angesichts der Spannungen im Verhältnis zu Russland bereitet sich die EU intensiv auf eine mögliche Unterbrechung der Gaslieferungen vor. Die Suche nach Alternativen zu russischem Gas ist in vollem Gange – auch auf Betreiben der USA. Die Sorge um die Versorgungssicherheit könnte andere Argumente wie niedrige Preise und Klimaschutz auch langfristig in den Hintergrund rücken lassen und zu einer Neuordnung des internationalen Gasmarkts führen – weg von Russland, hin zu den USA und anderen Lieferanten, wie Eric Bonse in seiner Analyse darlegt.
In Italien ging am Wochenende ein sechstägiger Wahlmarathon zu Ende. Nach sage und schreibe acht Wahlgängen wurde der bisherige Präsident Sergio Mattarella im Amt bestätigt. Die Wahl des Achtzigjährigen, der eine zweite Amtszeit eigentlich ausgeschlossen hat, war die einzige Möglichkeit, eine politische Krise zu vermeiden. Die fragile Stabilität der Draghi-Regierung bleibt also vorerst erhalten. Was die Präsidentschaftswahl über den Zustand der italienischen Politik aussagt, analysiert Isabel Cuesta.
In Brüssel startet heute der DSA-Trilog. In der ersten Verhandlungsrunde geht es vor allem um die Festlegung der Hauptstreitpunkte, über die in den kommenden Wochen verhandelt werden soll. Auch wenn sich die Akteure bei den großen Linien weitgehend einig zu sein scheinen, könnten die Unterschiede zwischen Rats- und Parlamentsposition doch einige Verhandlungstage in Anspruch nehmen. In welchen Details der sprichwörtliche Teufel stecken könnte, haben sich Falk Steiner und Jasmin Kohl angeschaut.
Die EU leitet eine Wende in ihrer Energiepolitik ein. Nach massivem Druck aus den USA, die Sanktionen gegen die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sowie gegen den russischen Energie- und Finanzsektor fordern, bereitet sich die EU-Kommission in Brüssel nun gemeinsam mit Washington auf eine mögliche Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland vor.
Man wolle “Versorgungsschocks vermeiden, die sich nicht zuletzt durch eine weitere russische Invasion in der Ukraine ergeben könnten”, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Joe Biden, die am Freitag in Brüssel veröffentlicht wurde. Dazu müsse die Abhängigkeit von russischem Erdgas verringert werden.
Die Bemühungen verfolgen zunächst vor allem das Ziel, Gaslieferungen aus Russland im Ernstfall durch Flüssiggas aus den USA und anderen Regionen der Welt zu ersetzen. Die transatlantische Abstimmung geht jedoch über die aktuelle Krise hinaus. Langfristig könnte sie zu einer Neuordnung des internationalen Gasmarkts führen – weg von Russland, hin zu den USA und anderen Lieferanten.
Die Vereinigten Staaten seien für die EU bereits jetzt der größte Lieferant von Flüssigerdgas (LNG), betonen von der Leyen und Biden in ihrem Statement. Derzeit arbeite man “mit Regierungen und Marktteilnehmern zusammen, um die Versorgung Europas mit Erdgas aus verschiedenen Quellen weltweit zu erweitern”. Es gebe Kontakte zu den Golfstaaten, Ägypten und Algerien, heißt es in Brüssel.
Bisher importiert die EU rund 40 Prozent ihres Gases aus Russland. In Deutschland liegt der Anteil mit 55 Prozent sogar noch höher. Vor allem Deutschland könnte Einbußen erleiden, wenn die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 stillgelegt wird, wie die USA und die EU als Teil ihres Sanktionspakets planen. In diesem Fall müsse man mit russischen Gegensanktionen rechnen, heißt es in der EU-Kommission.
Wie wahrscheinlich dieses “Worst Case”-Szenario ist, bleibt unklar. Man wolle nicht spekulieren, sagte ein Kommissionsexperte. Bisher hat sich Russland als zuverlässiger Lieferant erwiesen. Selbst im Kalten Krieg wurden die Gaslieferungen, die Moskau wichtige Deviseneinnahmen sichern, nicht unterbrochen. Auch bisher gibt es keine Anzeichen für einen russischen Lieferstopp.
Dessen ungeachtet fordern die USA, die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland zu verringern. Am 25. Januar hatte das Weiße Haus in Washington massive Sanktionen gegen Russland angekündigt und eine Neuordnung des Gasmarkts in Europa gefordert. Es gehe nicht nur um Nord Stream 2, sondern auch darum, Russland von seinen Einnahmen aus der Gas- und Ölproduktion abzuschneiden.
Bisher sind die Pläne für den Ernstfall allerdings noch vage. Von der Leyen und Biden nennen in ihrer gemeinsamen Erklärung keine Details einer möglichen alternativen Gasversorgung. Die LNG-Terminals in der EU sind bereits zu 66 Prozent ausgelastet. Wenn sie zu 100 Prozent genutzt würden, könne damit rund ein Viertel der Gaseinfuhr abgedeckt werden, heißt es in der Kommission.
Dies würde jedoch nicht ausreichen, um einen möglichen Totalausfall der Lieferungen aus Russland auszugleichen. Im Ernstfall müsse die EU mit erheblichen wirtschaftlichen Schäden rechnen, heißt es in einer Studie des Brüsseler Thinktanks Bruegel (Europe.Table berichtete). Vor allem Deutschland gilt als verwundbar, da es neben Gas auch Öl und Steinkohle aus Russland bezieht.
Ein weiteres Problem ist, dass das amerikanische Fracking-Gas als extrem klimaschädlich gilt. So stellte die Bundesregierung 2020 fest, dass Fracking fast so schädlich wie Kohle sei. Unkonventionelle Produktions-Methoden, wie sie in den USA üblich sind, bürgen zudem erhebliche Risiken für andere Umweltgüter, besonders für Grundwasser und Böden, erklärte das Umweltministerium.
Diese Bedenken werden in dem EU-USA-Statement jedoch zurückgestellt. “Flüssigerdgas kann kurzfristig die Versorgungssicherheit verbessern, während wir weiterhin darauf hinarbeiten, den Übergang zu Netto-Null-Emissionen zu erreichen”, betonen Biden und von der Leyen. Auch Klimaminister Robert Habeck denkt um – er will den Bau von Terminals für Flüssiggas an der deutschen Küste fördern.
Bemerkenswert ist auch der Strategiewechsel der EU-Kommission. Noch im Dezember war die Brüsseler Behörde gegen staatliche Eingriffe in den Gasmarkt, selbst der Bau europäischer Gasspeicher war umstritten. Die Kooperation mit den USA hat jedoch einen Sinneswandel herbeigeführt. “Wir werden auch einen Meinungsaustausch über die Rolle der Speicherung für die Versorgungssicherheit durchführen”, heißt es in dem gemeinsamen Statement.
Vorausgegangen waren intensive Kontakte zwischen Brüssel und Washington. In der vergangenen Woche war Ditte Juul Jorgensen, Leiterin der Generaldirektorin ENER, in die US-Hauptstadt gereist. Am kommenden Wochenende wird auch Energiekommissarin Kadri Simson in Washington erwartet. Beim EU-US-Energierat am 7. Februar sollen weitere Details der Zusammenarbeit besprochen werden.
Während sich Biden und von der Leyen um eine größere Unabhängigkeit vom russischen Gas bemühen, schießt Ungarn quer. Man wolle versuchen, die Gaslieferungen aus Russland sogar auszuweiten, sagte Ministerpräsident Viktor Orbán im Vorfeld eines Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag in Moskau.
Erst im August hat das EU-Land ein neues langfristiges Gaslieferabkommen mit dem russischen Konzern Gazprom geschlossen. Demnach will Russland jährlich 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Ungarn liefern, und zwar vorbei an der benachbarten Ukraine. “Ich würde die Gaslieferungen ausgehend von den im Gasvertrag vereinbarten Mengen erhöhen”, sagte Orbán im öffentlichen Rundfunk.
Die Forderungen der Opposition, seinen Besuch in Moskau abzusagen, hat Orbán zurückgewiesen. Der ungarische Ministerpräsident will, wie er sagte, mit Putin auch über die europäische Sicherheit sprechen. Ungarn sei an einer friedlichen Lösung des Ukraine-Konflikts interessiert. “Natürlich ist Ungarn Mitglied der NATO und der EU, daher berate ich mich vor jedem Treffen mit unseren westlichen Verbündeten und stimme mich mit ihnen ab”, betonte Orbán und fügte hinzu, dass er in den kommenden Tagen weitere Gespräche mit westlichen Politikern führen werde.
Sergio Mattarella hatte in den vergangenen Monaten mehrfach betont, dass er sein Mandat nicht um weitere sieben Jahre verlängern wolle. In seiner Neujahrsansprache verabschiedete sich Mattarella sogar von den Italienern. Doch es kam anders. Die politischen Parteien waren nicht in der Lage, eine Einigung zu erzielen und eine Kandidatin oder einen neuen Kandidaten für die italienische Präsidentschaft zu finden.
Nach sechs anstrengenden Wahltagen hat italienische Parlament den Achtzigjährigen am Samstag im achten Wahlgang mit 759 von 983 abgegebenen Stimmen im Amt bestätigt. Die Wiederwahl Mattarellas bedeutet ein Jahr politischer Stabilität unter Mario Draghis großer Koalitionsregierung bis zum Ende der Legislaturperiode. Doch das Chaos bei den Wahlen zeigt deutlich die Spaltung der politischen Gruppierungen.
“Angesichts der ernsten Notlagen, die wir immer noch an der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Front erleben, erfordern die Bedingungen, dass wir uns nicht vor unserer Verantwortung drücken und über unsere persönlichen Perspektiven hinausgehen”, sagte Mattarella am Samstagabend. Der derzeitige italienische Staatschef ist der zweite Präsident in der Geschichte der Republik mit einer zweiten Amtszeit.
Sein Vorgänger, Giorgio Napolitano, der ebenfalls nicht wieder antreten wollte, musste dies 2013 aufgrund mangelnder politischer Einigkeit tun. Allerdings unterzeichnete Napolitano 2015 seinen Rücktritt und wurde durch Mattarella ersetzt. Dieses Mal jedoch wählten die Parteiführer den Präsidenten wieder, weil dies die einzige Möglichkeit war, eine politische Krise zu vermeiden. Die fragile Stabilität der Exekutive von Mario Draghi bleibt erhalten und das Schreckensszenario vorgezogener Neuwahlen wird dadurch abgewendet.
Die Wahlen in der vergangenen Woche waren die längste Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt seit 30 Jahren. “Die Ausgangslage für diese Wahlen war schwierig. Die Parteien der Regierungskoalition haben nicht nur völlig unterschiedliche Visionen, sondern können sich auch gegenseitig nicht ausstehen“, sagt Paolo Flores d’Arcais, Philosoph sowie Herausgeber der einflussreichen politischen Zeitschrift Italiens “MicroMega“, im Gespräch mit Europe.Table.
Obwohl sich die Koalitionsparteien vor einem Jahr darauf geeinigt haben, gemeinsam zu regieren, sind die Meinungsverschiedenheiten nach wie vor groß. Die große Koalition war eine Möglichkeit, die politische Krise zu überwinden, die die Regierung von Giuseppe Conte mitten in der Pandemie zu Fall brachte. Flores D’Arcais weist darauf hin, dass die Regierungsparteien -Forza Italia, Lega Nord, Partido Democratico, 5MS, Italia Viva, Articulo Uno- auch intern gespalten sind und über Führungspersönlichkeiten mit wenig politischer Zugkraft verfügen. “Darüber hinaus gibt es persönliche Ambitionen und keine erkennbaren Werte mehr innerhalb der Fraktionen. Es ist das chaotischste Parlament aller Zeiten“, sagt Flores D’Arcais.
Einige politische Gruppierungen haben sich am vierten und fünften Wahltag der Stimme enthalten. Selbst am Freitagnachmittag war noch nicht klar, welcher Kandidat die besten Chancen auf den Wahlsieg hatte. Bis zum Schluss versuchte Mario Draghi, in den Quirinale-Palast einzuziehen. Letztendlich wurde ihm aber auch klar, dass die Bestätigung von Sergio Mattarella nicht nur die beste, sondern vielleicht sogar die einzige Option war.
Die Fünf-Sterne-Bewegung, die Lega, die Sozialdemokraten, Berlusconis Partei Forza Italia und Matteo Renzis Italia Viva haben sich am Samstag alle für Mattarella ausgesprochen. Draghi bat den Präsidenten, im Interesse der politischen Stabilität des Landes zu bleiben. Mattarella ist “der Garant für alles, unparteiisch und zuverlässig”, sagte Guiseppe Conte, Sekretär der 5-Sterne-Bewegung.
Der Chef von Partido Democratico Enrico Letta bedankte sich bei Mattarella für “seine Entscheidung der Großzügigkeit gegenüber dem Land”. Letta betonte jedoch, dass die Wahlen voller Spannungen waren, die “von einer blockierten und stagnierenden Politik zeugen, die nur auf Personalismus basiert”. Mattarella ist in dem Chaos der vergangenen Tagen als einziger Kandidat wieder hervorgetreten, der die Parteien in Italien vereinen kann.
Seine Aufgabe wird kurz- und langfristig nicht leicht sein. Das Jahr vor den Parlamentswahlen kann eine Wiederholung des Durcheinanders sein, das sich in der Abgeordnetenkammer von Palazzo Montecitorio ereignet hat. Das politische Spiel wird ab jetzt nur komplexer. Die Koalitionen, die unter den Trümmern dieser Wahlen gefangen sind, versprechen zukünftige Spannungen und neue Gräben.
Mattarellas zurückliegende Amtszeit war hektisch und ereignisreich. Mattarella musste fünf verschiedene Regierungen erleben – die von Matteo Renzi, Paolo Gentiloni, Giuseppe Conte und Mario Draghi- und stand kurz davor, eine technische Regierung zu bilden, um das national-populistische Abdriften zu verhindern, in das Italien unter Matteo Salvini gefährlich hineingeraten war.
Als Präsident der Republik verhielt er sich stets zurückhaltend. Aber sein diskreter Charakter hinderte ihn nicht daran, die mächtigen Vorrechte seines Amtes zu nutzen, wenn es nötig war. So verhinderte er 2018, dass die erste Regierung von Giuseppe Conte, die von der rechtsextremen Lega und der 5-Sterne-Bewegung (M5S) gebildet wurde, den Euroskeptiker Paolo Savona zum Wirtschaftsminister ernannte. Die M5S hatte außerdem eine groteske Kampagne für seine Amtsenthebung geführt. Mitten in der Pandemie und angesichts der politischen Krise, die Giuseppe Conte das Amts als Premierminister kostete, musste Mattarella vor einem Jahr Mario Draghi zum Regierungschef ernennen, um vorgezogene Wahlen zu vermeiden.
Am nächsten Mittwoch wird Mattarella vereidigt und seine Antrittsrede am allerletzten Tag seiner ersten Amtszeit halten. Isabel Cuesta
Nachdem das Europäische Parlament seine Verhandlungsposition am 20. Januar verabschiedet hat (Europe.Table berichtete), startet heute Nachmittag der Trilog zum Digital Services Act mit dem Rat und der Kommission. Aus einem internen Parlamentsdokument, das Europe.Table vorliegt, wird klar, dass Berichterstatterin Christel Schaldemose (S&D) bei der ersten Trilog-Sitzung den Fokus auf drei Themenbereiche legen möchte: Verbraucherschutz (Dark Patterns, Sorgfaltspflichten für Online-Marktplätze, personalisierte Werbung, Empfehlungssysteme, Recht auf Schadensersatz), Ausnahmeregelungen für Klein- und Kleinstunternehmen und spezielle Vorgaben für sehr große Plattformen (VLOPs).
Die französische Ratspräsidentschaft wird laut Verhandlungskreisen besonderes den Durchsetzungsmechanismus und die Einbeziehung von sehr großen Online-Suchmaschinen (VLOSE) in die Definition der sehr großen Online-Plattformen (VLOP) diskutieren wollen.
Das Parlament hat beschlossen, dass Online-Marktplätze weitreichenderen Verpflichtungen zur Überprüfung der Identifikation von Anbietern (“Know Your Business Customer“) unterliegen sollen. Online-Handelsplattformen sollen einschlägige Datenbanken abfragen und “alle in ihrer Macht stehenden Bemühungen” unternehmen, um die von dem Händler bereitgestellten Informationen zu prüfen. Online identifizierte Fälschungen könnten so aber trotzdem immer wieder angeboten werden.
Verbraucherschützer und einige Produzentenvertreter pochen daher auf die Aufnahme des Stay-Down-Prinzips und die Verankerung des KYBC-Prinzips in den Artikeln des DSA. Letzteres findet sich allein in den Erwägungsgründen. Die Ratsposition unterscheidet sich hier nicht wesentlich vom ursprünglichen Kommissionsvorschlag.
Das Parlament hat sich gegen ein allgemeines Verbot von personalisierter Werbung ausgesprochen. Die Europaabgeordneten wollen aber zumindest die Nutzung sensibler Datenkategorien, wie sexuelle Orientierung oder politische Meinung, für diese Werbeform ausschließen. Außerdem soll sie für Minderjährige komplett verboten werden.
Auch personenbezogene Daten von volljährigen Nutzer:innen dürften Online-Plattformen nach dem Willen des EU-Parlaments nicht automatisch für den Zweck der personalisierten Werbung verarbeiten. Plattformen sollen Nutzer:innen “sinnvolle Informationen” zur Verfügung stellen, etwa Informationen darüber, wie ihre Daten monetisiert werden. Auf diese Weise könnten diese eine informierte Zustimmung geben. Dabei darf es nicht schwieriger oder zeitaufwendiger sein, die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten abzulehnen.
Ein Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige ist in der Ratsposition dagegen nicht enthalten. Stattdessen will der Rat mit dem Artikel 30 sehr große Plattformen zu mehr Transparenz verpflichten. In einem speziellen Onlinebereich sollen sie für ein Jahr nach Ausspielung der Werbung Informationen, wie Inhalt, Namen des beworbenen Produkts, den Anzeigezeitraum und die Hauptparameter der Zielgruppe sowie die Zahl der tatsächlich erreichten Nutzer:innen jeder Zielgruppe, in jedem Mitgliedstaat hinterlegen müssen. Vorgesehen ist, dass diese Informationen, ohne personenbezogene Daten, öffentlich zugänglich sind.
Das Parlament will mit seinem Vorschlag für einen Artikel 13a allen Anbietern umfangreiche Verbote für die Oberflächengestaltung auferlegen, insbesondere wenn es um die Erlangung von Einwilligungen geht. Verboten sollen unter anderem Methoden wie optisch deutlich hervorgehobene Schaltflächen und kaum auffindbare Verweigerungen sowie wiederkehrende Aufforderungen. In der Ratsposition ist eine entsprechende Designvorschrift (Art. 24b) nur für Betreiber von Onlinemarktplätzen vorgesehen sowie für Empfehlungssysteme sehr großer Plattformen (VLOP) und Suchmaschinenanbieter (VLOSE) (Art. 29 Abs. 1).
Hier hat das Parlament einen eigenen Artikel für mehr Transparenz von Empfehlungssystemen (Artikel 24a) beschlossen, der in weiten Teilen über den Kommissionsvorschlag hinaus geht. So sollen die Regelungen nicht nur für Empfehlungssysteme auf sehr großen Online-Plattformen gelten, sondern für alle Online-Plattformen. Der Rat bleibt deutlich näher am Kommissionsvorschlag und sieht die Regelungen nur für sehr große Plattformen (VLOP) sowie zusätzlich für sehr große Suchmaschinen (VLOSE) vor.
Geht es nach dem Parlament, soll es Nutzer:innen außerdem möglich sein, die Empfehlungssysteme so anzupassen, dass die ausgespielten Informationen in einer anderen Reihenfolge angezeigt werden. Die Plattformen müssen auch transparent erklären, wie sie Inhalte empfehlen und die Hauptkriterien, auf denen die Empfehlungen der Empfehlungssysteme basieren, dazu offenlegen. Die Parlamentarier wollen sehr große Online-Plattformen zudem dazu verpflichten, mindestens ein Empfehlungssystem anzubieten, das nicht auf der Erstellung von Profilen beruht (Artikel 29).
Kommission und Rat erheben vergleichsweise allgemeine Anforderungen an die Identifikation systemischer Risiken sehr großer Plattformen, etwa zu Desinformation, Meinungsfreiheit oder Auswirkungen auf das Privatleben. Der Rat dehnt diese auch auf sehr große Suchmaschinen (VLOSE) aus. Das Parlament hat hier inhaltlich eine deutliche Erweiterung vorgesehen. So sollen unter anderem Auswirkungen auf Verbraucherschutz, Gleichberechtigung oder die öffentliche Gesundheit verpflichtend mitgeprüft werden. Auch bei der Durchführung dieser Risk Assessments verlangt das Parlament spezifischere Vorschriften für die großen Anbieter, unter anderem die Einbeziehung von Betroffenengruppen und Experten.
Auf diesen Folgeabschätzungen sollen nach dem Willen des Parlaments Sicherungsmechanismen basieren, etwa bei der Gestaltung algorithmischer Systeme, Nutzeroberflächen und Werbetechnologien. Das Parlament will zudem, dass eine Liste der getroffenen Maßnahmen mitsamt Begründungen unabhängigen Gutachtern im Rahmen von Audits zur Verfügung gestellt wird. Für diese Audits sieht das Parlament eine Reihe weiterer, spezifischer Vorschriften vor, die über Kommissionsvorschlag und Ratsposition hinausgehen (Art. 28)
Die Kommission hatte vorgeschlagen (Artikel 16), Klein- und Kleinstunternehmen von allen Verpflichtungen im Abschnitt 3 des Digital Services Act auszunehmen, darunter die Verpflichtung, ein System zur Bearbeitung von Beschwerden einzuführen, “trusted flagger” (vertrauenswürdige Hinweisgeber) einzurichten, ihre Händler zu überprüfen und zusätzliche Transparenzberichte zu erstellen. Der Rat stimmt dem zu, ergänzt aber wie das Parlament, dass die Klein- und Kleinstunternehmen keine sehr großen Online-Plattformen sein dürfen.
Renew und EVP haben sich in der Parlamentsposition mit ihrer Forderung durchgesetzt, auch mittlere und gemeinnützige Unternehmen unter die Ausnahmeregelung zu nehmen. Die Unternehmen sollen dazu einen Antrag beim Digital Services Coordinator am Niederlassungsort stellen können.
Die Kommission soll daraufhin den Antrag zusammen mit dem Gremium der Digital Services Coordinators prüfen und ihre Entscheidung in Form eines delegierten Rechtsakts treffen. So könnten Klein- und Kleinstunternehmen von der Pflicht ausgenommen werden, die Legalität von Anbietern und ihren Produkten überprüfen zu müssen (“Know Your Business Customer”-Prinzip). Verbraucherschützer kritisieren diese Regelung stark, da genau wie auf sehr großen Plattformen auch auf kleinen Plattformen unsichere Produkte gekauft werden können.
Das Parlament hat – im Gegensatz zur Kommission und dem Rat – einen Schadensersatz-Artikel (43a) in seine Position aufgenommen. Demnach sollen Nutzer:innen von Online-Plattformen Schadensersatz von den Anbietern verlangen können, sollten sie “etwaige unmittelbare Schäden oder Verluste” erlitten haben, die auf einen Verstoß gegen die im DSA festgelegten Pflichten zurückgehen.
Ein wesentlicher Unterschied in den Positionen von Kommission, Rat und Parlament besteht in der Frage der Zuständigkeit: Ausgerechnet die sonst oft auf Subsidiarität pochenden Mitgliedstaaten wollen bei sehr großen Anbietern die Kommission mit der Durchsetzung betrauen. Während Kommission und Parlament hier nur bei spezifischen Vorschriften Verfahren in die Hände der Brüsseler EU-Beamten geben wollen, spricht sich der Rat dafür aus, dass die Kommission beim Verdacht jeglichen Verstoßes gegen den Digital Services Act für diese Anbieter zuständig sein solle.
Die Mitgliedstaaten fordern in ihrer Positionierung eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung der Digital Services Coordinator (DSC) genannten zuständigen nationalen Stellen. Die Parlamentarier wollen noch einen Schritt weitergehen: Alle mit der Durchsetzung beauftragten Behörden der Mitgliedstaaten sollen angemessen ausgestattet sein (Artikel 38). Unterschiede gibt es auch bei der Frage, wann die DSCs ihre Arbeit aufnehmen sollen: Kommission und Parlament sehen zwei Monate nach Inkrafttreten des Digital Services Act für ausreichend an, die Mitgliedstaaten erachten 15 Monate als erstrebenswert.
Die weiteren Triloge sind derzeit für den 15. Februar und den 15. März angesetzt, sowie für die Woche vom 4. April. Ob diese relativ sportlichen Fristen am Ende ausreichen, ist offen und hängt vom Einigungswillen während der ersten inhaltlichen Triloge ab. Das Timing der französischen Ratspräsidentschaft wäre aber perfekt: Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl ist am 10. April und Emmanuel Macron will Digital Markets Act und Digital Services Act möglichst bald abschließen.
Falk Steiner / Jasmin Kohl
Der Beitrag wurde am 31.01.22 um 16:30 aktualisiert.
In der Regel nimmt die Kommission delegierte Rechtsakte schriftlich an, und zwar durch die sogenannte written procedure. Beim Rechtsakt zur Taxonomie weicht die Kommission von dieser Regel womöglich ab. Das sagt jedenfalls der Kommissar für Arbeit und Soziales, Nicolas Schmit. “Das wird wohl im Collège diskutiert.” In dem Fall würde für ihn nur ein klares “Nein” infrage kommen. “Es ist eine Absurdität, Atomkraft als grün zu labeln. Das kann man nicht akzeptieren”, sagt Schmit.
Genauso sieht er die Integration von Gas in die Taxonomie. Die Mitgliedsstaaten könnten über ihren Energiemix zwar selbst entscheiden. Das bedeute aber nicht, dass die EU ihren Segen für ein Nachhaltigkeitslabel für Gas und Atom geben sollte. Im Kollegium wird nach einfacher Mehrheit entschieden. Dass es eine solche gegen den Rechtsakt geben wird, bezweifelt Schmit: “Ich weiß wie es ausgeht – leider”. Die Stimmung im Gremium der Kommissare scheint jedenfalls angespannt: “Über die Arbeitsweise wäre vieles zu sagen, ich sage aber jetzt nichts.”
Die Europäische Union will offenbar einen zweistelligen Milliardenbetrag in eine eigene Chipindustrie investieren und ihren Anteil an der weltweiten Chip-Produktion auf 20 Prozent verdoppeln. Wie der EU-Kommissar für Industrie, Binnenmarkt und Dienstleistungen, Thierry Breton, am Freitag vor Journalisten sagte, habe die weltweite Chip-Knappheit die Risiken der Abhängigkeit von asiatischen und US-amerikanischen Lieferanten aufgezeigt. “Ich möchte, dass die EU bei Halbleitern ein Nettoexporteur ist, so wie wir es bei Impfstoffen sind. In geostrategischen Industrien wie Batterien oder Pharmazeutika machen wir dasselbe – wir machen nicht alles selbst, aber wir haben die Kapazitäten dazu”, so Breton.
Der ehrgeizige Plan der EU folgt auf die Ankündigung der USA, die im vergangenen Jahr ein 52 Milliarden Dollar schweres staatliches Subventionsprogramm “CHIPS for America” verabschiedet haben, um besser mit chinesischen Technologien konkurrieren zu können. Laut Breton soll sich die Höhe der EU-Investitionen in einem ähnlichen Rahmen bewegen. Eine feste Zahl wollte er allerdings nichts nennen: “Wir arbeiten mit den verschiedenen Geldgebern zusammen, vor allem mit den nationalen, europäischen und regionalen.” Den Chips Act will die EU-Kommission am 8. Februar vorlegen (Europe.Table berichtete). rtr
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) rechnet damit, dass die von der EU geplante CO2-Grenzausgleichssteuer auch in Russland zu einem Umschwenken auf erneuerbare Energien führen wird. “Die Pläne der EU für eine CO2-Grenzausgleichssteuer nimmt man dort sehr ernst – und gerade die Energie- und Stahlbranche weiß, dass sie sich darauf einstellen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagte Baerbock den Zeitungen der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung “Ouest France” laut einem Vorabbericht.
Viele große Firmen in Russland machten deshalb schon von selbst Tempo bei der Umstellung auf erneuerbare Energien und Wasserstoff. Russland habe angesichts seiner schieren Größe ein immenses Potenzial für neue Geschäftsmodelle bei grünem Wasserstoff und Waldaufforstung. “Was wäre es für ein Segen, diesbezüglich auf Grundlage internationalen Rechts zusammenarbeiten zu können”, so Baerbock.
Die EU-Kommission will nach den bislang bekannten Plänen verhindern, dass es eine Verschiebung von CO2-Verschmutzung von der EU in andere Regionen gibt. Die Brüsseler Behörde schlägt deswegen ab 2026 eine CO2-Grenzabgabe vor, die zum Beispiel Importeure von Stahl für jede Tonne CO2 zahlen müssen. Dies soll sicherstellen, dass europäische Emissionssenkungen auch zu einem weltweiten Emissionsrückgang beitragen – und CO2-intensive Produktionskapazitäten nicht aus Europa abwandern. rtr
Die regierende Sozialistische Partei (PS) hat die Neuwahl des Parlaments in Portugal nach Medienprognosen klar gewonnen. Nach einer als sehr zuverlässig geltenden Wählerbefragung des staatlichen Fernsehsenders RTP erhielt die sozialdemokratisch orientierte PS von Ministerpräsident António Costa am Sonntag zwischen 37 und 42 Prozent der Stimmen. Damit können die Sozialisten sogar auf eine absolute Mehrheit im Parlament hoffen. Es gilt aber als wahrscheinlicher, dass der 60 Jahre alte Costa weiterhin auf die Unterstützung kleinerer linker Parteien angewiesen sein wird.
Im Wahlkampf trat Costa für eine Fortsetzung seiner bisherigen Politik an: Er will die Wirtschaft weiter fördern, die sozialen Ungleichheiten reduzieren – und gleichzeitig die öffentlichen Finanzen stabilisieren. Eine große Koalition oder auch eine weitreichende Zusammenarbeit mit der konservativ orientierten Sozialdemokratischen Partei (PSD) von Spitzenkandidat Rui Rio gilt als sehr unwahrscheinlich. Costas PS und Rios PSD sind die beiden großen Traditionsparteien in Portugal.
Die PSD belegte nach der RTP-Prognose mit 30 bis 35 Prozent erneut Platz zwei. Andere portugiesische Medien veröffentlichten am Abend kurz nach Schließung der letzten Wahllokale auf den Azoren ähnliche Zahlen. Beim TV-Sender SIC kam die PS auf 37,4 bis 41,1 Prozent. Bei der vorherigen Wahl im Herbst 2019 hatte die PS mit 36,3 Prozent gewonnen, die PSD erhielt 27,8 Prozent.
Im Wahlkampf hatte der gelernte Jurist Costa lange Zeit eine absolute Mehrheit als Ziel deklariert, um eine “stabile Regierung zu haben”. Zuletzt hatte er aber vor dem Hintergrund schlechterer Umfrageergebnisse eine Wiederauflage der Zusammenarbeit mit BE, PCP, PEV und möglicherweise auch anderen kleinen linksgerichteten Gruppierungen nicht mehr ausgeschlossen. dpa
Nico Muzi wuchs in Bahía Blanca in der Nähe von Buenos Aires auf. Seine Eltern italienischer Abstammung hatten einen Bauernhof mit mehreren Rindern. Schon als Kind war Muzi von der Bedeutung der Erhaltung natürlicher Ökosysteme beeinflusst. Im Laufe der Jahre rückte der Kampf gegen die Abholzung der Wälder in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Als Europadirektor der Nichtregierungsorganisation Mighty Earth setzt sich Muzi dafür ein, dass der Fleischkonsum in Europa nicht zur Abholzung der Wälder in Südamerika führt.
Mighty Earth hat sich zuletzt bei der EU-Kommission für den Entwurf eines neuen Gesetzes gegen die Entwaldung starkgemacht. Das Gesetz, das im November vorgestellt wurde, zielt darauf ab, die Einfuhr von Produkten in die EU zu verbieten, die zum Raubbau an den Tropenwäldern beitragen. “Eines der Hauptziele des Green Deal ist es, die Auswirkungen Europas auf die weltweite Entwaldung zu minimieren”, sagt Muzi im Gespräch mit Europe.Table. In Teilen der Welt, die die Lunge der Erde seien, würden die Wälder durch Landwirtschaft und Viehzucht abgeholzt.
Muzi verweist auf die im vergangenen Jahr vom WWF veröffentlichte Studie mit alarmierenden Daten: Die EU ist nach China der zweitgrößte Importeur von abgeholzten Wäldern. 2017 war die EU für 16 Prozent der Entwaldung im Zusammenhang mit dem internationalen Handel verantwortlich, was insgesamt 203.000 Hektar und 116 Millionen Tonnen CO2 ausmacht. Die EU liegt hinter China (24 Prozent), aber vor Indien (9 Prozent) und den USA (7 Prozent).
“Die Verantwortung, die Europa trägt, liegt in der Einfuhr von Agrarprodukten und Rohstoffen, die den Regenwald in den Anbauländern vernichten”, sagt Muzi. Der Soziologe mit einem Master in International Political Economy von der University of Kent ist auch Mitglied der Expertengruppe der EU-Kommission zum Schutz und zur Wiederherstellung der Wälder der Welt. Mighty Earth kämpft seit fünf Jahren gegen die Entwaldung in der ganzen Welt und hat zusammen mit anderen NGOs in Brüssel darauf hingewirkt, dass die Kommission diesen Gesetzentwurf vorlegt.
Zwischen 2005 und 2017 waren Sojabohnen, Palmöl und Rindfleisch die von der EU importierten Waren, die die größte Abholzung von Tropenwäldern verursachten, gefolgt von Holzwaren, Kakao und Kaffee. Da Europa durch den Konsum dieser Produkte eine Verantwortung trägt, sollte Europa Nachhaltigkeitsstandards für den Import dieser Produkte vorschreiben, führt Muzi aus. “Im Amazonasbecken ist die Viehzucht der schlimmste Feind, vor allem in den größeren Gebieten in Kolumbien und Brasilien”, sagt der 41-jährige Umweltschützer.
Bevor er 2020 zu Mighty Earth stieß, arbeitete Muzi acht Jahre lang als Kampagnen- und Kommunikationsdirektor für den europäischen Verkehrs- und Umweltdachverband Transport and Environment (T&E). Zusammen mit Nicolas Richat führte Muzi 2015 bei dem Dokumentarfilm Frontera Invisible (Unsichtbare Grenze) Regie. Der preisgekrönte Film zeigt die Realität der kolumbianischen Gemeinden, die von bewaffneten Konflikten, Vertreibung und der Eile der Großgrundbesitzer, Palmöl für Europa zu produzieren, betroffen sind. Isabel Cuesta Camacho
angesichts der Spannungen im Verhältnis zu Russland bereitet sich die EU intensiv auf eine mögliche Unterbrechung der Gaslieferungen vor. Die Suche nach Alternativen zu russischem Gas ist in vollem Gange – auch auf Betreiben der USA. Die Sorge um die Versorgungssicherheit könnte andere Argumente wie niedrige Preise und Klimaschutz auch langfristig in den Hintergrund rücken lassen und zu einer Neuordnung des internationalen Gasmarkts führen – weg von Russland, hin zu den USA und anderen Lieferanten, wie Eric Bonse in seiner Analyse darlegt.
In Italien ging am Wochenende ein sechstägiger Wahlmarathon zu Ende. Nach sage und schreibe acht Wahlgängen wurde der bisherige Präsident Sergio Mattarella im Amt bestätigt. Die Wahl des Achtzigjährigen, der eine zweite Amtszeit eigentlich ausgeschlossen hat, war die einzige Möglichkeit, eine politische Krise zu vermeiden. Die fragile Stabilität der Draghi-Regierung bleibt also vorerst erhalten. Was die Präsidentschaftswahl über den Zustand der italienischen Politik aussagt, analysiert Isabel Cuesta.
In Brüssel startet heute der DSA-Trilog. In der ersten Verhandlungsrunde geht es vor allem um die Festlegung der Hauptstreitpunkte, über die in den kommenden Wochen verhandelt werden soll. Auch wenn sich die Akteure bei den großen Linien weitgehend einig zu sein scheinen, könnten die Unterschiede zwischen Rats- und Parlamentsposition doch einige Verhandlungstage in Anspruch nehmen. In welchen Details der sprichwörtliche Teufel stecken könnte, haben sich Falk Steiner und Jasmin Kohl angeschaut.
Die EU leitet eine Wende in ihrer Energiepolitik ein. Nach massivem Druck aus den USA, die Sanktionen gegen die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sowie gegen den russischen Energie- und Finanzsektor fordern, bereitet sich die EU-Kommission in Brüssel nun gemeinsam mit Washington auf eine mögliche Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland vor.
Man wolle “Versorgungsschocks vermeiden, die sich nicht zuletzt durch eine weitere russische Invasion in der Ukraine ergeben könnten”, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Joe Biden, die am Freitag in Brüssel veröffentlicht wurde. Dazu müsse die Abhängigkeit von russischem Erdgas verringert werden.
Die Bemühungen verfolgen zunächst vor allem das Ziel, Gaslieferungen aus Russland im Ernstfall durch Flüssiggas aus den USA und anderen Regionen der Welt zu ersetzen. Die transatlantische Abstimmung geht jedoch über die aktuelle Krise hinaus. Langfristig könnte sie zu einer Neuordnung des internationalen Gasmarkts führen – weg von Russland, hin zu den USA und anderen Lieferanten.
Die Vereinigten Staaten seien für die EU bereits jetzt der größte Lieferant von Flüssigerdgas (LNG), betonen von der Leyen und Biden in ihrem Statement. Derzeit arbeite man “mit Regierungen und Marktteilnehmern zusammen, um die Versorgung Europas mit Erdgas aus verschiedenen Quellen weltweit zu erweitern”. Es gebe Kontakte zu den Golfstaaten, Ägypten und Algerien, heißt es in Brüssel.
Bisher importiert die EU rund 40 Prozent ihres Gases aus Russland. In Deutschland liegt der Anteil mit 55 Prozent sogar noch höher. Vor allem Deutschland könnte Einbußen erleiden, wenn die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 stillgelegt wird, wie die USA und die EU als Teil ihres Sanktionspakets planen. In diesem Fall müsse man mit russischen Gegensanktionen rechnen, heißt es in der EU-Kommission.
Wie wahrscheinlich dieses “Worst Case”-Szenario ist, bleibt unklar. Man wolle nicht spekulieren, sagte ein Kommissionsexperte. Bisher hat sich Russland als zuverlässiger Lieferant erwiesen. Selbst im Kalten Krieg wurden die Gaslieferungen, die Moskau wichtige Deviseneinnahmen sichern, nicht unterbrochen. Auch bisher gibt es keine Anzeichen für einen russischen Lieferstopp.
Dessen ungeachtet fordern die USA, die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland zu verringern. Am 25. Januar hatte das Weiße Haus in Washington massive Sanktionen gegen Russland angekündigt und eine Neuordnung des Gasmarkts in Europa gefordert. Es gehe nicht nur um Nord Stream 2, sondern auch darum, Russland von seinen Einnahmen aus der Gas- und Ölproduktion abzuschneiden.
Bisher sind die Pläne für den Ernstfall allerdings noch vage. Von der Leyen und Biden nennen in ihrer gemeinsamen Erklärung keine Details einer möglichen alternativen Gasversorgung. Die LNG-Terminals in der EU sind bereits zu 66 Prozent ausgelastet. Wenn sie zu 100 Prozent genutzt würden, könne damit rund ein Viertel der Gaseinfuhr abgedeckt werden, heißt es in der Kommission.
Dies würde jedoch nicht ausreichen, um einen möglichen Totalausfall der Lieferungen aus Russland auszugleichen. Im Ernstfall müsse die EU mit erheblichen wirtschaftlichen Schäden rechnen, heißt es in einer Studie des Brüsseler Thinktanks Bruegel (Europe.Table berichtete). Vor allem Deutschland gilt als verwundbar, da es neben Gas auch Öl und Steinkohle aus Russland bezieht.
Ein weiteres Problem ist, dass das amerikanische Fracking-Gas als extrem klimaschädlich gilt. So stellte die Bundesregierung 2020 fest, dass Fracking fast so schädlich wie Kohle sei. Unkonventionelle Produktions-Methoden, wie sie in den USA üblich sind, bürgen zudem erhebliche Risiken für andere Umweltgüter, besonders für Grundwasser und Böden, erklärte das Umweltministerium.
Diese Bedenken werden in dem EU-USA-Statement jedoch zurückgestellt. “Flüssigerdgas kann kurzfristig die Versorgungssicherheit verbessern, während wir weiterhin darauf hinarbeiten, den Übergang zu Netto-Null-Emissionen zu erreichen”, betonen Biden und von der Leyen. Auch Klimaminister Robert Habeck denkt um – er will den Bau von Terminals für Flüssiggas an der deutschen Küste fördern.
Bemerkenswert ist auch der Strategiewechsel der EU-Kommission. Noch im Dezember war die Brüsseler Behörde gegen staatliche Eingriffe in den Gasmarkt, selbst der Bau europäischer Gasspeicher war umstritten. Die Kooperation mit den USA hat jedoch einen Sinneswandel herbeigeführt. “Wir werden auch einen Meinungsaustausch über die Rolle der Speicherung für die Versorgungssicherheit durchführen”, heißt es in dem gemeinsamen Statement.
Vorausgegangen waren intensive Kontakte zwischen Brüssel und Washington. In der vergangenen Woche war Ditte Juul Jorgensen, Leiterin der Generaldirektorin ENER, in die US-Hauptstadt gereist. Am kommenden Wochenende wird auch Energiekommissarin Kadri Simson in Washington erwartet. Beim EU-US-Energierat am 7. Februar sollen weitere Details der Zusammenarbeit besprochen werden.
Während sich Biden und von der Leyen um eine größere Unabhängigkeit vom russischen Gas bemühen, schießt Ungarn quer. Man wolle versuchen, die Gaslieferungen aus Russland sogar auszuweiten, sagte Ministerpräsident Viktor Orbán im Vorfeld eines Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag in Moskau.
Erst im August hat das EU-Land ein neues langfristiges Gaslieferabkommen mit dem russischen Konzern Gazprom geschlossen. Demnach will Russland jährlich 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Ungarn liefern, und zwar vorbei an der benachbarten Ukraine. “Ich würde die Gaslieferungen ausgehend von den im Gasvertrag vereinbarten Mengen erhöhen”, sagte Orbán im öffentlichen Rundfunk.
Die Forderungen der Opposition, seinen Besuch in Moskau abzusagen, hat Orbán zurückgewiesen. Der ungarische Ministerpräsident will, wie er sagte, mit Putin auch über die europäische Sicherheit sprechen. Ungarn sei an einer friedlichen Lösung des Ukraine-Konflikts interessiert. “Natürlich ist Ungarn Mitglied der NATO und der EU, daher berate ich mich vor jedem Treffen mit unseren westlichen Verbündeten und stimme mich mit ihnen ab”, betonte Orbán und fügte hinzu, dass er in den kommenden Tagen weitere Gespräche mit westlichen Politikern führen werde.
Sergio Mattarella hatte in den vergangenen Monaten mehrfach betont, dass er sein Mandat nicht um weitere sieben Jahre verlängern wolle. In seiner Neujahrsansprache verabschiedete sich Mattarella sogar von den Italienern. Doch es kam anders. Die politischen Parteien waren nicht in der Lage, eine Einigung zu erzielen und eine Kandidatin oder einen neuen Kandidaten für die italienische Präsidentschaft zu finden.
Nach sechs anstrengenden Wahltagen hat italienische Parlament den Achtzigjährigen am Samstag im achten Wahlgang mit 759 von 983 abgegebenen Stimmen im Amt bestätigt. Die Wiederwahl Mattarellas bedeutet ein Jahr politischer Stabilität unter Mario Draghis großer Koalitionsregierung bis zum Ende der Legislaturperiode. Doch das Chaos bei den Wahlen zeigt deutlich die Spaltung der politischen Gruppierungen.
“Angesichts der ernsten Notlagen, die wir immer noch an der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Front erleben, erfordern die Bedingungen, dass wir uns nicht vor unserer Verantwortung drücken und über unsere persönlichen Perspektiven hinausgehen”, sagte Mattarella am Samstagabend. Der derzeitige italienische Staatschef ist der zweite Präsident in der Geschichte der Republik mit einer zweiten Amtszeit.
Sein Vorgänger, Giorgio Napolitano, der ebenfalls nicht wieder antreten wollte, musste dies 2013 aufgrund mangelnder politischer Einigkeit tun. Allerdings unterzeichnete Napolitano 2015 seinen Rücktritt und wurde durch Mattarella ersetzt. Dieses Mal jedoch wählten die Parteiführer den Präsidenten wieder, weil dies die einzige Möglichkeit war, eine politische Krise zu vermeiden. Die fragile Stabilität der Exekutive von Mario Draghi bleibt erhalten und das Schreckensszenario vorgezogener Neuwahlen wird dadurch abgewendet.
Die Wahlen in der vergangenen Woche waren die längste Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt seit 30 Jahren. “Die Ausgangslage für diese Wahlen war schwierig. Die Parteien der Regierungskoalition haben nicht nur völlig unterschiedliche Visionen, sondern können sich auch gegenseitig nicht ausstehen“, sagt Paolo Flores d’Arcais, Philosoph sowie Herausgeber der einflussreichen politischen Zeitschrift Italiens “MicroMega“, im Gespräch mit Europe.Table.
Obwohl sich die Koalitionsparteien vor einem Jahr darauf geeinigt haben, gemeinsam zu regieren, sind die Meinungsverschiedenheiten nach wie vor groß. Die große Koalition war eine Möglichkeit, die politische Krise zu überwinden, die die Regierung von Giuseppe Conte mitten in der Pandemie zu Fall brachte. Flores D’Arcais weist darauf hin, dass die Regierungsparteien -Forza Italia, Lega Nord, Partido Democratico, 5MS, Italia Viva, Articulo Uno- auch intern gespalten sind und über Führungspersönlichkeiten mit wenig politischer Zugkraft verfügen. “Darüber hinaus gibt es persönliche Ambitionen und keine erkennbaren Werte mehr innerhalb der Fraktionen. Es ist das chaotischste Parlament aller Zeiten“, sagt Flores D’Arcais.
Einige politische Gruppierungen haben sich am vierten und fünften Wahltag der Stimme enthalten. Selbst am Freitagnachmittag war noch nicht klar, welcher Kandidat die besten Chancen auf den Wahlsieg hatte. Bis zum Schluss versuchte Mario Draghi, in den Quirinale-Palast einzuziehen. Letztendlich wurde ihm aber auch klar, dass die Bestätigung von Sergio Mattarella nicht nur die beste, sondern vielleicht sogar die einzige Option war.
Die Fünf-Sterne-Bewegung, die Lega, die Sozialdemokraten, Berlusconis Partei Forza Italia und Matteo Renzis Italia Viva haben sich am Samstag alle für Mattarella ausgesprochen. Draghi bat den Präsidenten, im Interesse der politischen Stabilität des Landes zu bleiben. Mattarella ist “der Garant für alles, unparteiisch und zuverlässig”, sagte Guiseppe Conte, Sekretär der 5-Sterne-Bewegung.
Der Chef von Partido Democratico Enrico Letta bedankte sich bei Mattarella für “seine Entscheidung der Großzügigkeit gegenüber dem Land”. Letta betonte jedoch, dass die Wahlen voller Spannungen waren, die “von einer blockierten und stagnierenden Politik zeugen, die nur auf Personalismus basiert”. Mattarella ist in dem Chaos der vergangenen Tagen als einziger Kandidat wieder hervorgetreten, der die Parteien in Italien vereinen kann.
Seine Aufgabe wird kurz- und langfristig nicht leicht sein. Das Jahr vor den Parlamentswahlen kann eine Wiederholung des Durcheinanders sein, das sich in der Abgeordnetenkammer von Palazzo Montecitorio ereignet hat. Das politische Spiel wird ab jetzt nur komplexer. Die Koalitionen, die unter den Trümmern dieser Wahlen gefangen sind, versprechen zukünftige Spannungen und neue Gräben.
Mattarellas zurückliegende Amtszeit war hektisch und ereignisreich. Mattarella musste fünf verschiedene Regierungen erleben – die von Matteo Renzi, Paolo Gentiloni, Giuseppe Conte und Mario Draghi- und stand kurz davor, eine technische Regierung zu bilden, um das national-populistische Abdriften zu verhindern, in das Italien unter Matteo Salvini gefährlich hineingeraten war.
Als Präsident der Republik verhielt er sich stets zurückhaltend. Aber sein diskreter Charakter hinderte ihn nicht daran, die mächtigen Vorrechte seines Amtes zu nutzen, wenn es nötig war. So verhinderte er 2018, dass die erste Regierung von Giuseppe Conte, die von der rechtsextremen Lega und der 5-Sterne-Bewegung (M5S) gebildet wurde, den Euroskeptiker Paolo Savona zum Wirtschaftsminister ernannte. Die M5S hatte außerdem eine groteske Kampagne für seine Amtsenthebung geführt. Mitten in der Pandemie und angesichts der politischen Krise, die Giuseppe Conte das Amts als Premierminister kostete, musste Mattarella vor einem Jahr Mario Draghi zum Regierungschef ernennen, um vorgezogene Wahlen zu vermeiden.
Am nächsten Mittwoch wird Mattarella vereidigt und seine Antrittsrede am allerletzten Tag seiner ersten Amtszeit halten. Isabel Cuesta
Nachdem das Europäische Parlament seine Verhandlungsposition am 20. Januar verabschiedet hat (Europe.Table berichtete), startet heute Nachmittag der Trilog zum Digital Services Act mit dem Rat und der Kommission. Aus einem internen Parlamentsdokument, das Europe.Table vorliegt, wird klar, dass Berichterstatterin Christel Schaldemose (S&D) bei der ersten Trilog-Sitzung den Fokus auf drei Themenbereiche legen möchte: Verbraucherschutz (Dark Patterns, Sorgfaltspflichten für Online-Marktplätze, personalisierte Werbung, Empfehlungssysteme, Recht auf Schadensersatz), Ausnahmeregelungen für Klein- und Kleinstunternehmen und spezielle Vorgaben für sehr große Plattformen (VLOPs).
Die französische Ratspräsidentschaft wird laut Verhandlungskreisen besonderes den Durchsetzungsmechanismus und die Einbeziehung von sehr großen Online-Suchmaschinen (VLOSE) in die Definition der sehr großen Online-Plattformen (VLOP) diskutieren wollen.
Das Parlament hat beschlossen, dass Online-Marktplätze weitreichenderen Verpflichtungen zur Überprüfung der Identifikation von Anbietern (“Know Your Business Customer“) unterliegen sollen. Online-Handelsplattformen sollen einschlägige Datenbanken abfragen und “alle in ihrer Macht stehenden Bemühungen” unternehmen, um die von dem Händler bereitgestellten Informationen zu prüfen. Online identifizierte Fälschungen könnten so aber trotzdem immer wieder angeboten werden.
Verbraucherschützer und einige Produzentenvertreter pochen daher auf die Aufnahme des Stay-Down-Prinzips und die Verankerung des KYBC-Prinzips in den Artikeln des DSA. Letzteres findet sich allein in den Erwägungsgründen. Die Ratsposition unterscheidet sich hier nicht wesentlich vom ursprünglichen Kommissionsvorschlag.
Das Parlament hat sich gegen ein allgemeines Verbot von personalisierter Werbung ausgesprochen. Die Europaabgeordneten wollen aber zumindest die Nutzung sensibler Datenkategorien, wie sexuelle Orientierung oder politische Meinung, für diese Werbeform ausschließen. Außerdem soll sie für Minderjährige komplett verboten werden.
Auch personenbezogene Daten von volljährigen Nutzer:innen dürften Online-Plattformen nach dem Willen des EU-Parlaments nicht automatisch für den Zweck der personalisierten Werbung verarbeiten. Plattformen sollen Nutzer:innen “sinnvolle Informationen” zur Verfügung stellen, etwa Informationen darüber, wie ihre Daten monetisiert werden. Auf diese Weise könnten diese eine informierte Zustimmung geben. Dabei darf es nicht schwieriger oder zeitaufwendiger sein, die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten abzulehnen.
Ein Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige ist in der Ratsposition dagegen nicht enthalten. Stattdessen will der Rat mit dem Artikel 30 sehr große Plattformen zu mehr Transparenz verpflichten. In einem speziellen Onlinebereich sollen sie für ein Jahr nach Ausspielung der Werbung Informationen, wie Inhalt, Namen des beworbenen Produkts, den Anzeigezeitraum und die Hauptparameter der Zielgruppe sowie die Zahl der tatsächlich erreichten Nutzer:innen jeder Zielgruppe, in jedem Mitgliedstaat hinterlegen müssen. Vorgesehen ist, dass diese Informationen, ohne personenbezogene Daten, öffentlich zugänglich sind.
Das Parlament will mit seinem Vorschlag für einen Artikel 13a allen Anbietern umfangreiche Verbote für die Oberflächengestaltung auferlegen, insbesondere wenn es um die Erlangung von Einwilligungen geht. Verboten sollen unter anderem Methoden wie optisch deutlich hervorgehobene Schaltflächen und kaum auffindbare Verweigerungen sowie wiederkehrende Aufforderungen. In der Ratsposition ist eine entsprechende Designvorschrift (Art. 24b) nur für Betreiber von Onlinemarktplätzen vorgesehen sowie für Empfehlungssysteme sehr großer Plattformen (VLOP) und Suchmaschinenanbieter (VLOSE) (Art. 29 Abs. 1).
Hier hat das Parlament einen eigenen Artikel für mehr Transparenz von Empfehlungssystemen (Artikel 24a) beschlossen, der in weiten Teilen über den Kommissionsvorschlag hinaus geht. So sollen die Regelungen nicht nur für Empfehlungssysteme auf sehr großen Online-Plattformen gelten, sondern für alle Online-Plattformen. Der Rat bleibt deutlich näher am Kommissionsvorschlag und sieht die Regelungen nur für sehr große Plattformen (VLOP) sowie zusätzlich für sehr große Suchmaschinen (VLOSE) vor.
Geht es nach dem Parlament, soll es Nutzer:innen außerdem möglich sein, die Empfehlungssysteme so anzupassen, dass die ausgespielten Informationen in einer anderen Reihenfolge angezeigt werden. Die Plattformen müssen auch transparent erklären, wie sie Inhalte empfehlen und die Hauptkriterien, auf denen die Empfehlungen der Empfehlungssysteme basieren, dazu offenlegen. Die Parlamentarier wollen sehr große Online-Plattformen zudem dazu verpflichten, mindestens ein Empfehlungssystem anzubieten, das nicht auf der Erstellung von Profilen beruht (Artikel 29).
Kommission und Rat erheben vergleichsweise allgemeine Anforderungen an die Identifikation systemischer Risiken sehr großer Plattformen, etwa zu Desinformation, Meinungsfreiheit oder Auswirkungen auf das Privatleben. Der Rat dehnt diese auch auf sehr große Suchmaschinen (VLOSE) aus. Das Parlament hat hier inhaltlich eine deutliche Erweiterung vorgesehen. So sollen unter anderem Auswirkungen auf Verbraucherschutz, Gleichberechtigung oder die öffentliche Gesundheit verpflichtend mitgeprüft werden. Auch bei der Durchführung dieser Risk Assessments verlangt das Parlament spezifischere Vorschriften für die großen Anbieter, unter anderem die Einbeziehung von Betroffenengruppen und Experten.
Auf diesen Folgeabschätzungen sollen nach dem Willen des Parlaments Sicherungsmechanismen basieren, etwa bei der Gestaltung algorithmischer Systeme, Nutzeroberflächen und Werbetechnologien. Das Parlament will zudem, dass eine Liste der getroffenen Maßnahmen mitsamt Begründungen unabhängigen Gutachtern im Rahmen von Audits zur Verfügung gestellt wird. Für diese Audits sieht das Parlament eine Reihe weiterer, spezifischer Vorschriften vor, die über Kommissionsvorschlag und Ratsposition hinausgehen (Art. 28)
Die Kommission hatte vorgeschlagen (Artikel 16), Klein- und Kleinstunternehmen von allen Verpflichtungen im Abschnitt 3 des Digital Services Act auszunehmen, darunter die Verpflichtung, ein System zur Bearbeitung von Beschwerden einzuführen, “trusted flagger” (vertrauenswürdige Hinweisgeber) einzurichten, ihre Händler zu überprüfen und zusätzliche Transparenzberichte zu erstellen. Der Rat stimmt dem zu, ergänzt aber wie das Parlament, dass die Klein- und Kleinstunternehmen keine sehr großen Online-Plattformen sein dürfen.
Renew und EVP haben sich in der Parlamentsposition mit ihrer Forderung durchgesetzt, auch mittlere und gemeinnützige Unternehmen unter die Ausnahmeregelung zu nehmen. Die Unternehmen sollen dazu einen Antrag beim Digital Services Coordinator am Niederlassungsort stellen können.
Die Kommission soll daraufhin den Antrag zusammen mit dem Gremium der Digital Services Coordinators prüfen und ihre Entscheidung in Form eines delegierten Rechtsakts treffen. So könnten Klein- und Kleinstunternehmen von der Pflicht ausgenommen werden, die Legalität von Anbietern und ihren Produkten überprüfen zu müssen (“Know Your Business Customer”-Prinzip). Verbraucherschützer kritisieren diese Regelung stark, da genau wie auf sehr großen Plattformen auch auf kleinen Plattformen unsichere Produkte gekauft werden können.
Das Parlament hat – im Gegensatz zur Kommission und dem Rat – einen Schadensersatz-Artikel (43a) in seine Position aufgenommen. Demnach sollen Nutzer:innen von Online-Plattformen Schadensersatz von den Anbietern verlangen können, sollten sie “etwaige unmittelbare Schäden oder Verluste” erlitten haben, die auf einen Verstoß gegen die im DSA festgelegten Pflichten zurückgehen.
Ein wesentlicher Unterschied in den Positionen von Kommission, Rat und Parlament besteht in der Frage der Zuständigkeit: Ausgerechnet die sonst oft auf Subsidiarität pochenden Mitgliedstaaten wollen bei sehr großen Anbietern die Kommission mit der Durchsetzung betrauen. Während Kommission und Parlament hier nur bei spezifischen Vorschriften Verfahren in die Hände der Brüsseler EU-Beamten geben wollen, spricht sich der Rat dafür aus, dass die Kommission beim Verdacht jeglichen Verstoßes gegen den Digital Services Act für diese Anbieter zuständig sein solle.
Die Mitgliedstaaten fordern in ihrer Positionierung eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung der Digital Services Coordinator (DSC) genannten zuständigen nationalen Stellen. Die Parlamentarier wollen noch einen Schritt weitergehen: Alle mit der Durchsetzung beauftragten Behörden der Mitgliedstaaten sollen angemessen ausgestattet sein (Artikel 38). Unterschiede gibt es auch bei der Frage, wann die DSCs ihre Arbeit aufnehmen sollen: Kommission und Parlament sehen zwei Monate nach Inkrafttreten des Digital Services Act für ausreichend an, die Mitgliedstaaten erachten 15 Monate als erstrebenswert.
Die weiteren Triloge sind derzeit für den 15. Februar und den 15. März angesetzt, sowie für die Woche vom 4. April. Ob diese relativ sportlichen Fristen am Ende ausreichen, ist offen und hängt vom Einigungswillen während der ersten inhaltlichen Triloge ab. Das Timing der französischen Ratspräsidentschaft wäre aber perfekt: Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl ist am 10. April und Emmanuel Macron will Digital Markets Act und Digital Services Act möglichst bald abschließen.
Falk Steiner / Jasmin Kohl
Der Beitrag wurde am 31.01.22 um 16:30 aktualisiert.
In der Regel nimmt die Kommission delegierte Rechtsakte schriftlich an, und zwar durch die sogenannte written procedure. Beim Rechtsakt zur Taxonomie weicht die Kommission von dieser Regel womöglich ab. Das sagt jedenfalls der Kommissar für Arbeit und Soziales, Nicolas Schmit. “Das wird wohl im Collège diskutiert.” In dem Fall würde für ihn nur ein klares “Nein” infrage kommen. “Es ist eine Absurdität, Atomkraft als grün zu labeln. Das kann man nicht akzeptieren”, sagt Schmit.
Genauso sieht er die Integration von Gas in die Taxonomie. Die Mitgliedsstaaten könnten über ihren Energiemix zwar selbst entscheiden. Das bedeute aber nicht, dass die EU ihren Segen für ein Nachhaltigkeitslabel für Gas und Atom geben sollte. Im Kollegium wird nach einfacher Mehrheit entschieden. Dass es eine solche gegen den Rechtsakt geben wird, bezweifelt Schmit: “Ich weiß wie es ausgeht – leider”. Die Stimmung im Gremium der Kommissare scheint jedenfalls angespannt: “Über die Arbeitsweise wäre vieles zu sagen, ich sage aber jetzt nichts.”
Die Europäische Union will offenbar einen zweistelligen Milliardenbetrag in eine eigene Chipindustrie investieren und ihren Anteil an der weltweiten Chip-Produktion auf 20 Prozent verdoppeln. Wie der EU-Kommissar für Industrie, Binnenmarkt und Dienstleistungen, Thierry Breton, am Freitag vor Journalisten sagte, habe die weltweite Chip-Knappheit die Risiken der Abhängigkeit von asiatischen und US-amerikanischen Lieferanten aufgezeigt. “Ich möchte, dass die EU bei Halbleitern ein Nettoexporteur ist, so wie wir es bei Impfstoffen sind. In geostrategischen Industrien wie Batterien oder Pharmazeutika machen wir dasselbe – wir machen nicht alles selbst, aber wir haben die Kapazitäten dazu”, so Breton.
Der ehrgeizige Plan der EU folgt auf die Ankündigung der USA, die im vergangenen Jahr ein 52 Milliarden Dollar schweres staatliches Subventionsprogramm “CHIPS for America” verabschiedet haben, um besser mit chinesischen Technologien konkurrieren zu können. Laut Breton soll sich die Höhe der EU-Investitionen in einem ähnlichen Rahmen bewegen. Eine feste Zahl wollte er allerdings nichts nennen: “Wir arbeiten mit den verschiedenen Geldgebern zusammen, vor allem mit den nationalen, europäischen und regionalen.” Den Chips Act will die EU-Kommission am 8. Februar vorlegen (Europe.Table berichtete). rtr
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) rechnet damit, dass die von der EU geplante CO2-Grenzausgleichssteuer auch in Russland zu einem Umschwenken auf erneuerbare Energien führen wird. “Die Pläne der EU für eine CO2-Grenzausgleichssteuer nimmt man dort sehr ernst – und gerade die Energie- und Stahlbranche weiß, dass sie sich darauf einstellen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagte Baerbock den Zeitungen der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung “Ouest France” laut einem Vorabbericht.
Viele große Firmen in Russland machten deshalb schon von selbst Tempo bei der Umstellung auf erneuerbare Energien und Wasserstoff. Russland habe angesichts seiner schieren Größe ein immenses Potenzial für neue Geschäftsmodelle bei grünem Wasserstoff und Waldaufforstung. “Was wäre es für ein Segen, diesbezüglich auf Grundlage internationalen Rechts zusammenarbeiten zu können”, so Baerbock.
Die EU-Kommission will nach den bislang bekannten Plänen verhindern, dass es eine Verschiebung von CO2-Verschmutzung von der EU in andere Regionen gibt. Die Brüsseler Behörde schlägt deswegen ab 2026 eine CO2-Grenzabgabe vor, die zum Beispiel Importeure von Stahl für jede Tonne CO2 zahlen müssen. Dies soll sicherstellen, dass europäische Emissionssenkungen auch zu einem weltweiten Emissionsrückgang beitragen – und CO2-intensive Produktionskapazitäten nicht aus Europa abwandern. rtr
Die regierende Sozialistische Partei (PS) hat die Neuwahl des Parlaments in Portugal nach Medienprognosen klar gewonnen. Nach einer als sehr zuverlässig geltenden Wählerbefragung des staatlichen Fernsehsenders RTP erhielt die sozialdemokratisch orientierte PS von Ministerpräsident António Costa am Sonntag zwischen 37 und 42 Prozent der Stimmen. Damit können die Sozialisten sogar auf eine absolute Mehrheit im Parlament hoffen. Es gilt aber als wahrscheinlicher, dass der 60 Jahre alte Costa weiterhin auf die Unterstützung kleinerer linker Parteien angewiesen sein wird.
Im Wahlkampf trat Costa für eine Fortsetzung seiner bisherigen Politik an: Er will die Wirtschaft weiter fördern, die sozialen Ungleichheiten reduzieren – und gleichzeitig die öffentlichen Finanzen stabilisieren. Eine große Koalition oder auch eine weitreichende Zusammenarbeit mit der konservativ orientierten Sozialdemokratischen Partei (PSD) von Spitzenkandidat Rui Rio gilt als sehr unwahrscheinlich. Costas PS und Rios PSD sind die beiden großen Traditionsparteien in Portugal.
Die PSD belegte nach der RTP-Prognose mit 30 bis 35 Prozent erneut Platz zwei. Andere portugiesische Medien veröffentlichten am Abend kurz nach Schließung der letzten Wahllokale auf den Azoren ähnliche Zahlen. Beim TV-Sender SIC kam die PS auf 37,4 bis 41,1 Prozent. Bei der vorherigen Wahl im Herbst 2019 hatte die PS mit 36,3 Prozent gewonnen, die PSD erhielt 27,8 Prozent.
Im Wahlkampf hatte der gelernte Jurist Costa lange Zeit eine absolute Mehrheit als Ziel deklariert, um eine “stabile Regierung zu haben”. Zuletzt hatte er aber vor dem Hintergrund schlechterer Umfrageergebnisse eine Wiederauflage der Zusammenarbeit mit BE, PCP, PEV und möglicherweise auch anderen kleinen linksgerichteten Gruppierungen nicht mehr ausgeschlossen. dpa
Nico Muzi wuchs in Bahía Blanca in der Nähe von Buenos Aires auf. Seine Eltern italienischer Abstammung hatten einen Bauernhof mit mehreren Rindern. Schon als Kind war Muzi von der Bedeutung der Erhaltung natürlicher Ökosysteme beeinflusst. Im Laufe der Jahre rückte der Kampf gegen die Abholzung der Wälder in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Als Europadirektor der Nichtregierungsorganisation Mighty Earth setzt sich Muzi dafür ein, dass der Fleischkonsum in Europa nicht zur Abholzung der Wälder in Südamerika führt.
Mighty Earth hat sich zuletzt bei der EU-Kommission für den Entwurf eines neuen Gesetzes gegen die Entwaldung starkgemacht. Das Gesetz, das im November vorgestellt wurde, zielt darauf ab, die Einfuhr von Produkten in die EU zu verbieten, die zum Raubbau an den Tropenwäldern beitragen. “Eines der Hauptziele des Green Deal ist es, die Auswirkungen Europas auf die weltweite Entwaldung zu minimieren”, sagt Muzi im Gespräch mit Europe.Table. In Teilen der Welt, die die Lunge der Erde seien, würden die Wälder durch Landwirtschaft und Viehzucht abgeholzt.
Muzi verweist auf die im vergangenen Jahr vom WWF veröffentlichte Studie mit alarmierenden Daten: Die EU ist nach China der zweitgrößte Importeur von abgeholzten Wäldern. 2017 war die EU für 16 Prozent der Entwaldung im Zusammenhang mit dem internationalen Handel verantwortlich, was insgesamt 203.000 Hektar und 116 Millionen Tonnen CO2 ausmacht. Die EU liegt hinter China (24 Prozent), aber vor Indien (9 Prozent) und den USA (7 Prozent).
“Die Verantwortung, die Europa trägt, liegt in der Einfuhr von Agrarprodukten und Rohstoffen, die den Regenwald in den Anbauländern vernichten”, sagt Muzi. Der Soziologe mit einem Master in International Political Economy von der University of Kent ist auch Mitglied der Expertengruppe der EU-Kommission zum Schutz und zur Wiederherstellung der Wälder der Welt. Mighty Earth kämpft seit fünf Jahren gegen die Entwaldung in der ganzen Welt und hat zusammen mit anderen NGOs in Brüssel darauf hingewirkt, dass die Kommission diesen Gesetzentwurf vorlegt.
Zwischen 2005 und 2017 waren Sojabohnen, Palmöl und Rindfleisch die von der EU importierten Waren, die die größte Abholzung von Tropenwäldern verursachten, gefolgt von Holzwaren, Kakao und Kaffee. Da Europa durch den Konsum dieser Produkte eine Verantwortung trägt, sollte Europa Nachhaltigkeitsstandards für den Import dieser Produkte vorschreiben, führt Muzi aus. “Im Amazonasbecken ist die Viehzucht der schlimmste Feind, vor allem in den größeren Gebieten in Kolumbien und Brasilien”, sagt der 41-jährige Umweltschützer.
Bevor er 2020 zu Mighty Earth stieß, arbeitete Muzi acht Jahre lang als Kampagnen- und Kommunikationsdirektor für den europäischen Verkehrs- und Umweltdachverband Transport and Environment (T&E). Zusammen mit Nicolas Richat führte Muzi 2015 bei dem Dokumentarfilm Frontera Invisible (Unsichtbare Grenze) Regie. Der preisgekrönte Film zeigt die Realität der kolumbianischen Gemeinden, die von bewaffneten Konflikten, Vertreibung und der Eile der Großgrundbesitzer, Palmöl für Europa zu produzieren, betroffen sind. Isabel Cuesta Camacho