sich in Frankreich in den letzten Tagen aus gemäßigten Gewerkschaftskreisen aber die Stimmen, auch die derzeitigen Rentner, wenn sie hohe Renten beziehen, mit zusätzlichen Abschlägen zu Kasse zu bitten. Ebenso sollen auch die Unternehmen ihrer Meinung nach höhere Beiträge zahlen.

Allerdings: Wer in Frankreich nicht die 41 bis 42 Jahre Arbeitsjahre voll hat, für den gilt auch in Frankreich, dass erst mit 67 Jahren abschlagsfrei in Rente gegangen werden kann. Die Grundrente beträgt 50 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Bruttoeinkommens, dazu kommen weitere umlagefinanzierte berufliche Zusatzrenten, sodass französische Rentner im Schnitt laut OECD bei etwa 66 Prozent Ersatzrate landen.

Im Deutschland wird zwar etwas länger gearbeitet, aber auch hier können Beschäftigte schon mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen, wenn sie 45 Jahre gearbeitet haben und vor 1953 geboren sind. Das Rentenalter wird derzeit schrittweise auf 67 Jahre hochgesetzt. Debatten gibt es aber auch in Deutschland zuhauf: Wirtschaftsvertreter fordern regelmäßig, die Altersgrenze auf 70 Jahre anzuheben. Gewerkschaften kritisieren dagegen vor allem das verhältnismäßig niedrige Rentenniveau von 48 Prozent. Sie würden das System gerne stabilisieren, in dem die bisher ausgelagerten Pensionäre und Freiberufler ins gesetzliche System miteinbezogen werden – und plädieren zum Teil für eine Anhebung der Beitragssätze.

2010 letzte Rentenreform

Michaël Zemmour, Ökonom und Spezialist für Sozialpolitik an der Pariser Universität Panthéon Sorbonne, erklärt, warum die Franzosen sich so gegen die Pläne Macrons sperren: “Die Franzosen haben gerade erst eine Rentenreform hinter sich, die neue Reform kommt zu schnell.” Das Rentenalter wurde im Jahr 2010 unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy von 60 auf 62 Jahre erhöht.

Viele in Frankreich verspürten zudem zum Ende der Karriere ein großes psychisches Leiden, so der Forscher. Warum das in Frankreich besonders extrem ist? Er vermutet: Die 35-Stunden-Woche habe die Arbeit nicht reduziert, sie müsse nur in kürzerer Zeit erledigt werden. Außerdem hätten die Franzosen generell einen Hang dazu, sich zu beklagen.

Ablehnung hat historische Gründe

In Frankreich arbeitet laut offiziellen Zahlen der Regierung nur noch ein Drittel der Menschen zwischen 60 und 64 Jahren. Damit rangiert Frankreich hinter Italien, Spanien, Großbritannien, der Eurozone mit 46,1 Prozent und vor allem Deutschland mit 60,7 Prozent. Das liegt auch an den vielen sehr vorteilhaften Rentensystemen wie bei der Bahn SNCF oder den Ausnahmen für schwere körperliche Arbeit. Dazu kommt: “In Frankreich ist es derzeit schwer, nach 61 Jahren eine Arbeit zu finden, die Rentenreform würde nur die Zeit der Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe verlängern”, sagt Zemmour.

Wohl der wichtigste Grund für die Ablehnung sei aber eine historische Entscheidung: “Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt Frankreich ganz auf den Sozialstaat für die Rente, nicht auf eine Mischung aus privater Kapitalisierung und sozialer Absicherung. Deshalb sind die Franzosen vollständig auf die staatliche Rente angewiesen.”

Der Grund für diese Entscheidung in Frankreich sei das hohe Risiko von privaten Rentenabsicherungen in Finanzkrisen. Daraus ergibt sich auch die Ansicht vieler Franzosen, Vater Staat müsse sie ganz versorgen.

Macron will die Reform um jeden Preis

Deshalb steht der Präsident einer starken Front gegenüber. Es ist eine Kraftprobe für Macron, der seine Durchsetzungskraft beweisen will. Als “unvermeidlich” bezeichnete dieser die Rentenreform. Schon Macrons erste Rentenreform 2019 war am erbitterten Widerstand der Bürgerinnen und Bürger gescheitert. Damals hatte er eine Vereinheitlichung und ein Punktesystem angestrebt.

Der Widerstand ist stark, alle Gewerkschaften sind diesmal dagegen. Das gab es nie. Es ist ein Kräftemessen“, sagt Zemmour. Die Machtposition des Präsidenten sei aber nicht wirklich in Gefahr. Macron zweifele nicht daran, dass er die Reform auch ohne Unterstützung durchboxen kann. Entweder mit den Konservativen, was sich schon abzeichnet, oder im Notfall mit dem Paragrafen 49.3 der Verfassung – ohne Abstimmung. Eine Einigung mit den Republikanern würde ihn sogar stärken, glaubt Zemmour. Der Weg über den Paragrafen 49.3, der es erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament durchzuboxen, sorgt dagegen für Kritik in Frankreich.

In der Diskussion mit den Gewerkschaften zeigt sich Macron hart. Es geht um “Macht und Strategie”, betont Zemmour. “Macron will seine politisch-ökonomische Strategie durchsetzen. Die Abgaben für Unternehmen werden gesenkt, aber um die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, muss die Struktur verändert werden. Eine Reform ist notwendig, um das System auszugleichen.” Eine Abschwächung des Projektes würde nicht genug Geld in die Kassen spülen, sagt Zemmour.

Schon zweiter Reformanlauf

Noch vor einigen Jahren hatte Macron ausgeschlossen, das Rentenalter anzuheben, weil es so wenige Beschäftigte über 60 Jahren in Frankreich gibt. Bei seinem ersten Anlauf 2019 hatte er allerdings eine andere Rentenreform in Planung. Monatelange Streiks folgten, dann legte Macron das Projekt mit Covid auf Eis.

Die Pandemie und der Ukrainekrieg, bei denen der Staat die Bevölkerung mit Milliardensummen unterstützte, haben den Schuldenberg stark ansteigen lassen. Macron sei in Zugzwang, irgendwo zu sparen, findet Zemmour. Und auch, um gegenüber der EU ein Zeichen zu setzen, dass Frankreich reformwillig und sparbereit sei.

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News

Gemeinsamer Gaseinkauf läuft über Leipzig

Die Plattform für den gemeinsamen Gaseinkauf und die Bündelung der Nachfrage soll von der Leipziger Firma Prisma betrieben werden. “Wir sind froh und stolz, dass wir der Europäischen Union in so kurzer Zeit eine überzeugende Lösung anbieten konnten”, sagte Götz Lincke, Managing Director von Prisma, laut einer Mitteilung vom Montag.

Über die Energieplattform sollen Gasversorger nach einer Verordnung von 2022 genug Gas einkaufen, um 15 Prozent der Speicherverpflichtungen der Mitgliedstaaten zu erfüllen. Langfristig könnte über die Plattform laut Kommissionsplänen auch Wasserstoff beschafft werden.

Prisma ist ein Gemeinschaftsunternehmen von über 20 europäischen Fernleitungsnetzbetreibern, die seit 2013 Transportkapazitäten über die Plattform vermarkten. Gegen die nicht-öffentliche Ausschreibung der Kommission für den Betrieb der neuen EU-weiten Einkaufsplattform klagt der Mitbewerber Enmacc aus München. “Die Entscheidung des Gerichts steht noch aus. Die EU-Kommission schafft zwischenzeitlich Fakten, indem sie die Ausschreibung Prisma zuspricht”, sagte CEO Jens Hartmann. ber

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EU-Rechnungsprüfer: Kaum Fortschritt bei gemeinsamem Strommarkt

Die EU ist im Bemühen um einen gemeinsamen Strommarkt dem Europäischen Rechnungshof zufolge zuletzt kaum vorangekommen. “Trotz einiger bedeutender Erfolge in den letzten zehn Jahren gab es bei der Integration der Strommärkte nur langsame Fortschritte“, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der obersten EU-Rechnungsprüfer.

Die Vollendung des gemeinsamen Markts sei durch die von der EU-Kommission gewählten Regulierungsinstrumente sogar behindert worden. Dies habe zu einer komplexen Rechtsstruktur grenzüberschreitender Handelsregeln und zu Verzögerungen bei der Umsetzung geführt. Der Rechnungshof kommt zu dem Schluss, dass das Hauptrisiko im EU-Strommarkt letztlich auf die Endverbraucher abgewälzt wurde.

“Unzureichende Überwachung” durch Acer

Die EU bemüht sich seit 1996 darum, die verschiedenen Strommärkte der Mitgliedstaaten miteinander zu vernetzen. Dies soll für günstige Preise und eine sichere Versorgung sorgen sowie den ökologischen Wandel vorantreiben. Ursprünglich sollte dies 2014 abgeschlossen sein. Stattdessen habe sich in der aktuellen Energiekrise gezeigt, dass die Großhandelspreise zwischen den EU-Ländern erheblich auseinanderklafften, schrieben die Rechnungsprüfer. Zudem hingen die Endkundenpreise nach wie vor stark von nationalen Steuersätzen und Netzentgelten ab, anstatt durch den Wettbewerb bestimmt zu werden.

Grund für den ausbleibenden Fortschritt ist nach Angaben des Rechnungshofs unter anderem eine unzureichende Überwachung der geltenden Vorgaben durch die EU-Energieagentur Acer – “vor allem, da die Agentur nicht über genügend Daten verfügte, unter Personalmangel litt und sich schlecht mit der Europäischen Kommission abgestimmt hatte”. Der von der EU-Kommission gewählte Ansatz zur Regulierung habe zudem “den Verwaltungsaufwand, den Ressourcenbedarf und die Kosten für die Acer und die nationalen Regulierungsbehörden sowie für die Netz- und Marktbetreiber erheblich und unnötig erhöht”.

Als Folge der Energiekrise will die EU-Kommission im Frühjahr eine Reform der Strommärkte vorschlagen. Dies sei eine Gelegenheit, die Schwächen zu beheben, schrieb der Rechnungshof. Allerdings gilt das Vorhaben als hochkomplex. dpa

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Sorgfaltspflichten: Umweltausschuss will Klimaaspekte nachschärfen

Am 9. Februar stimmt der Umweltausschuss (ENVI) über seine Stellungnahme zum Sorgfaltspflichten-Gesetz ab. Die EU-Abgeordneten, allen voran ENVI-Berichterstatter Tiemo Wölken (SPD), wollen sich unter anderem darauf einigen, dass weitaus mehr Unternehmen unter das Gesetz fallen, als die Kommission vorschlägt. Das geht aus den vorläufigen Kompromissen hervor, die Europe.Table einsehen konnte.

Demnach sollen Unternehmen ab 250 Mitarbeitern und 40 Millionen Euro Jahresumsatz unter das Gesetz fallen. Der Ausschuss will zudem vorschlagen, die Risikobranchen insbesondere um den Energiesektor zu erweitern. Zudem sehen die Kompromisse einen risikobasierten Ansatz vor. Der Ausschuss nimmt damit die Forderungen der federführenden Berichterstatterin Lara Wolters auf, die wie Tiemo Wölken der S&D-Fraktion angehört.

Kompromisse orientieren sich an CSRD

Alles in allem orientieren sich die Kompromisse stark an der EU -Richtlinie zur Unternehmens-Nachhaltigkeitsberichterstattung (CRSD). Das wird etwa an der Definition der nachteiligen Umwelteinwirkungen ersichtlich. Folgende Kategorien sollen abgedeckt werden:

  • Klimaschutz und Klimaanpassung
  • Nachhaltige Verwendung von Boden, Wasser und Meeresressourcen
  • Übergang zur Kreislaufwirtschaft
  • Vermeidung und Kontrolle von Verschmutzung
  • Schutz und Restaurierung von Biodiversität und Ökosystemen

Zu weiteren Änderungen gehört, dass Klima als impliziter Teil des Sorgfaltspflichten-Prozesses abgehandelt wird. Unternehmen sollen zudem Klimaübergangspläne ausarbeiten, angelehnt an die Vorgaben der CRSD. Bei Firmen mit rund 1.000 Mitarbeitern soll sich die Bezahlung von Direktoren danach richten, wie sie die Klimaübergangspläne umsetzen.

Neben dem ENVI müssen noch drei weitere Ausschüsse ihre Stellungnahmen abgeben. Im März stimmt der federführende JURI-Ausschuss ab, im Mai geht der Text ins Plenum. cw

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Elektromüll: Industrie fordert harmonisierte Regeln

Um eine Kreislaufwirtschaft für Elektrogeräte zu stärken, ist laut Elektro- und Recyclingindustrie eine Harmonisierung der Regeln im EU-Binnenmarkt nötig. Unterschiedlich ambitionierte Ziele, Standards und Produktanforderungen würden der Industrie unnötige Last aufbürden, hieß es gestern auf einer Veranstaltung des Recyclingindustrieverbands EuRIC.

“In den letzten Jahren haben wir viele verschiedene nationale Bestimmungen und verbindliche Anforderungen an Produkte erlebt, die nicht an die EU-Anforderungen angepasst sind”, sagte Benedict Storer von Samsung Electronics. Es sei zwingend erforderlich, dass die technischen Produktanforderungen auf EU-Ebene harmonisiert würden. Im Bereich des Ökodesign könnte der geplante Übergang von einer Richtlinie zu einer Verordnung sicherstellen, dass Verpflichtungen in den Mitgliedstaaten einheitlicher umgesetzt werden, so Storer.

Kommission evaluiert Altgeräte-Richtlinie

In den Mitgliedstaaten gebe es bislang unterschiedliche Recycling-Behandlungsstandards und Sammel- und Recyclingquoten, sagte Tess Pozzi von dem Recyclingunternehmen Derichebourg. Um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, sei eine strukturelle Reform des Rechtsrahmens erforderlich. Die EU-Kommission evaluiert zurzeit die Richtlinie über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (WEEE). “Der Übergang von der Richtlinie zur Verordnung würde eine bessere Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten gewährleisten”, so Pozzi.

Die Abgeordnete Sara Matthieu (Grüne/EFA) betonte, insbesondere für elektronische Geräte, die kritische Rohstoffe enthalten, seien höhere Sammel- und Recyclingraten erforderlich. Der Circular Economy Action Plan der Kommission sieht die “Verbesserung der Sammlung und Behandlung von Elektro- und Elektronikaltgeräten, u. a. durch Sondierung der Möglichkeiten für ein EU-weites Rücknahmesystem zur Rückgabe oder zum Verkauf alter Mobiltelefone, Tablets und Ladegeräte” vor. “Wenn ich nichts verpasst habe, gibt es noch keinen Gesetzesvorschlag zu diesem Thema”, kritisierte Matthieu.

Konsultationen sollen im April starten

Die WEEE-Richtlinie gibt es seit zwanzig Jahren, ihre Überarbeitung ist seit mehr als zehn Jahren in Kraft. Nicht erfolglos: 2005 wurden 300.000 Tonnen Elektromüll gesammelt, 2019 bereits rund 4,5 Millionen Tonnen. Das Ziel war allerdings, 2020 zehn Millionen Tonnen zu sammeln, berichtete Maria Banti aus der Generaldirektion Umwelt (DG ENV) der Kommission. Nur drei Mitgliedstaaten (Bulgarien, Kroatien und Polen) hätten 2019 das Ziel erreicht, 65 Prozent der auf den Markt gebrachten Elektroartikel zu sammeln.

Die Kommission überprüft zurzeit die WEEE-Richtlinie auf Effektivität, Probleme, Wirkung und Eignung. Seit November 2022 und noch bis Ende Januar 2024 läuft die entsprechende Studie. Die öffentliche Konsultation wird voraussichtlich im April beginnen. Das Arbeitspapier der Kommission soll im Frühling 2024 angenommen werden. leo

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M23-Rebellion im Ostkongo: “Konfliktfreie” Lieferketten sorgen nicht für Frieden

Die derzeitige Ausbreitung der Rebellengruppe M23 im Ostkongo hängt laut Forschern nur bedingt mit Rohstoffen zusammen und wirft Zweifel an den Zielen der Regulierung von Rohstofflieferketten auf. Die Erwartung, man könne mittels der EU-Konfliktmineraleverordnung gewaltsame Konflikte verhindern, sei nicht angemessen, sagen die Experten.

Die Rebellen breiten sich in Gebieten aus, aus denen die Armee und UN-Truppen sie vor zehn Jahren verdrängt hatten. Mehr als eine halbe Million Menschen sind bereits geflohen. Abermals unterstützt das Nachbarland Ruanda die Rebellen.

Die EU hatte seit der vergangenen M23-Rebellion die Konfliktmineraleverordnung ausgearbeitet. Sie legt Firmen Sorgfaltspflichten auf, die Coltan, Wolfram, Zinn und Gold aus dem Kongo und anderen Regionen einführen, “wo die Einnahmen daraus gewaltsame Konflikte auslösen oder am Laufen halten”, heißt es in der Begründung. Im Januar 2021 trat sie vollumfänglich in Kraft. Bereits im Jahr 2010 hatten die USA den Dodd-Frank Act verabschiedet, der US-amerikanische Firmen verpflichtet, über Konfliktrohstoffe in ihren Lieferketten aufzuklären.

Analyse nicht auf neuestem Stand

Onesphore Sematumba, Analyst bei der International Crisis Group, zweifelt daran, dass Rohstoffe der Hauptgrund für die Kriege sind. Er war lange für das Pole Institute in Goma tätig, das um die Jahrtausendwende recherchierte, wie ruandisch unterstützte Rebellengruppe bedeutende Coltan-Minen in der Provinz Nord-Kivu kontrollierten. “Es herrschte das Coltan-Fieber”, sagt er. Es folgten Medienberichte und NGO-Kampagnen, die das Narrativ der “Blutrohstoffe” verfestigten. Doch dann fielen die Preise auf dem Weltmarkt. Die Rebellen zogen sich zurück. “Man hat versäumt, die Analyse auf den neusten Stand zu bringen”, sagt Sematumba.

Er will damit nicht sagen, dass Rohstoffe keine Rolle spielen. Vereinzelt kontrollieren Rebellen heute Minen, insbesondere im Goldabbau. “Aber es gibt Konflikte dort, wo es Rohstoffe gibt und dort, wo es keine gibt”, sagt der Analyst. Mehr als 120 bewaffnete Gruppen zählen Beobachter in der Region. Sie haben allerlei Einkommensquellen: Plünderungen, Zölle oder das Geschäft mit Holzkohle. Selten sind sie jedoch allein von Gier angetrieben.

Auch Bernd Lange (S&D) dämpft die Erwartungen an die EU-Verordnung: “Ich glaube, man kann damit die Finanzierung einzelner Gruppen austrocknen. Aber allein damit wird man die Konflikte nicht überwinden”. Als Vorsitzender des Internationalen Handelsausschusses hat er die Gesetzgebung maßgeblich vorangetrieben und damals sowohl mit Vertretern der kongolesischen Zivilgesellschaft als auch mit europäischen Verbrauchergruppen und der Industrie gesprochen. “Wir wollten Transparenz in den Markt bekommen”, sagt er. Damit sollte beispielsweise verhindert werden, dass europäische Zentralbanken Gold kaufen, das der Finanzierung von Bürgerkriegen dient.

Für Lange enthält die EU-Verordnung wichtige Lektionen: “Das ist ein bisschen der Vorläufer des Lieferkettengesetzes”. In diesem Jahr soll eine erste Bilanz gezogen werden. “Dann werden wir noch mal darüber nachdenken, was die materielle Situation vor Ort stärken könnte”, sagt Lange. Jonas Gerding

Die vollständige Analyse lesen Sie in der heutigen Ausgabe des ESG.Table.

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Presseschau

Scholz in Südamerika optimistisch für EU-Mercosur-Abkommen HANDELSBLATT
Russland-Sanktionen: EU ringt um Preisgrenzen auf Ölprodukte FAZ
Ukraine kündigt EU-Gipfel in Kiew an TAGESSCHAU
Selenskyj will EU-Beitritt der Ukraine weiter vorantreiben WALLSTREET-ONLINE
Nur 8,5 Prozent der Firmen aus EU-Staaten haben sich aus Russland zurückgezogen RND
EU-Korruptionsskandal: Zwei weitere Abgeordnete unter Verdacht TAGESSCHAU
Nach Messerangriff in Brüssel: Haftbefehl wegen versuchten Mordes gegen mutmaßlichen Täter erlassen RP-ONLINE
Erstmals mehr Strom aus Wind und Solar als aus Gaskraftwerken TAGESSPIEGEL
EU-Wirtschaft wächst wider Erwarten – IWF korrigiert globale Prognosen nach oben STERN
EU-Kommission kontert Subventionspaket der USA BOERSEN-ZEITUNG
Meinung: Immer mehr Firmen drohen mit Abwanderung in die USA: Die EU sollte sie zum Bleiben bewegen – mit viel Geld STERN
Alles blickt auf von der Leyen: Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin bahnt sich an MERKUR
EU-Industrieemissionsrichtlinie: Deutschland will Schwellenwert verdoppeln AGRARZEITUNG
EU-Rechnungshof rügt Mängel am Strommarkt BOERSEN-ZEITUNG
Der Kampf um das richtige Lebensmitteletikett in der EU EURONEWS
Lieferdienste: Wie Lobbyisten einheitliche EU-Regeln verhindern wollen WESER-KURIER
Twitter: EU fordert Elon Musk zu Einhaltung von Digital-Richtlinie auf ZEIT
Strengere Regulierung von Videospielen: EU-Parlament stimmt mit Mehrheit zu PCGAMES
Drei Jahre nach dem Brexit: “Ein wirtschaftliches Desaster” TAGESSCHAU
EU-Projekt: Künstliche Intelligenz soll Arzneimittel­regulierung verbessern AERZTEBLATT
Dürrephase in Europa: Noch immer ist der Kontinent zu trocken TRENDSDERZUKUNFT

Heads

Volker Löwe – Vertreter Berliner Interessen in Brüssel

Volker Löwe ist Leiter des Büros des Landes Berlin bei der EU in Brüssel.

Mehr als 20 Jahre lang verfolgt Volker Löwe schon die Berliner Landespolitik. Seit einiger Zeit vertritt er ihre Interessen auf Europa-Ebene. Er ist Leiter des Büros des Landes Berlin bei der EU in Brüssel. Zu seinen Aufgaben zählt unter anderem die Europäisierung der Verwaltung. Hierbei sei es wichtig, “das europäische Gras früh wachsen zu hören”, um früh in Entscheidungsprozessen mitsprechen zu können.

Fokus auf die Forschung

Der Politikwissenschaftler bemüht sich darum, Berliner Expertise und Erfahrungen in Brüssel zur Geltung zu bringen. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die europäische Regionalpolitik und die Strukturfonds wie EFRE und ESF plus, die für die Stadt eine wichtige Rolle spielen. Vor allem zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und für Wissenschaft und Forschung. “Berlin hat ein sehr dichtes Netz an Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel die Hochschulen und Universitäten”, sagt der 57-Jährige. Besonders wichtig ist ihm die Städtepolitik, die die EU lange Zeit vernachlässigt habe. Das Thema Energie und Klimaschutz sind große Herausforderungen der nächsten Jahre, insbesondere was die Sanierung des öffentlichen Gebäudebestandes betrifft.  

Das Ergebnis der wiederholten Berliner Abgeordnetenwahl erwarten er und sein Team mit Spannung. Es werde eine Weile dauern, bis der Koalitionsvertrag steht, wenn sich bei der Zusammensetzung etwas ändern sollte, schätzt Volker Löwe. Bei der Frage, ob er Berlin oder Brüssel schöner findet, möchte er sich nicht festlegen. Es sei kein Wunder, dass beide Städte eine gut gepflegte Partnerschaft haben.

Selbstbewusstes Europa

Seine Doktorarbeit schrieb er Anfang der 1990er Jahre über die Beteiligung der Bundeswehr bei Out-of-Area-Einsätzen, den sogenannten Blauhelm-Operationen. Danach fing der Politikwissenschaftler im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an. Es folgten zwei Jahre als freier Mitarbeiter im Kanzleramt und der Wechsel in die Landesvertretung Berlin in Bonn. Sein Motto bei Herausforderungen sei “den Stier bei den Hörnern zu packen”. Man müsse die Dinge beim Namen nennen und nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Auf Europa-Ebene vor allem im Einklang mit anderen Akteuren.

Die Trümpfe der EU sind für Löwe die Balance aus Freiheit und Solidarität. Diese macht das europäische Modell so attraktiv und man muss sie im Inneren und im Außen bewahren. “Wir müssen unsere strategische Autonomie stärken, um weniger erpressbar zu sein.” Volker Löwe wünscht sich eine selbstbewusste europäische Politik nach außen und dass die EU nicht von innen heraus an Glaubwürdigkeit verliert. Gegenüber Mitgliedstaaten, die sich vom Rechtsstaat verabschieden, wird die EU eine klare Sprache finden müssen, sagt er. Kim Fischer

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    • Das steht im “Brandbrief” des deutschen EU-Botschafters
    • Antwort auf IRA: EU muss auch wettbewerbsfähiger werden
    • Warum Frankreichs Rentendebatte so vehement geführt wird
    • Gemeinsamer Gaseinkauf läuft über Leipzig
    • EU-Rechnungsprüfer: Kaum Fortschritt bei gemeinsamem Strommarkt
    • Sorgfaltspflichten: Umweltausschuss will nachschärfen
    • Elektromüll: Industrie fordert harmonisierte Regeln
    • M23-Rebellion im Ostkongo: “Konfliktfreie” Lieferketten sorgen nicht für Frieden
    • Presseschau
    • Heads: Volker Löwe – Vertreter Berliner Interessen in Brüssel
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    eigentlich ist Deutschland ein bedeutender Player in der EU. Doch zuletzt fällt Deutschland eher auf, weil es immer wieder spät dran ist, wenn es um Entscheidungen in Brüssel geht. Zu spät, um die Debatten noch zu prägen. All das listet nun der deutsche EU-Topdiplomat Michael Clauß in einer Art Brandbrief haarklein auf. Es geht darin um gute und schlechte Beispiele der Koordinierung, gerade Letzteres dürfte bei einigen sicher Assoziationen wecken. Christof Roche konnte den Brief exklusiv als Erster lesen. Und erklärt in seiner Analyse, was darin steht.

    Heute wird die EU-Kommission ihre Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA offiziell vorstellen. Doch schon gestern ist die Debatte darüber in volle Fahrt gekommen. Im Zentrum des “Green Deal Industrial Plan” stehen finanzielle Hilfen sowie ein neuer, befristeter Krisenrahmen für Beihilfen. Das sieht zum Beispiel der CDU-Politiker Andreas Schwab (CDU) kritisch. Und auch sonst hat Deutschland einige Kritik an dem Vorhaben, schreiben Manuel Berkel und Markus Grabitz.

    Schon wieder Massenproteste wegen der Rente in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron würde gerne das Renteneintrittsalter erhöhen. Doch 70 Prozent der Franzosen lehnen das ab. Warum also versucht sich Macron nun schon zum zweiten Mal seit 2019 an einer Rentenreform? Für Tanja Kuchenbecker hängt das nicht nur mit Sparzwängen, sondern vor allem mit Macrons Machtwillen zusammen.

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    Alina Leimbach
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    Analyse

    Das steht im “Brandbrief” des deutschen EU-Botschafters

    Der Frust in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU (StäV) über fehlende Unterstützung und mangelnde Weisung der Berliner Ampel-Koalition muss groß sein. Anders lässt sich das Schreiben, das EU-Botschafter Michael Clauß am 9. Januar nach Berlin schickte, nicht interpretieren. Europe.Table berichtete von dem “Brandbrief” zuerst. In der StäV weist man die Bezeichnung “Brandbrief” jedoch weit von sich.

    Europe.Table durfte das Schriftstück, das nach internem Sprachgebrauch eine “D-Korrespondenz” ist, jetzt lesen. Botschafter Clauß, unterstützt von Beamten seines Hauses, erklärt darin sehr detailliert, wie erfolgreiche deutsche Lobbyarbeit im Konzert mit den anderen Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen wie Kommission und Europaparlament beim europäischen Gesetzgebungsprozess funktioniert.

    Interessen müssen früh eingebracht werden

    Der Brief ist dabei diplomatisch nüchtern formuliert: Es geht etwa um eine frühzeitige Kontaktaufnahme mit der Kommission, um bereits in der Phase, in der die Brüsseler Behörde ihre Gesetzgebungsvorschläge erarbeitet, deutsche Positionen einzubringen. Dies sei von Vorteil für Deutschland, aber auch für die Kommission, in deren Interesse stets auch eine konfliktfreie Behandlung der Dossiers im Rat ist.

    Deutschland habe als größtes EU-Land zudem eine besondere Verantwortung, heißt es weiter, da die Haltung der Bundesregierung vielen kleineren Partnerstaaten als Orientierung diene. Dies gelte ebenso für einen frühen und erfolgreichen Austausch mit dem Parlament, das in vielen Gesetzesvorhaben gleichberechtigter Partner des Rates ist.

    Selbst für den öffentlichen Auftritt Deutschlands in Brüssel mit seinen zahlreichen Vertretern internationaler Medien mahnt der Botschafter eine klare frühzeitige Positionierung an, um nicht als handlungsunfähig angeprangert zu werden. In einem Best-Practice-Beispiel wird dann beschrieben, wie ein Mitgliedstaat – namentlich nicht genannt – seine Interessen vorbildlich über den gesamten Gesetzgebungsprozess koordiniert und letztendlich erfolgreich durchgesetzt hat.

    Interne Abstimmung dauert quälend lange

    Anschließend liefert er ein Negativbeispiel, welches der tatsächlichen Praxis wohl näher kommt. Wieder wird nur von einem Mitgliedstaat gesprochen. Es heißt darin, die Regierung hat es nicht geschafft, bei einem Legislativvorschlag der Kommission zügig eine abgestimmte Position einzunehmen. Der Gesetzgebungsprozess in Brüssel hat in diesem Fall seinen formalisierten Lauf genommen. Und als der Mitgliedstaat – vermutlich war es Deutschland – nach vielen Monaten endlich seine Position gefunden hat, ist er damit im Rat klar in der Minderheit gewesen. Da war es für Einflussnahme zu spät.

    Denn, auch darauf weist der Botschafter in seinem Frustschreiben hin: Die meisten EU-Gesetzesvorhaben werden inzwischen mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Da reicht der Einfluss Deutschlands – trotz seines Gewichts im Rat – häufig nicht, um auf den letzten Metern ein Gesetzesvorhaben zu drehen, auch nicht mit der Brechstange. Das alles deckt sich, wenn auch höflich formuliert, mit dem Eindruck vieler Beobachter der EU-Politik: Die Durchschlagskraft der deutschen EU-Politik in Brüssel ist momentan überschaubar.

    “Wer schreibt, der bleibt”

    Deutschland ist in vielen Fällen ohne klare Weisung aus Berlin und damit im Rat nicht sprechfähig. Statt seiner besonderen Verantwortung gerecht zu werden und Partner im Rat mitzuziehen, läuft Deutschland unkoordiniert hinterher. Das zeigte sich im vergangenen Jahr besonders bei den Abstimmungsschwierigkeiten zwischen dem grünen Umweltministerium und den FDP-geführten Finanz- und Verkehrsministerien im Streit um das Verbrenner-Aus.

    In seinem Drahtbericht an Berlin verweist der Botschafter auf einen bekannten Spruch: “Wer schreibt, der bleibt”. Übersetzt ist das eine deutliche Mahnung an die Ampel in Berlin, den internen Zwist zu überwinden und sich frühzeitig abzustimmen, damit die Bundesregierung ihre gewohnte Führungsstärke auf der europäischen Bühne zurückgewinnt. Christof Roche

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    Antwort auf IRA: EU muss auch wettbewerbsfähiger werden

    Die EU-Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA (IRA) kommt heute und firmiert unter der Überschrift “Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age” (Grüner-Deal-Industrieplan für das Nettonull-Zeitalter). Laut dem Entwurf, an dem gestern noch gefeilt wurde, kündigt die Kommission an, noch bis zum Sommer und im Zuge der Überarbeitung des Mittelfristigen Finanzrahmens (MFF) einen Vorschlag für einen Europäischen Souveränitätsfonds zu machen.

    Deutschland steht diesem Vorhaben sehr kritisch gegenüber. In einer Weisung aus dem Auswärtigen Amt an die deutsche EU-Botschaft vom 25. Januar für die Vorbereitung der Schlussfolgerungen des nächsten Europäischen Rates, die Europe.Table vorliegt, heißt es: “Aktuelle Forderungen nach neuen Finanzierungsinstrumenten lehnen wir ab.”

    Fördertöpfe werden neu umgewidmet

    Im Zentrum des Green Deal Industrial Plan stehen neue finanzielle Hilfen, für die bestehende EU-Fördertöpfe teils umgewidmet werden. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten weitere Freiheiten bekommen, Beihilfen zu gewähren. Dazu soll der befristete Krisenrahmen (TCF) erneut ausgeweitet werden. Zudem will die Kommission eine Bildungsoffensive starten. Die Ausbildung von Mitarbeitern in Berufsfeldern, die zum Green Deal gehören, soll intensiviert werden.

    Die bürokratischen Verfahren sollen entschlackt werden. Ebenso will die Kommission mehr Handelsabkommen. Es soll auch unterhalb der Ebene von förmlichen Handelsabkommen Foren für eine Vertiefung der Handelsbeziehungen geben. Muster hierfür ist etwa das “Trade and Technology Council” mit den USA.  

    Erste Vorschläge beim nächsten Gipfel

    Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni plädierte in Berlin dafür, die politische Debatte über die Antwort der EU auf den IRA nicht auf Finanzhilfen zu verengen. Die Kommission werde die Diskussion nicht vom Ende her beginnen, sagte Gentiloni. Am Anfang müsse eine Bewertung stehen, in welchen Wirtschaftszweigen den Herausforderungen für die Wettbewerbsfähigkeit am besten auf EU-Ebene begegnet werden könne. Für den nächsten Europäischen Rat im März erwartet Gentiloni dann vertiefte Vorschläge der Kommission zum Green Deal Industrial Plan.

    Den IRA bezeichnete der Italiener als Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe eine “asymmetrische Krise” ausgelöst. “Europa ist durch die Krise stärker betroffen als andere entwickelte Volkswirtschaften. Für einige bedeutsame Sektoren gibt es deshalb eine klare Notwendigkeit, sich dieser Herausforderung für unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stellen”, sagte Gentiloni. In einigen Sektoren sei die EU außerdem zu abhängig von China. Europa müsse nun Beihilfeverfahren im Zusammenhang mit dem sauberen Übergang beschleunigen und straffen.

    Schwab für Freihandelsagenda

    Andreas Schwab (CDU), Mitglied im Binnenmarktausschuss, hält den Vorschlag eines neuen, wenn auch zeitlich befristeten Krisenrahmens bei den Beihilfen für “kritisch”: “Er löst das Kernproblem der Verlagerungen wie etwa im Fall Tesla nicht: die zurückgegangene Wettbewerbsfähigkeit der EU.” Viel wichtiger wäre es, jetzt Druck aufzumachen, damit es zu einem Freihandelsabkommen mit den USA kommt.

    Schwab fordert, die weiteren Lockerungen des Beihilferahmens sehr genau zu prüfen: “Schon unter dem jetzigen Krisenrahmen konnten einige Mitgliedsstaaten die Fördermöglichkeiten nicht ausreizen.” Von den 672 Milliarden Euro an Staatsbeihilfen, die in den vergangenen drei Jahren unter den Beihilferahmen zugesprochen wurden, wurden 77 Prozent allein von Deutschland und Frankreich ausgegeben. Schwab warnt: Das bereits bestehende wirtschaftliche Ungleichgewicht könnte sich durch eine Verlängerung der Ausnahmen verschärfen und eine Verzerrung des Binnenmarktes zur Folge haben.

    VDMA will Debatte über den Standort

    Michael Bloss (Grüne), Mitglied im Industrieausschuss, sagte: “Es wäre fatal, wenn wir in Europa die Energiewende umsetzen, Solaranlagen, Windräder und Wärmepumpen aber importieren müssten.” Die Initiative der Kommission sei richtig. Er mahnt aber, das Geld nicht mit der Gießkanne auszugeben, sondern sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren, nämlich Erneuerbare Energien.

    Deutschlands Maschinenbauer fordern eine umfassende Industriepolitik. “Die Debatte über die Attraktivität des Industriestandorts Europa darf sich nicht darauf beschränken, die durch den IRA versprochenen Subventionen in Europa irgendwie zu spiegeln”, sagte VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. “Wichtig wird sein, dass nicht nur einzelne Produkte und Sektoren kurzfristig von besseren Bedingungen profitieren, sondern dass Europa in der Breite ein guter Standort für ökologisch und ökonomisch nachhaltige Wertschöpfungsketten wird.”

    Solarindustrie sorgt sich um Nachfrage

    Finanzhilfen allein hält die europäische Solarindustrie nicht für ausreichend. In einer gestern verbreiteten Stellungnahme listet SolarPower Europe zwar auf, welche Finanztöpfe noch nachgebessert werden könnten. Beihilfen müssten außerdem auch für Fabriken fließen können, die schon im Bau sind oder bereits bestehen. Am Ende müsse jedoch auch die Nachfrage unterstützt werden.

    “Investitionen in neue Solar- und Wechselrichter-Fabriken werden im nötigen Umfang nur dann stattfinden, wenn die Investoren die Aussicht darauf haben, dass diese Komponenten auch gekauft werden”, schreibt SolarPower Europe. Dies kommt einem Eingeständnis gleich, dass europäische grüne Technologien auch trotz neuer Subventionen wohl dauerhaft teurer bleiben werden als Komponenten aus Fernost oder anderen Regionen. Manuel Berkel und Markus Grabitz

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    Warum Frankreichs Rentendebatte so vehement geführt wird

    Mit 62 Jahren Austern in der Bretagne essen oder Roséwein in der Provence schlürfen. So sieht das Klischee von Frankreichs Rentnern aus. Tatsächlich konnten viele Franzosen bisher mit 62 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen, wenn sie die je nach Geburtsjahrgang notwendigen 41 oder 42 Einzahlungsjahre voll hatten. Denn im Unterschied zu Deutschland ist das Studium kompakter und der Start ins Berufsleben früher.

    Doch nun soll den Franzosen der frühe Freizeitspaß genommen werden. Präsident Emmanuel Macron plant eine Rentenreform, die ab dem 6. Februar im Parlament beraten wird. Sie soll bis zum Sommer entschieden sein.

    Erneut Massenproteste am Dienstag

    Gewerkschaften, Oppositionsparteien und Studentenverbände sind auf den Barrikaden. Am Dienstag wurde zum zweiten Mal in ganz Frankreich gestreikt. Bahn, Metro, Schulen, Raffinerien und Flughäfen waren unter anderem betroffen. Die Regierung gab die Zahl der Demonstranten am Abend mit 1,27 Millionen an und damit mehr als die 1,12 Millionen beim ersten Ausstand am 19. Januar. Die Gewerkschaften kündigten für den 7. und 11. Februar – Dienstag und Samstag kommender Woche – neue Demonstrationen an.

    Die Reform sieht vor, dass die Einzahlungsjahre stufenweise auf 43 Jahre hochgesetzt werden. Gleichzeitig soll auch in Stufen das offizielle Rentenalter bis 2030 von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Die Rentenkassen stehen derzeit zwar noch recht solide dar, doch Präsident Macron befürchtet ein zu großes Rentenloch wegen des demografischen Wandels, der auch Frankreich trifft.

    Frankreich: Höhere Renten, früherer Start

    Rund 70 Prozent der Franzosen sprachen sich laut Umfragen dagegen aus. Es mehren sich in Frankreich in den letzten Tagen aus gemäßigten Gewerkschaftskreisen aber die Stimmen, auch die derzeitigen Rentner, wenn sie hohe Renten beziehen, mit zusätzlichen Abschlägen zu Kasse zu bitten. Ebenso sollen auch die Unternehmen ihrer Meinung nach höhere Beiträge zahlen.

    Allerdings: Wer in Frankreich nicht die 41 bis 42 Jahre Arbeitsjahre voll hat, für den gilt auch in Frankreich, dass erst mit 67 Jahren abschlagsfrei in Rente gegangen werden kann. Die Grundrente beträgt 50 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Bruttoeinkommens, dazu kommen weitere umlagefinanzierte berufliche Zusatzrenten, sodass französische Rentner im Schnitt laut OECD bei etwa 66 Prozent Ersatzrate landen.

    Im Deutschland wird zwar etwas länger gearbeitet, aber auch hier können Beschäftigte schon mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen, wenn sie 45 Jahre gearbeitet haben und vor 1953 geboren sind. Das Rentenalter wird derzeit schrittweise auf 67 Jahre hochgesetzt. Debatten gibt es aber auch in Deutschland zuhauf: Wirtschaftsvertreter fordern regelmäßig, die Altersgrenze auf 70 Jahre anzuheben. Gewerkschaften kritisieren dagegen vor allem das verhältnismäßig niedrige Rentenniveau von 48 Prozent. Sie würden das System gerne stabilisieren, in dem die bisher ausgelagerten Pensionäre und Freiberufler ins gesetzliche System miteinbezogen werden – und plädieren zum Teil für eine Anhebung der Beitragssätze.

    2010 letzte Rentenreform

    Michaël Zemmour, Ökonom und Spezialist für Sozialpolitik an der Pariser Universität Panthéon Sorbonne, erklärt, warum die Franzosen sich so gegen die Pläne Macrons sperren: “Die Franzosen haben gerade erst eine Rentenreform hinter sich, die neue Reform kommt zu schnell.” Das Rentenalter wurde im Jahr 2010 unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy von 60 auf 62 Jahre erhöht.

    Viele in Frankreich verspürten zudem zum Ende der Karriere ein großes psychisches Leiden, so der Forscher. Warum das in Frankreich besonders extrem ist? Er vermutet: Die 35-Stunden-Woche habe die Arbeit nicht reduziert, sie müsse nur in kürzerer Zeit erledigt werden. Außerdem hätten die Franzosen generell einen Hang dazu, sich zu beklagen.

    Ablehnung hat historische Gründe

    In Frankreich arbeitet laut offiziellen Zahlen der Regierung nur noch ein Drittel der Menschen zwischen 60 und 64 Jahren. Damit rangiert Frankreich hinter Italien, Spanien, Großbritannien, der Eurozone mit 46,1 Prozent und vor allem Deutschland mit 60,7 Prozent. Das liegt auch an den vielen sehr vorteilhaften Rentensystemen wie bei der Bahn SNCF oder den Ausnahmen für schwere körperliche Arbeit. Dazu kommt: “In Frankreich ist es derzeit schwer, nach 61 Jahren eine Arbeit zu finden, die Rentenreform würde nur die Zeit der Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe verlängern”, sagt Zemmour.

    Wohl der wichtigste Grund für die Ablehnung sei aber eine historische Entscheidung: “Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt Frankreich ganz auf den Sozialstaat für die Rente, nicht auf eine Mischung aus privater Kapitalisierung und sozialer Absicherung. Deshalb sind die Franzosen vollständig auf die staatliche Rente angewiesen.”

    Der Grund für diese Entscheidung in Frankreich sei das hohe Risiko von privaten Rentenabsicherungen in Finanzkrisen. Daraus ergibt sich auch die Ansicht vieler Franzosen, Vater Staat müsse sie ganz versorgen.

    Macron will die Reform um jeden Preis

    Deshalb steht der Präsident einer starken Front gegenüber. Es ist eine Kraftprobe für Macron, der seine Durchsetzungskraft beweisen will. Als “unvermeidlich” bezeichnete dieser die Rentenreform. Schon Macrons erste Rentenreform 2019 war am erbitterten Widerstand der Bürgerinnen und Bürger gescheitert. Damals hatte er eine Vereinheitlichung und ein Punktesystem angestrebt.

    Der Widerstand ist stark, alle Gewerkschaften sind diesmal dagegen. Das gab es nie. Es ist ein Kräftemessen“, sagt Zemmour. Die Machtposition des Präsidenten sei aber nicht wirklich in Gefahr. Macron zweifele nicht daran, dass er die Reform auch ohne Unterstützung durchboxen kann. Entweder mit den Konservativen, was sich schon abzeichnet, oder im Notfall mit dem Paragrafen 49.3 der Verfassung – ohne Abstimmung. Eine Einigung mit den Republikanern würde ihn sogar stärken, glaubt Zemmour. Der Weg über den Paragrafen 49.3, der es erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament durchzuboxen, sorgt dagegen für Kritik in Frankreich.

    In der Diskussion mit den Gewerkschaften zeigt sich Macron hart. Es geht um “Macht und Strategie”, betont Zemmour. “Macron will seine politisch-ökonomische Strategie durchsetzen. Die Abgaben für Unternehmen werden gesenkt, aber um die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, muss die Struktur verändert werden. Eine Reform ist notwendig, um das System auszugleichen.” Eine Abschwächung des Projektes würde nicht genug Geld in die Kassen spülen, sagt Zemmour.

    Schon zweiter Reformanlauf

    Noch vor einigen Jahren hatte Macron ausgeschlossen, das Rentenalter anzuheben, weil es so wenige Beschäftigte über 60 Jahren in Frankreich gibt. Bei seinem ersten Anlauf 2019 hatte er allerdings eine andere Rentenreform in Planung. Monatelange Streiks folgten, dann legte Macron das Projekt mit Covid auf Eis.

    Die Pandemie und der Ukrainekrieg, bei denen der Staat die Bevölkerung mit Milliardensummen unterstützte, haben den Schuldenberg stark ansteigen lassen. Macron sei in Zugzwang, irgendwo zu sparen, findet Zemmour. Und auch, um gegenüber der EU ein Zeichen zu setzen, dass Frankreich reformwillig und sparbereit sei.

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    Gemeinsamer Gaseinkauf läuft über Leipzig

    Die Plattform für den gemeinsamen Gaseinkauf und die Bündelung der Nachfrage soll von der Leipziger Firma Prisma betrieben werden. “Wir sind froh und stolz, dass wir der Europäischen Union in so kurzer Zeit eine überzeugende Lösung anbieten konnten”, sagte Götz Lincke, Managing Director von Prisma, laut einer Mitteilung vom Montag.

    Über die Energieplattform sollen Gasversorger nach einer Verordnung von 2022 genug Gas einkaufen, um 15 Prozent der Speicherverpflichtungen der Mitgliedstaaten zu erfüllen. Langfristig könnte über die Plattform laut Kommissionsplänen auch Wasserstoff beschafft werden.

    Prisma ist ein Gemeinschaftsunternehmen von über 20 europäischen Fernleitungsnetzbetreibern, die seit 2013 Transportkapazitäten über die Plattform vermarkten. Gegen die nicht-öffentliche Ausschreibung der Kommission für den Betrieb der neuen EU-weiten Einkaufsplattform klagt der Mitbewerber Enmacc aus München. “Die Entscheidung des Gerichts steht noch aus. Die EU-Kommission schafft zwischenzeitlich Fakten, indem sie die Ausschreibung Prisma zuspricht”, sagte CEO Jens Hartmann. ber

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    EU-Rechnungsprüfer: Kaum Fortschritt bei gemeinsamem Strommarkt

    Die EU ist im Bemühen um einen gemeinsamen Strommarkt dem Europäischen Rechnungshof zufolge zuletzt kaum vorangekommen. “Trotz einiger bedeutender Erfolge in den letzten zehn Jahren gab es bei der Integration der Strommärkte nur langsame Fortschritte“, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der obersten EU-Rechnungsprüfer.

    Die Vollendung des gemeinsamen Markts sei durch die von der EU-Kommission gewählten Regulierungsinstrumente sogar behindert worden. Dies habe zu einer komplexen Rechtsstruktur grenzüberschreitender Handelsregeln und zu Verzögerungen bei der Umsetzung geführt. Der Rechnungshof kommt zu dem Schluss, dass das Hauptrisiko im EU-Strommarkt letztlich auf die Endverbraucher abgewälzt wurde.

    “Unzureichende Überwachung” durch Acer

    Die EU bemüht sich seit 1996 darum, die verschiedenen Strommärkte der Mitgliedstaaten miteinander zu vernetzen. Dies soll für günstige Preise und eine sichere Versorgung sorgen sowie den ökologischen Wandel vorantreiben. Ursprünglich sollte dies 2014 abgeschlossen sein. Stattdessen habe sich in der aktuellen Energiekrise gezeigt, dass die Großhandelspreise zwischen den EU-Ländern erheblich auseinanderklafften, schrieben die Rechnungsprüfer. Zudem hingen die Endkundenpreise nach wie vor stark von nationalen Steuersätzen und Netzentgelten ab, anstatt durch den Wettbewerb bestimmt zu werden.

    Grund für den ausbleibenden Fortschritt ist nach Angaben des Rechnungshofs unter anderem eine unzureichende Überwachung der geltenden Vorgaben durch die EU-Energieagentur Acer – “vor allem, da die Agentur nicht über genügend Daten verfügte, unter Personalmangel litt und sich schlecht mit der Europäischen Kommission abgestimmt hatte”. Der von der EU-Kommission gewählte Ansatz zur Regulierung habe zudem “den Verwaltungsaufwand, den Ressourcenbedarf und die Kosten für die Acer und die nationalen Regulierungsbehörden sowie für die Netz- und Marktbetreiber erheblich und unnötig erhöht”.

    Als Folge der Energiekrise will die EU-Kommission im Frühjahr eine Reform der Strommärkte vorschlagen. Dies sei eine Gelegenheit, die Schwächen zu beheben, schrieb der Rechnungshof. Allerdings gilt das Vorhaben als hochkomplex. dpa

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    Sorgfaltspflichten: Umweltausschuss will Klimaaspekte nachschärfen

    Am 9. Februar stimmt der Umweltausschuss (ENVI) über seine Stellungnahme zum Sorgfaltspflichten-Gesetz ab. Die EU-Abgeordneten, allen voran ENVI-Berichterstatter Tiemo Wölken (SPD), wollen sich unter anderem darauf einigen, dass weitaus mehr Unternehmen unter das Gesetz fallen, als die Kommission vorschlägt. Das geht aus den vorläufigen Kompromissen hervor, die Europe.Table einsehen konnte.

    Demnach sollen Unternehmen ab 250 Mitarbeitern und 40 Millionen Euro Jahresumsatz unter das Gesetz fallen. Der Ausschuss will zudem vorschlagen, die Risikobranchen insbesondere um den Energiesektor zu erweitern. Zudem sehen die Kompromisse einen risikobasierten Ansatz vor. Der Ausschuss nimmt damit die Forderungen der federführenden Berichterstatterin Lara Wolters auf, die wie Tiemo Wölken der S&D-Fraktion angehört.

    Kompromisse orientieren sich an CSRD

    Alles in allem orientieren sich die Kompromisse stark an der EU -Richtlinie zur Unternehmens-Nachhaltigkeitsberichterstattung (CRSD). Das wird etwa an der Definition der nachteiligen Umwelteinwirkungen ersichtlich. Folgende Kategorien sollen abgedeckt werden:

    • Klimaschutz und Klimaanpassung
    • Nachhaltige Verwendung von Boden, Wasser und Meeresressourcen
    • Übergang zur Kreislaufwirtschaft
    • Vermeidung und Kontrolle von Verschmutzung
    • Schutz und Restaurierung von Biodiversität und Ökosystemen

    Zu weiteren Änderungen gehört, dass Klima als impliziter Teil des Sorgfaltspflichten-Prozesses abgehandelt wird. Unternehmen sollen zudem Klimaübergangspläne ausarbeiten, angelehnt an die Vorgaben der CRSD. Bei Firmen mit rund 1.000 Mitarbeitern soll sich die Bezahlung von Direktoren danach richten, wie sie die Klimaübergangspläne umsetzen.

    Neben dem ENVI müssen noch drei weitere Ausschüsse ihre Stellungnahmen abgeben. Im März stimmt der federführende JURI-Ausschuss ab, im Mai geht der Text ins Plenum. cw

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    Elektromüll: Industrie fordert harmonisierte Regeln

    Um eine Kreislaufwirtschaft für Elektrogeräte zu stärken, ist laut Elektro- und Recyclingindustrie eine Harmonisierung der Regeln im EU-Binnenmarkt nötig. Unterschiedlich ambitionierte Ziele, Standards und Produktanforderungen würden der Industrie unnötige Last aufbürden, hieß es gestern auf einer Veranstaltung des Recyclingindustrieverbands EuRIC.

    “In den letzten Jahren haben wir viele verschiedene nationale Bestimmungen und verbindliche Anforderungen an Produkte erlebt, die nicht an die EU-Anforderungen angepasst sind”, sagte Benedict Storer von Samsung Electronics. Es sei zwingend erforderlich, dass die technischen Produktanforderungen auf EU-Ebene harmonisiert würden. Im Bereich des Ökodesign könnte der geplante Übergang von einer Richtlinie zu einer Verordnung sicherstellen, dass Verpflichtungen in den Mitgliedstaaten einheitlicher umgesetzt werden, so Storer.

    Kommission evaluiert Altgeräte-Richtlinie

    In den Mitgliedstaaten gebe es bislang unterschiedliche Recycling-Behandlungsstandards und Sammel- und Recyclingquoten, sagte Tess Pozzi von dem Recyclingunternehmen Derichebourg. Um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, sei eine strukturelle Reform des Rechtsrahmens erforderlich. Die EU-Kommission evaluiert zurzeit die Richtlinie über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (WEEE). “Der Übergang von der Richtlinie zur Verordnung würde eine bessere Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten gewährleisten”, so Pozzi.

    Die Abgeordnete Sara Matthieu (Grüne/EFA) betonte, insbesondere für elektronische Geräte, die kritische Rohstoffe enthalten, seien höhere Sammel- und Recyclingraten erforderlich. Der Circular Economy Action Plan der Kommission sieht die “Verbesserung der Sammlung und Behandlung von Elektro- und Elektronikaltgeräten, u. a. durch Sondierung der Möglichkeiten für ein EU-weites Rücknahmesystem zur Rückgabe oder zum Verkauf alter Mobiltelefone, Tablets und Ladegeräte” vor. “Wenn ich nichts verpasst habe, gibt es noch keinen Gesetzesvorschlag zu diesem Thema”, kritisierte Matthieu.

    Konsultationen sollen im April starten

    Die WEEE-Richtlinie gibt es seit zwanzig Jahren, ihre Überarbeitung ist seit mehr als zehn Jahren in Kraft. Nicht erfolglos: 2005 wurden 300.000 Tonnen Elektromüll gesammelt, 2019 bereits rund 4,5 Millionen Tonnen. Das Ziel war allerdings, 2020 zehn Millionen Tonnen zu sammeln, berichtete Maria Banti aus der Generaldirektion Umwelt (DG ENV) der Kommission. Nur drei Mitgliedstaaten (Bulgarien, Kroatien und Polen) hätten 2019 das Ziel erreicht, 65 Prozent der auf den Markt gebrachten Elektroartikel zu sammeln.

    Die Kommission überprüft zurzeit die WEEE-Richtlinie auf Effektivität, Probleme, Wirkung und Eignung. Seit November 2022 und noch bis Ende Januar 2024 läuft die entsprechende Studie. Die öffentliche Konsultation wird voraussichtlich im April beginnen. Das Arbeitspapier der Kommission soll im Frühling 2024 angenommen werden. leo

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    M23-Rebellion im Ostkongo: “Konfliktfreie” Lieferketten sorgen nicht für Frieden

    Die derzeitige Ausbreitung der Rebellengruppe M23 im Ostkongo hängt laut Forschern nur bedingt mit Rohstoffen zusammen und wirft Zweifel an den Zielen der Regulierung von Rohstofflieferketten auf. Die Erwartung, man könne mittels der EU-Konfliktmineraleverordnung gewaltsame Konflikte verhindern, sei nicht angemessen, sagen die Experten.

    Die Rebellen breiten sich in Gebieten aus, aus denen die Armee und UN-Truppen sie vor zehn Jahren verdrängt hatten. Mehr als eine halbe Million Menschen sind bereits geflohen. Abermals unterstützt das Nachbarland Ruanda die Rebellen.

    Die EU hatte seit der vergangenen M23-Rebellion die Konfliktmineraleverordnung ausgearbeitet. Sie legt Firmen Sorgfaltspflichten auf, die Coltan, Wolfram, Zinn und Gold aus dem Kongo und anderen Regionen einführen, “wo die Einnahmen daraus gewaltsame Konflikte auslösen oder am Laufen halten”, heißt es in der Begründung. Im Januar 2021 trat sie vollumfänglich in Kraft. Bereits im Jahr 2010 hatten die USA den Dodd-Frank Act verabschiedet, der US-amerikanische Firmen verpflichtet, über Konfliktrohstoffe in ihren Lieferketten aufzuklären.

    Analyse nicht auf neuestem Stand

    Onesphore Sematumba, Analyst bei der International Crisis Group, zweifelt daran, dass Rohstoffe der Hauptgrund für die Kriege sind. Er war lange für das Pole Institute in Goma tätig, das um die Jahrtausendwende recherchierte, wie ruandisch unterstützte Rebellengruppe bedeutende Coltan-Minen in der Provinz Nord-Kivu kontrollierten. “Es herrschte das Coltan-Fieber”, sagt er. Es folgten Medienberichte und NGO-Kampagnen, die das Narrativ der “Blutrohstoffe” verfestigten. Doch dann fielen die Preise auf dem Weltmarkt. Die Rebellen zogen sich zurück. “Man hat versäumt, die Analyse auf den neusten Stand zu bringen”, sagt Sematumba.

    Er will damit nicht sagen, dass Rohstoffe keine Rolle spielen. Vereinzelt kontrollieren Rebellen heute Minen, insbesondere im Goldabbau. “Aber es gibt Konflikte dort, wo es Rohstoffe gibt und dort, wo es keine gibt”, sagt der Analyst. Mehr als 120 bewaffnete Gruppen zählen Beobachter in der Region. Sie haben allerlei Einkommensquellen: Plünderungen, Zölle oder das Geschäft mit Holzkohle. Selten sind sie jedoch allein von Gier angetrieben.

    Auch Bernd Lange (S&D) dämpft die Erwartungen an die EU-Verordnung: “Ich glaube, man kann damit die Finanzierung einzelner Gruppen austrocknen. Aber allein damit wird man die Konflikte nicht überwinden”. Als Vorsitzender des Internationalen Handelsausschusses hat er die Gesetzgebung maßgeblich vorangetrieben und damals sowohl mit Vertretern der kongolesischen Zivilgesellschaft als auch mit europäischen Verbrauchergruppen und der Industrie gesprochen. “Wir wollten Transparenz in den Markt bekommen”, sagt er. Damit sollte beispielsweise verhindert werden, dass europäische Zentralbanken Gold kaufen, das der Finanzierung von Bürgerkriegen dient.

    Für Lange enthält die EU-Verordnung wichtige Lektionen: “Das ist ein bisschen der Vorläufer des Lieferkettengesetzes”. In diesem Jahr soll eine erste Bilanz gezogen werden. “Dann werden wir noch mal darüber nachdenken, was die materielle Situation vor Ort stärken könnte”, sagt Lange. Jonas Gerding

    Die vollständige Analyse lesen Sie in der heutigen Ausgabe des ESG.Table.

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    Presseschau

    Scholz in Südamerika optimistisch für EU-Mercosur-Abkommen HANDELSBLATT
    Russland-Sanktionen: EU ringt um Preisgrenzen auf Ölprodukte FAZ
    Ukraine kündigt EU-Gipfel in Kiew an TAGESSCHAU
    Selenskyj will EU-Beitritt der Ukraine weiter vorantreiben WALLSTREET-ONLINE
    Nur 8,5 Prozent der Firmen aus EU-Staaten haben sich aus Russland zurückgezogen RND
    EU-Korruptionsskandal: Zwei weitere Abgeordnete unter Verdacht TAGESSCHAU
    Nach Messerangriff in Brüssel: Haftbefehl wegen versuchten Mordes gegen mutmaßlichen Täter erlassen RP-ONLINE
    Erstmals mehr Strom aus Wind und Solar als aus Gaskraftwerken TAGESSPIEGEL
    EU-Wirtschaft wächst wider Erwarten – IWF korrigiert globale Prognosen nach oben STERN
    EU-Kommission kontert Subventionspaket der USA BOERSEN-ZEITUNG
    Meinung: Immer mehr Firmen drohen mit Abwanderung in die USA: Die EU sollte sie zum Bleiben bewegen – mit viel Geld STERN
    Alles blickt auf von der Leyen: Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin bahnt sich an MERKUR
    EU-Industrieemissionsrichtlinie: Deutschland will Schwellenwert verdoppeln AGRARZEITUNG
    EU-Rechnungshof rügt Mängel am Strommarkt BOERSEN-ZEITUNG
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    Volker Löwe – Vertreter Berliner Interessen in Brüssel

    Volker Löwe ist Leiter des Büros des Landes Berlin bei der EU in Brüssel.

    Mehr als 20 Jahre lang verfolgt Volker Löwe schon die Berliner Landespolitik. Seit einiger Zeit vertritt er ihre Interessen auf Europa-Ebene. Er ist Leiter des Büros des Landes Berlin bei der EU in Brüssel. Zu seinen Aufgaben zählt unter anderem die Europäisierung der Verwaltung. Hierbei sei es wichtig, “das europäische Gras früh wachsen zu hören”, um früh in Entscheidungsprozessen mitsprechen zu können.

    Fokus auf die Forschung

    Der Politikwissenschaftler bemüht sich darum, Berliner Expertise und Erfahrungen in Brüssel zur Geltung zu bringen. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind die europäische Regionalpolitik und die Strukturfonds wie EFRE und ESF plus, die für die Stadt eine wichtige Rolle spielen. Vor allem zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und für Wissenschaft und Forschung. “Berlin hat ein sehr dichtes Netz an Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel die Hochschulen und Universitäten”, sagt der 57-Jährige. Besonders wichtig ist ihm die Städtepolitik, die die EU lange Zeit vernachlässigt habe. Das Thema Energie und Klimaschutz sind große Herausforderungen der nächsten Jahre, insbesondere was die Sanierung des öffentlichen Gebäudebestandes betrifft.  

    Das Ergebnis der wiederholten Berliner Abgeordnetenwahl erwarten er und sein Team mit Spannung. Es werde eine Weile dauern, bis der Koalitionsvertrag steht, wenn sich bei der Zusammensetzung etwas ändern sollte, schätzt Volker Löwe. Bei der Frage, ob er Berlin oder Brüssel schöner findet, möchte er sich nicht festlegen. Es sei kein Wunder, dass beide Städte eine gut gepflegte Partnerschaft haben.

    Selbstbewusstes Europa

    Seine Doktorarbeit schrieb er Anfang der 1990er Jahre über die Beteiligung der Bundeswehr bei Out-of-Area-Einsätzen, den sogenannten Blauhelm-Operationen. Danach fing der Politikwissenschaftler im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an. Es folgten zwei Jahre als freier Mitarbeiter im Kanzleramt und der Wechsel in die Landesvertretung Berlin in Bonn. Sein Motto bei Herausforderungen sei “den Stier bei den Hörnern zu packen”. Man müsse die Dinge beim Namen nennen und nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Auf Europa-Ebene vor allem im Einklang mit anderen Akteuren.

    Die Trümpfe der EU sind für Löwe die Balance aus Freiheit und Solidarität. Diese macht das europäische Modell so attraktiv und man muss sie im Inneren und im Außen bewahren. “Wir müssen unsere strategische Autonomie stärken, um weniger erpressbar zu sein.” Volker Löwe wünscht sich eine selbstbewusste europäische Politik nach außen und dass die EU nicht von innen heraus an Glaubwürdigkeit verliert. Gegenüber Mitgliedstaaten, die sich vom Rechtsstaat verabschieden, wird die EU eine klare Sprache finden müssen, sagt er. Kim Fischer

    • Europapolitik

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