der Regierungsbildungs-Trubel seit der Bundestagswahl hat sich etwas gelegt. Robert Habeck kündigte zwar an, dass es über kurz oder lang noch zu Reibereien zwischen SPD, Grünen und FDP kommen wird – ein Knackpunkt wird dabei auch die europäische Vergemeinschaftung von Schulden sein. Am Wochenende machten die Ampel-Sondierer:innen allerdings Pause und treffen sich erst heute zu weiteren Gesprächen.
Umso ereignisreicher war das Wochenende bei unseren Nachbarn. Die Regierungskrise in Österreich ist perfekt, Sebastian Kurz ist – zumindest als Bundeskanzler – zurückgetreten und wird das Steuer an Alexander Schallenberg übergeben. Der ehemalige Außenminister Österreichs ist kein Unbekannter auf der politischen Bühne Europas. Als Chefdiplomat Österreichs verteidigte er stets die harte österreichische Migrationspolitik und auch bei der Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds dürfte Schallenberg voll auf Kurz-Kurs bleiben.
Hoch her ging es am Wochenende auch in Tschechien. Ministerpräsident Andrej Babis und seine Partei ANO haben die Regierungsmehrheit bei der Parlamentswahl verloren. Babis könnte sich allerdings mithilfe des Staatspräsident Milos Zeman im Amt halten. Der liegt seit Sonntag im Krankenhaus und hat sich bisher nicht zu seinen Plänen geäußert.
Im Europe.Table lesen Sie heute außerdem den ersten Teil einer zweiteiligen Reihe zum unterschätzten Gas Methan. Mein Kollege Timo Landenberger analysiert, warum die EU derzeit an einem Legislativvorschlag zur Methanstrategie feilt und wie sich Methanemissionen im Energiesektor einsparen lassen. Meine Kollegin Jasmin Kohl untersucht, was in den acht verschiedenen EU-Parlamentsausschüssen zum Digital Services Act gefordert wird und stellt fest, dass die entscheidenden Kompromisse erst noch gefunden werden müssen.
Jahrelang konzentrierten sich die Klimaschutzbemühungen der Politik auf die Verringerung des Ausstoßes von Kohlendioxid. Methanemissionen hingegen wurden kaum beachtet. Das soll sich ändern. Ende vergangenen Jahres hat die EU-Kommission ihre Methanstrategie als Teil des Green Deals vorgestellt. Diese beinhaltet auch einen Legislativvorschlag, der Mitte Dezember folgen soll.
Methan ist für etwa 30 Prozent des bisherigen globalen Temperaturanstiegs verantwortlich. In der EU macht das Gas zwar nur zehn Prozent aller Treibhausgasemissionen aus. Berechnungen des Weltklimarates zufolge ist es jedoch bis zu 30-mal klimawirksamer als CO₂, zumindest über den üblichen Betrachtungszeitraum von 100 Jahren, wie im Kyoto-Protokoll empfohlen. Aufgrund der kurzen Verweildauer von Methan in der Atmosphäre steigt der Faktor bei einem kürzeren Betrachtungszeitraum erheblich. Auf 20 Jahre gesehen weist das Gas im Vergleich zu CO₂ das 80-fache Treibhauspotenzial auf.
“Und auf die nächsten 20 Jahre kommt es an, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen wollen”, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Jutta Paulus zu Europe.Table. Die Reduktion von Methanemissionen könne einen entscheidenden Teil dazu beitragen. Dem Global Methane Assesment der Vereinten Nationen zufolge ist die Einsparung von 45 Prozent der weltweiten Methanemissionen bis 2030 möglich und würde die Erderwärmung bis 2045 um 0,3 Grad verringern.
Etwa ein Drittel aller Methanemissionen aus menschlichen Aktivitäten entfällt laut Internationaler Energieagentur (IEA) auf die Nutzung fossiler Brennstoffe. In einer jüngst veröffentlichten Studie rechnet die IEA vor, dass davon wiederum etwa 75 Prozent technisch vermeidbar wären. Etwa 45 Prozent aus dem Öl- und Gassektor könnten sogar ohne Nettokosten vermieden werden, da der Wert des aufgefangenen Gases höher sei als die Kosten der Vermeidungsmaßnahme. Angesichts der rekordhohen Erdgaspreise sei dieser Anteil gegenwärtig noch deutlich höher, schreibt die IEA.
Ein Großteil der Emissionen ist auf Leckagen entlang der Produktions- und Lieferkette zurückzuführen, die die Betreiber nicht auffangen oder verhindern können. Als Problem gilt dabei auch, dass Gasnetze in der Regel Monopole sind, die deshalb national geregelten Märkten unterworfen sind. Die Reparatur von Leckagen kann von den Gasnetzbetreibern aber meist nicht als anerkannte Kosten auf die Netzentgelte umgelegt werden und lohnt sich deshalb nicht.
Auch die nach wie vor gängige Praxis des Entgasens (venting), wobei beispielsweise während Wartungsarbeiten an Pipelines das Erdgas aus Kostengründen einfach abgelassen wird, zählt zu den großen Emissionsquellen im Energiebereich. Als Nebenprodukt bei der Erdölforderung bleibt Erdgas ebenfalls häufig ökonomisch ungenutzt und wird mittels venting entsorgt oder verbrannt (flaring), wodurch wiederum große Mengen CO₂ entstehen.
Mit der geplanten Methan-Richtlinie will die EU den Problemen entgegentreten: Investitionen der Netzbetreiber in Methanreduktion sollen von den nationalen Regierungsbehörden anerkannt werden. Verpflichtende Vorgaben für das Aufspüren und Beseitigen von Leckagen in der Gasinfrastruktur sollen eingeführt sowie ein Verbot von venting und flaring im Energiesektor geprüft werden.
Innerhalb der EU entfallen zwar nur 19 Prozent der Methanemissionen auf den Energiebereich. “Als einer der größten Öl- und Gasimporteure der Welt haben wir aber auch international einen Hebel in der Hand”, so Jutta Paulus. In einem Initiativbericht fordert der Umweltausschuss des EU-Parlaments deshalb, die Regelungen auch in Drittstaaten anzuwenden. Demnach soll die Kommission eine Deadline festlegen, ab der ein Energie-Importeur nur noch dann in die EU liefern darf, wenn er die Vorgaben erfüllt. Ab wann das gelten soll, darauf konnte sich der Ausschuss nicht einigen. Die Grünen hatten 2025 gefordert.
Allzu spät sollte die Deadline jedenfalls nicht gelegt werden. Schließlich hat sich die EU vorgenommen, gänzlich aus fossilen Energieträgern auszusteigen, womit sich auch der Hebel gegenüber Importländern erübrigen dürfte. “Der Ausstieg wird aber nicht bis 2030 und vermutlich auch nicht bis 2040 erfolgen”, entgegnet Paulus. “Bis dahin ist das Methan, das wir heute ausstoßen, schon wieder abgebaut.”
Daneben werden internationale Allianzen geschmiedet. So haben die EU und die USA im September den Global Methane Pledge angekündigt, der bei der Weltklimakonferenz Anfang November offiziell auf den Weg gebracht werden soll. Länder, die sich dem Global Methane Pledge anschließen, verpflichten sich zu dem kollektiven Ziel, die Methanemissionen weltweit bis 2030 um mindestens 30 Prozent gegenüber dem Stand von 2020 zu senken.
Die Deutsche Umwelthilfe fordert zusätzlich die Einführung einer Methanabgabe, vergleichbar mit der bestehenden CO₂-Bepreisung. “Erst so werden die notwendigen Anreize für Erdgasunternehmen gesetzt, die klimaschädlichen Leckagen entlang der gesamten Wertschöpfungsketten zu erfassen und zu schließen”, sagt DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. Ein Vorschlag, den Jochen Luhmann vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie für wenig ausgereift hält. Dafür gebe es schlicht zu wenig Informationen über die Emissionsquellen. Schließlich fänden die Förderprozesse der fossilen Energieträger im Wesentlichen in Ländern mit schwacher Staatlichkeit statt.
Auch deshalb soll der Legislativvorschlag der Kommission verpflichtende Vorgaben für die Messung, Berichterstattung und Verifizierung von Methanemissionen enthalten, die auch für Drittstaaten gelten sollen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft begrüßt das Vorhaben, die bestehende Datenbasis zu verbessern. “Die Entwicklung und Einführung von einheitlichen, EU-weiten Standards und Verfahren für Messung und Berichterstattung sind erforderlich, um mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen”, so eine BDEW-Sprecherin.
Im zweiten Teil unserer Reihe lesen Sie am Dienstag, welche Auswirkungen das unterschätzte Gas Methan in der Landwirtschaft und im Abfallsektor hat.
Noch in diesem Jahr könnte der Trilog zwischen EU-Parlament, Kommission und Rat zum “Digital Services Act” (DSA) formal beginnen. Die Kommission hatte ihren Vorschlag im Dezember 2020 vorgelegt. Im Rat schreiten die Verhandlungen zu dem Gesetzesvorhaben, das die Grundregeln für Dienstanbieter und Plattformen im Internet überarbeiten soll, voran: Die slowenische Ratspräsidentschaft hat am 1. Oktober ihren zweiten Kompromissvorschlag präsentiert und will die allgemeine Ausrichtung im Rat für Wettbewerbsfähigkeit (COMPET) am 25. November verabschieden.
Auch aus dem Parlament kommen Signale des Fortschritts: Am 8. November will Berichterstatterin Christel Schaldemose (DK, S&D) ihren Bericht zum “Digital Services Act” (DSA) im federführenden Binnenmarktausschuss (IMCO) abstimmen lassen, sodass die Europaabgeordneten in der Plenarwoche vom 13. bis 16. Dezember ihr grünes Licht für den Trilog geben könnten.
Bisher liegen die Positionen in den Parlamentsausschüssen in wichtigen Fragen allerdings noch auseinander. Das zeigt auch die Rekordzahl der im IMCO eingereichten Änderungsvorschläge: 2297. Darin enthalten sind noch nicht die Forderungen der sieben assoziierten (LIBE, JURI, ITRE) und mitberatenden Ausschüsse (ECON, TRAN, CULT, FEMM).
Wir haben die bereits veröffentlichten Stellungnahmen der Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE); Industrie, Forschung und Energie (ITRE); und Verkehr und Tourismus (TRAN) sowie die Position des Verfassers der Rechtsausschuss (JURI)-Stellungnahme, Geoffroy Didier (FR, EVP) gesichtet. Im Fokus: die Bereiche, in denen noch Kompromisse gefunden werden müssen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Debatte um die Regulierung von Algorithmen hat kürzlich durch die schweren Vorwürfe der Whistleblowerin Frances Haugen gegen Facebook an Fahrt aufgenommen (Europe.Table berichtete). Mit dem Digital Services Act will die Kommission dafür sorgen, dass Online-Plattformen transparenter werden und für sie eine Rechenschaftspflicht schaffen. Diese soll auch für die von den Plattformen eingesetzten Algorithmen gelten. Der LIBE-Ausschuss fordert ein ambitionierteres Vorgehen: Online-Plattformen sollen Algorithmen für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten nur anwenden dürfen, wenn Nutzer:innen ihre ausdrücklichen Einwilligungen dafür gegeben haben.
Für sehr große Online-Plattformen soll eine zusätzliche Vorgabe gelten. Sie sollen Nutzer:innen ermöglichen, sich Informationen ausschließlich in chronologischer Reihenfolge anzeigen zu lassen. So könne die Verbreitung von problematischen Inhalten eingedämmt werden, weil Nutzer:innen selbst bestimmen könnten, welche Informationen in ihren Timelines eingespielt werden.
Der LIBE-Ausschuss fordert, sogenannte zielgerichtete Werbung (verhaltensbasierte und personalisierte Werbung) für nicht-kommerzielle und politische Zwecke zu verbieten und durch kontextbezogene Werbung zu ersetzen. Das soll Nutzer:innen und besonders Minderjährige vor Manipulation schützen. Auch für kommerzielle Zwecke sollte zielgerichtete Werbung nur dann möglich sein, wenn sich die Nutzer:innen frei dafür entschieden haben. Ein indirekter Druck durch sogenannte Dark Patterns oder eine wiederholte Aufforderung zur Einwilligung soll ebenfalls verhindert werden.
Anders als im Kommissionsvorschlag des Digital Services Act vorgesehen (Artikel 3, Absatz 3), will der LIBE-Ausschuss verhindern, dass Vermittlerdienste dazu verpflichtet werden, Inhalte zu entfernen, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie niedergelassen sind, legal sind. Denn gerade bei Mitgliedstaaten mit rechtsstaatlichen Defiziten fürchtet der Ausschuss durch diese Regelung ein negatives Eingreifen über Landesgrenzen hinaus. Somit würden sich innerhalb der EU die repressivsten Gesetze durchsetzen.
Ein Beispiel: Der Webhoster einer ungarischen NGO sitzt in München und bekommt von der ungarischen Regierung die Anordnung, die NGO-Website wegen in Ungarn illegaler Inhalte vom Netz zu nehmen. Nach Kommissionsvorschlag müsste der Webhoster die Anordnung ausführen, auch wenn die Inhalte in Deutschland legal sind.
Der Kommissionsvorschlag für den Digital Services Act (DSA) sieht für sehr große Plattformen besonders strenge Lösch-Pflichten vor (Abschnitt 4). Die Plattformen sollen systemische Risiken wie illegale Inhalte und nachteilige Auswirkungen auf die Grundrechte regelmäßig bewerten und Risiken mindern. Anders als das deutsche NetzDG (Europe.Table berichtete) schreibt der Vorschlag jedoch keine konkreten Fristen für die Löschung illegaler Inhalte vor. Der LIBE-Ausschuss begrüßt diese Regelung, da eine kurze Frist von beispielsweise 72-Stunden eine ordnungsgemäße Prüfung nicht erlaube. Eine so kurze Frist führe entweder dazu, dass illegale Inhalte von den Anbietern durchgewinkt oder zu Unrecht entfernt würden.
Der Berichterstatter im Rechtsausschuss (JURI), Geoffroy Didier, pocht darauf, eine “notice and stay down”-Klausel in Artikel 14 des Gesetzestextes aufzunehmen. Diese soll den Providern erlauben, Mechanismen zu etablieren, die illegale Inhalte dauerhaft blockieren, desaktivieren oder löschen, die identisch oder gleichwertig mit bereits gelöschten illegalen Inhalten sind.
Der LIBE-Berichterstatter Patrick Breyer (Grüne/EFA) sieht das kritisch, denn diese Klausel könnte zu sogenannten fehlerhaften Re-Uploadfiltern führen – Algorithmen, die illegale Inhalte nicht zuverlässig erkennen und dadurch auch legale Inhalte sperren. Die Gefahr des “Overblockings” sei daher zu groß.
Der LIBE-Ausschuss fordert, eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Daten in den Gesetzestext aufzunehmen. Diese verhindere nicht nur den unbefugten Zugriff auf Daten durch Dritte, sie sei auch für das Vertrauen und die Sicherheit im Internet unerlässlich. Das Gegenargument: Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen können auch für illegales Handeln missbraucht werden.
Der JURI-Ausschuss will den Geltungsbereich des Digital Services Act erweitern und auch Suchmaschinen, Streamingdienste und Messenger-Dienste aufnehmen, da auch über sie massenhaft illegale Inhalte verbreitet werden. Diese Dienste sollen daher die gleichen Pflichten wie andere Vermittlerdienste haben (Kapitel 2 des Kommissionsvorschlags). Der Piraten-Politiker Breyer warnt davor, Messenger-Dienste in den Geltungsbereich aufzunehmen, denn um ihrer Kontrollpflicht für illegale Inhalte nachzukommen, müssten sie das Briefgeheimnis brechen. Auch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von privaten Nachrichten würde so unmöglich gemacht.
Der Kommissionsvorschlag sieht bereits vor, Online-Plattformen, bei denen es sich um Klein- und Kleinstunternehmen handelt, nicht allen Verpflichtungen des Gesetzestextes zu unterwerfen (Artikel 16). Doch der ITRE-Ausschuss fordert, den Umfang der Ausnahmen zu erweitern. So sollen etwa einige Berichtspflichten (Artikel 12, 14, 15 und 15b) nicht für Klein- und Kleinstunternehmen gelten. Das Ziel: mehr Flexibilität schaffen und unnötigen bürokratischen Aufwand verringern.
Der TRAN-Ausschuss geht noch einen Schritt weiter und schlägt vor, auch mittelständische Unternehmen von diesen Verpflichtungen auszuklammern.
Der TRAN-Ausschuss bemängelt, dass gemeinschaftliche Online-Plattformen den Beherbergungs- sowie den Transportsektor seit Verabschiedung der E-Commerce-Richtlinie im Jahr 2000 stark umgestaltet haben. Weil die Abgrenzung zwischen Online-Diensten und Offline-Diensten innerhalb dieser zwei Sektoren nicht klar sei, sei es zu verstärkter Rechtsunsicherheit gekommen, besonders bei der Definition von Diensten der Informationsgesellschaft. Der EuGH urteilte, dass Airbnb und die Star Taxi App zu solchen Diensten zählen, Uber jedoch nicht.
Da der Kommissionsvorschlag der Gerichtsinterpretation folgt, fordert der TRAN-Ausschuss einen sektorspezifischen Ansatz für Online-Plattformen im Tourismus- und Transportbereich.
Der TRAN-Ausschuss will, dass die Verantwortung der Plattformbetreiber hinsichtlich der Einhaltung von Registrierungssystemen und anderer sektorspezifischen Regeln wie geltende Übernachtungs-Obergrenzen im Digital Services Act stärker festgeschrieben wird. So sollen Online-Plattformen dafür Sorge tragen, dass nur Unterkünfte mit gültiger Registrierungsnummer zu finden sind. Um illegale Kurzzeitvermietungen zu bekämpfen, will der TRAN-Ausschuss in den Digital Services Act einen freiwilligen Verhaltenskodex für Online-Plattformen, Dienstanbieter und Behörden integrieren.
*Dieser Artikel wurde am 11.10.21 um 11:30 aktualisiert.
Zehntausende Polen demonstrierten am Sonntag für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nach dem Gerichtsurteil, wonach Teile des EU-Rechts mit der Verfassung unvereinbar sind (Europe.Table berichtete), ist die Befürchtung aufgekommen, dass das Land die Union verlassen könnte.
Nach Angaben der Organisatoren fanden die Proteste in über 100 Städten in ganz Polen und in mehreren Städten im Ausland statt. In Warschau schwenkten die Demonstranten polnische und EU-Flaggen und riefen “Wir bleiben”. Zu den Rednern auf den Demonstrationen gehörten Politiker aus der gesamten Opposition, Künstler und Aktivisten.
Donald Tusk, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Rates und jetzt Vorsitzender der größten Oppositionspartei “Bürgerplattform”, sagte, die Politik der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gefährde die Zukunft Polens in Europa: “Wir wissen, warum sie die EU verlassen wollen: Damit sie ungestraft demokratische Regeln verletzen können”, sagte er vor dem Warschauer Königsschloss vor Tausenden Demonstranten. Die PiS beteuert, sie habe keine Pläne für einen “Polexit”.
Der staatliche Fernsehsender TVP, dem Kritiker vorwerfen, dass er sich stark auf die Darstellungen der Regierung konzentriere, zeigte während seiner Berichterstattung über die Ereignisse am Sonntag einen Nachrichtenticker mit der Aufschrift “Protest gegen die Verfassung”. rtr/luk
In Österreich soll nach dem Rückzug von Sebastian Kurz (ÖVP) am Montag der bisherige Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) als neuer Kanzler vereidigt werden. Den Wechsel ins Kanzleramt bezeichnete er als, “enorm herausfordernde Aufgabe”. Zur Regierungsarbeit wollte er sich vorerst nicht äußern. Erst nach seiner Vereidigung wolle er vor die Öffentlichkeit treten, sagte er.
Kurz, der die Korruptionsvorwürfe gegen ihn bestreitet, zieht sich nicht ganz zurück. Er bleibt Parteichef der ÖVP und wird die Fraktion der Konservativen im Parlament anführen. Die Vorsitzende der Sozialdemokraten (SPÖ), Pamela Rendi-Wagner, kritisierte, dass Kurz damit im Hintergrund weiter die Fäden ziehen werde. “Er ist zwar nicht mehr Bundeskanzler, aber Schattenkanzler der Republik Österreich“, sagte die Chefin der größten Oppositionspartei.
Der 52-jährige Schallenberg, der erst seit kurzem ÖVP-Mitglied ist, ist Jurist und Diplomat. Er war viele Jahre im Ausland tätig und leitete etwa die Rechtsabteilung der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU in Brüssel. Zudem war er Pressesprecher der früheren Außenministerin Ursula Plassnik sowie von deren Nachfolger Michael Spindelegger. Das Amt des Außenministers hatte er schon in einer vorübergehenden Beamtenregierung ab Juni 2019 nach dem Ibiza-Skandal inne. Nach der Wahl im Januar 2020 wurde er erneut Außenminister. Schallenberg vertritt ebenso wie Kurz einen harten Migrationskurs. Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos im vergangenen Jahr lehnte der Außenminister eine Aufnahme von Migranten strikt ab. rtr
Die Regierungsbildung in Tschechien könnte durch die Krankheit des Staatspräsidenten Milos Zeman überschattet werden. Der 77-Jährige wurde am Sonntag ins Zentrale Militärkrankenhaus von Prag eingeliefert und liegt dort auf der Intensivstation. Zeman hatte sich vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus noch mit Ministerpräsident Andrej Babis getroffen.
Babis hat bei der Parlamentswahl am Freitag und Samstag knapp seine Regierungsmehrheit verloren. In Führung liegt eine Gruppe mehrerer konservativer und liberaler Oppositionsparteien, die eine Ablösung von Babis und dessen populistischer Partei ANO anstrebt. Eine wichtige Rolle spielt allerdings Staatspräsident Milos Zeman, der laut Verfassung den Ministerpräsidenten ernennt. Er hatte vor der Wahl angekündigt, der stärksten Einzelpartei den Regierungsauftrag erteilen zu wollen. Das war erneut die ANO von Babis, während es sich bei den Oppositionsgruppen um Bündnisse aus mehreren Parteien handelt.
Seit dem Wahlergebnis hat sich Zeman noch nicht zu den nächsten Schritten geäußert und Babis hat bislang keinen Hinweis gegeben, in die Opposition gehen zu wollen. Sollte Zeman – ein Verbündeter von Babis – ihm die Befugnis erteilen, werde er Gespräche zur Bildung eines Kabinetts führen. rtr
Bei den “vertieften Sondierungen” zur Bildung einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP wird es ab Montag auch um die Knackpunkte gehen (Europe.Table berichtete). Grünen-Co-Chef Robert Habeck machte am Wochenende deutlich, dass es noch jede Menge und teils erhebliche Differenzen zwischen den potenziellen Regierungspartnern gibt, vor allem in der Finanzpolitik. “Ich will betonen, bei weitem ist der Drops nicht gelutscht. Wir haben einen langen Weg zu gehen, und das wird noch sehr anstrengend werden“, sagte Habeck dem Deutschlandfunk.
Die Öffentlichkeit werde noch erleben, dass es Konflikte bei den Ampel-Sondierungen gebe. “Also, es gibt erkennbare Differenzen zwischen uns und vielleicht auch der SPD und der FDP beim Thema Finanzen. Und Finanzen heißt nicht nur Haushalt, sondern auch die investiven Möglichkeiten für den Klimaschutz bereitzustellen.” Dies mache auch vor Europa keinen Halt, so Habeck: “Die Corona-Krise hat alle europäische Länder in die Verschuldung getrieben. Wenn man sie zwingt, diese Schulden, wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen, über eine sehr strenge Schuldenregel zurückzuzahlen, dann wird es südeuropäischen Ländern nur mit massiven Kürzungen im Sozialbudget gelingen.”
FDP-Generalsekretär Volker Wissing sagte der “Bild am Sonntag”, die Liberalen seien zu keinerlei Zugeständnissen bei Steuererhöhungen und der Schuldenbremse bereit. “Alle Gesprächspartner kennen unsere Forderungen: keine Steuererhöhungen und kein Aufweichen der Schuldenbremse. Daran halten wir fest. Schulden schaffen keine Zukunft.”
Diese Woche sind für Montag, Dienstag und Freitag Ampel-Sondierungen geplant. Danach könnte die Entscheidung fallen, ob offizielle Koalitionsverhandlungen folgen. Einen klaren Zeitplan dafür gibt es bislang aber nicht. rtr
Wir haben es uns zu bequem gemacht. In den vergangenen Jahren war Deutschland kein Schrittmacher der Digitalisierung – im Gegenteil. Wir haben zugesehen, wie andere das Tempo vorgaben: Big Player wie die USA und China, aber auch kleine Länder wie Dänemark oder der Stadtstaat Singapur, machen uns vor, wie Digitalisierung geht. Das müssen und das können wir ändern. Und der anstehende Regierungswechsel im Bund ist die beste Gelegenheit, sich aus der Lethargie zu befreien und einen digitalen Aufbruch anzustoßen.
Die neue Regierungskoalition steht vor der Aufgabe, die Digitalisierung besser, mutiger und entschiedener voranzutreiben. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein mächtiges Werkzeug, um Wachstum und Wohlstand langfristig zu sichern und den Klimawandel aufzuhalten. Das ist kein Entweder-oder, sondern ein klares Sowohl-als-auch: Wir brauchen digitale Technologien, um unsere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Und wir brauchen eine völlig neue Politik, um diese Transformationsprozesse erfolgreich zu gestalten.
Was die Digitalisierung betrifft, müssen politisch künftig alle Fäden an einer Stelle zusammenlaufen. Die neue Regierung sollte ein eigenständiges und starkes Digitalministerium einrichten, das mit allen Rechten und Ressourcen ausgestattet ist, um die Digitalpolitik zu koordinieren und konzertieren. Zugleich muss dieses Digitalministerium alle anderen Ressorts effektiv darin unterstützen, ihre eigenen Digitalisierungsbemühungen zu verstärken.
Deshalb braucht ein Digitalministerium Federführung bei digitalpolitischen Kernprojekten sowie echte Koordinierungsrechte gegenüber anderen Ressorts. Dazu gehört auch eine zeitgemäße Auslegung des Ressortprinzips. Nur so ist eine echte interministerielle Kooperation sichergestellt und werden Blockaden verhindert. Dieser Veränderungsprozess verdient und braucht die Aufmerksamkeit des Bundeskanzleramts und ausreichend finanzielle Mittel aus dem Bundeshaushalt.
Neben Klimazielen und Nachhaltigkeit steht die kommende Legislatur im Zeichen von drei weiteren Herausforderungen:
Wenn wir unsere Digitalpolitik an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit, Teilhabe, Souveränität und Resilienz ausrichten, ist das zugleich die beste Wirtschafts- und Klimapolitik. Die Digitalisierung ist kein verzichtbares Extra, sie ist ein unbedingtes Muss. Jetzt sind wir alle gefragt, diesen digitalen Aufbruch zu gestalten.
Bühne frei für Runde drei. Zum dritten Mal in drei Jahren buhlen drei oder mehr Kandidat:innen um den Vorsitz der CDU. Diesmal gehen wohl ins Rennen: Friedrich Merz, Jens Spahn, Norbert Röttgen. Und der Überraschungsgast auf dieser Bühne: Der wiedergewählte Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Ralph Brinkhaus. Sie alle glauben, die Partei erneuern zu können und scheinen die Schuld für das Wahldebakel nicht bei sich selbst zu sehen.
Zeitgleich werden die Rufe lauter, das ganze Parteipräsidium solle zurücktreten, da dessen Mitglieder mitverantwortlich für die Schlappe bei der Bundestagswahl seien. Und da befinden wir uns schon mitten in der nächsten Zwickmühle: Drei der vier oben genannten potenziellen Kandidaten für den Parteivorsitz sind Mitglieder in ebenjenem Präsidium.
Einzig Friedrich Merz hätte nach dieser Definition eine weiße Weste. Doch ob der 65-Jährige tatsächlich zum Symbol für die Erneuerung der Partei werden kann, für die er vor über 30 Jahren schon im EU-Parlament saß, vor 27 Jahren im Bundestag und deren Fraktionsvorsitzender er vor über 20 Jahren schon war? Schwer vorstellbar. Lukas Scheid
der Regierungsbildungs-Trubel seit der Bundestagswahl hat sich etwas gelegt. Robert Habeck kündigte zwar an, dass es über kurz oder lang noch zu Reibereien zwischen SPD, Grünen und FDP kommen wird – ein Knackpunkt wird dabei auch die europäische Vergemeinschaftung von Schulden sein. Am Wochenende machten die Ampel-Sondierer:innen allerdings Pause und treffen sich erst heute zu weiteren Gesprächen.
Umso ereignisreicher war das Wochenende bei unseren Nachbarn. Die Regierungskrise in Österreich ist perfekt, Sebastian Kurz ist – zumindest als Bundeskanzler – zurückgetreten und wird das Steuer an Alexander Schallenberg übergeben. Der ehemalige Außenminister Österreichs ist kein Unbekannter auf der politischen Bühne Europas. Als Chefdiplomat Österreichs verteidigte er stets die harte österreichische Migrationspolitik und auch bei der Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds dürfte Schallenberg voll auf Kurz-Kurs bleiben.
Hoch her ging es am Wochenende auch in Tschechien. Ministerpräsident Andrej Babis und seine Partei ANO haben die Regierungsmehrheit bei der Parlamentswahl verloren. Babis könnte sich allerdings mithilfe des Staatspräsident Milos Zeman im Amt halten. Der liegt seit Sonntag im Krankenhaus und hat sich bisher nicht zu seinen Plänen geäußert.
Im Europe.Table lesen Sie heute außerdem den ersten Teil einer zweiteiligen Reihe zum unterschätzten Gas Methan. Mein Kollege Timo Landenberger analysiert, warum die EU derzeit an einem Legislativvorschlag zur Methanstrategie feilt und wie sich Methanemissionen im Energiesektor einsparen lassen. Meine Kollegin Jasmin Kohl untersucht, was in den acht verschiedenen EU-Parlamentsausschüssen zum Digital Services Act gefordert wird und stellt fest, dass die entscheidenden Kompromisse erst noch gefunden werden müssen.
Jahrelang konzentrierten sich die Klimaschutzbemühungen der Politik auf die Verringerung des Ausstoßes von Kohlendioxid. Methanemissionen hingegen wurden kaum beachtet. Das soll sich ändern. Ende vergangenen Jahres hat die EU-Kommission ihre Methanstrategie als Teil des Green Deals vorgestellt. Diese beinhaltet auch einen Legislativvorschlag, der Mitte Dezember folgen soll.
Methan ist für etwa 30 Prozent des bisherigen globalen Temperaturanstiegs verantwortlich. In der EU macht das Gas zwar nur zehn Prozent aller Treibhausgasemissionen aus. Berechnungen des Weltklimarates zufolge ist es jedoch bis zu 30-mal klimawirksamer als CO₂, zumindest über den üblichen Betrachtungszeitraum von 100 Jahren, wie im Kyoto-Protokoll empfohlen. Aufgrund der kurzen Verweildauer von Methan in der Atmosphäre steigt der Faktor bei einem kürzeren Betrachtungszeitraum erheblich. Auf 20 Jahre gesehen weist das Gas im Vergleich zu CO₂ das 80-fache Treibhauspotenzial auf.
“Und auf die nächsten 20 Jahre kommt es an, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen wollen”, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Jutta Paulus zu Europe.Table. Die Reduktion von Methanemissionen könne einen entscheidenden Teil dazu beitragen. Dem Global Methane Assesment der Vereinten Nationen zufolge ist die Einsparung von 45 Prozent der weltweiten Methanemissionen bis 2030 möglich und würde die Erderwärmung bis 2045 um 0,3 Grad verringern.
Etwa ein Drittel aller Methanemissionen aus menschlichen Aktivitäten entfällt laut Internationaler Energieagentur (IEA) auf die Nutzung fossiler Brennstoffe. In einer jüngst veröffentlichten Studie rechnet die IEA vor, dass davon wiederum etwa 75 Prozent technisch vermeidbar wären. Etwa 45 Prozent aus dem Öl- und Gassektor könnten sogar ohne Nettokosten vermieden werden, da der Wert des aufgefangenen Gases höher sei als die Kosten der Vermeidungsmaßnahme. Angesichts der rekordhohen Erdgaspreise sei dieser Anteil gegenwärtig noch deutlich höher, schreibt die IEA.
Ein Großteil der Emissionen ist auf Leckagen entlang der Produktions- und Lieferkette zurückzuführen, die die Betreiber nicht auffangen oder verhindern können. Als Problem gilt dabei auch, dass Gasnetze in der Regel Monopole sind, die deshalb national geregelten Märkten unterworfen sind. Die Reparatur von Leckagen kann von den Gasnetzbetreibern aber meist nicht als anerkannte Kosten auf die Netzentgelte umgelegt werden und lohnt sich deshalb nicht.
Auch die nach wie vor gängige Praxis des Entgasens (venting), wobei beispielsweise während Wartungsarbeiten an Pipelines das Erdgas aus Kostengründen einfach abgelassen wird, zählt zu den großen Emissionsquellen im Energiebereich. Als Nebenprodukt bei der Erdölforderung bleibt Erdgas ebenfalls häufig ökonomisch ungenutzt und wird mittels venting entsorgt oder verbrannt (flaring), wodurch wiederum große Mengen CO₂ entstehen.
Mit der geplanten Methan-Richtlinie will die EU den Problemen entgegentreten: Investitionen der Netzbetreiber in Methanreduktion sollen von den nationalen Regierungsbehörden anerkannt werden. Verpflichtende Vorgaben für das Aufspüren und Beseitigen von Leckagen in der Gasinfrastruktur sollen eingeführt sowie ein Verbot von venting und flaring im Energiesektor geprüft werden.
Innerhalb der EU entfallen zwar nur 19 Prozent der Methanemissionen auf den Energiebereich. “Als einer der größten Öl- und Gasimporteure der Welt haben wir aber auch international einen Hebel in der Hand”, so Jutta Paulus. In einem Initiativbericht fordert der Umweltausschuss des EU-Parlaments deshalb, die Regelungen auch in Drittstaaten anzuwenden. Demnach soll die Kommission eine Deadline festlegen, ab der ein Energie-Importeur nur noch dann in die EU liefern darf, wenn er die Vorgaben erfüllt. Ab wann das gelten soll, darauf konnte sich der Ausschuss nicht einigen. Die Grünen hatten 2025 gefordert.
Allzu spät sollte die Deadline jedenfalls nicht gelegt werden. Schließlich hat sich die EU vorgenommen, gänzlich aus fossilen Energieträgern auszusteigen, womit sich auch der Hebel gegenüber Importländern erübrigen dürfte. “Der Ausstieg wird aber nicht bis 2030 und vermutlich auch nicht bis 2040 erfolgen”, entgegnet Paulus. “Bis dahin ist das Methan, das wir heute ausstoßen, schon wieder abgebaut.”
Daneben werden internationale Allianzen geschmiedet. So haben die EU und die USA im September den Global Methane Pledge angekündigt, der bei der Weltklimakonferenz Anfang November offiziell auf den Weg gebracht werden soll. Länder, die sich dem Global Methane Pledge anschließen, verpflichten sich zu dem kollektiven Ziel, die Methanemissionen weltweit bis 2030 um mindestens 30 Prozent gegenüber dem Stand von 2020 zu senken.
Die Deutsche Umwelthilfe fordert zusätzlich die Einführung einer Methanabgabe, vergleichbar mit der bestehenden CO₂-Bepreisung. “Erst so werden die notwendigen Anreize für Erdgasunternehmen gesetzt, die klimaschädlichen Leckagen entlang der gesamten Wertschöpfungsketten zu erfassen und zu schließen”, sagt DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. Ein Vorschlag, den Jochen Luhmann vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie für wenig ausgereift hält. Dafür gebe es schlicht zu wenig Informationen über die Emissionsquellen. Schließlich fänden die Förderprozesse der fossilen Energieträger im Wesentlichen in Ländern mit schwacher Staatlichkeit statt.
Auch deshalb soll der Legislativvorschlag der Kommission verpflichtende Vorgaben für die Messung, Berichterstattung und Verifizierung von Methanemissionen enthalten, die auch für Drittstaaten gelten sollen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft begrüßt das Vorhaben, die bestehende Datenbasis zu verbessern. “Die Entwicklung und Einführung von einheitlichen, EU-weiten Standards und Verfahren für Messung und Berichterstattung sind erforderlich, um mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen”, so eine BDEW-Sprecherin.
Im zweiten Teil unserer Reihe lesen Sie am Dienstag, welche Auswirkungen das unterschätzte Gas Methan in der Landwirtschaft und im Abfallsektor hat.
Noch in diesem Jahr könnte der Trilog zwischen EU-Parlament, Kommission und Rat zum “Digital Services Act” (DSA) formal beginnen. Die Kommission hatte ihren Vorschlag im Dezember 2020 vorgelegt. Im Rat schreiten die Verhandlungen zu dem Gesetzesvorhaben, das die Grundregeln für Dienstanbieter und Plattformen im Internet überarbeiten soll, voran: Die slowenische Ratspräsidentschaft hat am 1. Oktober ihren zweiten Kompromissvorschlag präsentiert und will die allgemeine Ausrichtung im Rat für Wettbewerbsfähigkeit (COMPET) am 25. November verabschieden.
Auch aus dem Parlament kommen Signale des Fortschritts: Am 8. November will Berichterstatterin Christel Schaldemose (DK, S&D) ihren Bericht zum “Digital Services Act” (DSA) im federführenden Binnenmarktausschuss (IMCO) abstimmen lassen, sodass die Europaabgeordneten in der Plenarwoche vom 13. bis 16. Dezember ihr grünes Licht für den Trilog geben könnten.
Bisher liegen die Positionen in den Parlamentsausschüssen in wichtigen Fragen allerdings noch auseinander. Das zeigt auch die Rekordzahl der im IMCO eingereichten Änderungsvorschläge: 2297. Darin enthalten sind noch nicht die Forderungen der sieben assoziierten (LIBE, JURI, ITRE) und mitberatenden Ausschüsse (ECON, TRAN, CULT, FEMM).
Wir haben die bereits veröffentlichten Stellungnahmen der Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE); Industrie, Forschung und Energie (ITRE); und Verkehr und Tourismus (TRAN) sowie die Position des Verfassers der Rechtsausschuss (JURI)-Stellungnahme, Geoffroy Didier (FR, EVP) gesichtet. Im Fokus: die Bereiche, in denen noch Kompromisse gefunden werden müssen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Debatte um die Regulierung von Algorithmen hat kürzlich durch die schweren Vorwürfe der Whistleblowerin Frances Haugen gegen Facebook an Fahrt aufgenommen (Europe.Table berichtete). Mit dem Digital Services Act will die Kommission dafür sorgen, dass Online-Plattformen transparenter werden und für sie eine Rechenschaftspflicht schaffen. Diese soll auch für die von den Plattformen eingesetzten Algorithmen gelten. Der LIBE-Ausschuss fordert ein ambitionierteres Vorgehen: Online-Plattformen sollen Algorithmen für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten nur anwenden dürfen, wenn Nutzer:innen ihre ausdrücklichen Einwilligungen dafür gegeben haben.
Für sehr große Online-Plattformen soll eine zusätzliche Vorgabe gelten. Sie sollen Nutzer:innen ermöglichen, sich Informationen ausschließlich in chronologischer Reihenfolge anzeigen zu lassen. So könne die Verbreitung von problematischen Inhalten eingedämmt werden, weil Nutzer:innen selbst bestimmen könnten, welche Informationen in ihren Timelines eingespielt werden.
Der LIBE-Ausschuss fordert, sogenannte zielgerichtete Werbung (verhaltensbasierte und personalisierte Werbung) für nicht-kommerzielle und politische Zwecke zu verbieten und durch kontextbezogene Werbung zu ersetzen. Das soll Nutzer:innen und besonders Minderjährige vor Manipulation schützen. Auch für kommerzielle Zwecke sollte zielgerichtete Werbung nur dann möglich sein, wenn sich die Nutzer:innen frei dafür entschieden haben. Ein indirekter Druck durch sogenannte Dark Patterns oder eine wiederholte Aufforderung zur Einwilligung soll ebenfalls verhindert werden.
Anders als im Kommissionsvorschlag des Digital Services Act vorgesehen (Artikel 3, Absatz 3), will der LIBE-Ausschuss verhindern, dass Vermittlerdienste dazu verpflichtet werden, Inhalte zu entfernen, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie niedergelassen sind, legal sind. Denn gerade bei Mitgliedstaaten mit rechtsstaatlichen Defiziten fürchtet der Ausschuss durch diese Regelung ein negatives Eingreifen über Landesgrenzen hinaus. Somit würden sich innerhalb der EU die repressivsten Gesetze durchsetzen.
Ein Beispiel: Der Webhoster einer ungarischen NGO sitzt in München und bekommt von der ungarischen Regierung die Anordnung, die NGO-Website wegen in Ungarn illegaler Inhalte vom Netz zu nehmen. Nach Kommissionsvorschlag müsste der Webhoster die Anordnung ausführen, auch wenn die Inhalte in Deutschland legal sind.
Der Kommissionsvorschlag für den Digital Services Act (DSA) sieht für sehr große Plattformen besonders strenge Lösch-Pflichten vor (Abschnitt 4). Die Plattformen sollen systemische Risiken wie illegale Inhalte und nachteilige Auswirkungen auf die Grundrechte regelmäßig bewerten und Risiken mindern. Anders als das deutsche NetzDG (Europe.Table berichtete) schreibt der Vorschlag jedoch keine konkreten Fristen für die Löschung illegaler Inhalte vor. Der LIBE-Ausschuss begrüßt diese Regelung, da eine kurze Frist von beispielsweise 72-Stunden eine ordnungsgemäße Prüfung nicht erlaube. Eine so kurze Frist führe entweder dazu, dass illegale Inhalte von den Anbietern durchgewinkt oder zu Unrecht entfernt würden.
Der Berichterstatter im Rechtsausschuss (JURI), Geoffroy Didier, pocht darauf, eine “notice and stay down”-Klausel in Artikel 14 des Gesetzestextes aufzunehmen. Diese soll den Providern erlauben, Mechanismen zu etablieren, die illegale Inhalte dauerhaft blockieren, desaktivieren oder löschen, die identisch oder gleichwertig mit bereits gelöschten illegalen Inhalten sind.
Der LIBE-Berichterstatter Patrick Breyer (Grüne/EFA) sieht das kritisch, denn diese Klausel könnte zu sogenannten fehlerhaften Re-Uploadfiltern führen – Algorithmen, die illegale Inhalte nicht zuverlässig erkennen und dadurch auch legale Inhalte sperren. Die Gefahr des “Overblockings” sei daher zu groß.
Der LIBE-Ausschuss fordert, eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Daten in den Gesetzestext aufzunehmen. Diese verhindere nicht nur den unbefugten Zugriff auf Daten durch Dritte, sie sei auch für das Vertrauen und die Sicherheit im Internet unerlässlich. Das Gegenargument: Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen können auch für illegales Handeln missbraucht werden.
Der JURI-Ausschuss will den Geltungsbereich des Digital Services Act erweitern und auch Suchmaschinen, Streamingdienste und Messenger-Dienste aufnehmen, da auch über sie massenhaft illegale Inhalte verbreitet werden. Diese Dienste sollen daher die gleichen Pflichten wie andere Vermittlerdienste haben (Kapitel 2 des Kommissionsvorschlags). Der Piraten-Politiker Breyer warnt davor, Messenger-Dienste in den Geltungsbereich aufzunehmen, denn um ihrer Kontrollpflicht für illegale Inhalte nachzukommen, müssten sie das Briefgeheimnis brechen. Auch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von privaten Nachrichten würde so unmöglich gemacht.
Der Kommissionsvorschlag sieht bereits vor, Online-Plattformen, bei denen es sich um Klein- und Kleinstunternehmen handelt, nicht allen Verpflichtungen des Gesetzestextes zu unterwerfen (Artikel 16). Doch der ITRE-Ausschuss fordert, den Umfang der Ausnahmen zu erweitern. So sollen etwa einige Berichtspflichten (Artikel 12, 14, 15 und 15b) nicht für Klein- und Kleinstunternehmen gelten. Das Ziel: mehr Flexibilität schaffen und unnötigen bürokratischen Aufwand verringern.
Der TRAN-Ausschuss geht noch einen Schritt weiter und schlägt vor, auch mittelständische Unternehmen von diesen Verpflichtungen auszuklammern.
Der TRAN-Ausschuss bemängelt, dass gemeinschaftliche Online-Plattformen den Beherbergungs- sowie den Transportsektor seit Verabschiedung der E-Commerce-Richtlinie im Jahr 2000 stark umgestaltet haben. Weil die Abgrenzung zwischen Online-Diensten und Offline-Diensten innerhalb dieser zwei Sektoren nicht klar sei, sei es zu verstärkter Rechtsunsicherheit gekommen, besonders bei der Definition von Diensten der Informationsgesellschaft. Der EuGH urteilte, dass Airbnb und die Star Taxi App zu solchen Diensten zählen, Uber jedoch nicht.
Da der Kommissionsvorschlag der Gerichtsinterpretation folgt, fordert der TRAN-Ausschuss einen sektorspezifischen Ansatz für Online-Plattformen im Tourismus- und Transportbereich.
Der TRAN-Ausschuss will, dass die Verantwortung der Plattformbetreiber hinsichtlich der Einhaltung von Registrierungssystemen und anderer sektorspezifischen Regeln wie geltende Übernachtungs-Obergrenzen im Digital Services Act stärker festgeschrieben wird. So sollen Online-Plattformen dafür Sorge tragen, dass nur Unterkünfte mit gültiger Registrierungsnummer zu finden sind. Um illegale Kurzzeitvermietungen zu bekämpfen, will der TRAN-Ausschuss in den Digital Services Act einen freiwilligen Verhaltenskodex für Online-Plattformen, Dienstanbieter und Behörden integrieren.
*Dieser Artikel wurde am 11.10.21 um 11:30 aktualisiert.
Zehntausende Polen demonstrierten am Sonntag für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nach dem Gerichtsurteil, wonach Teile des EU-Rechts mit der Verfassung unvereinbar sind (Europe.Table berichtete), ist die Befürchtung aufgekommen, dass das Land die Union verlassen könnte.
Nach Angaben der Organisatoren fanden die Proteste in über 100 Städten in ganz Polen und in mehreren Städten im Ausland statt. In Warschau schwenkten die Demonstranten polnische und EU-Flaggen und riefen “Wir bleiben”. Zu den Rednern auf den Demonstrationen gehörten Politiker aus der gesamten Opposition, Künstler und Aktivisten.
Donald Tusk, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Rates und jetzt Vorsitzender der größten Oppositionspartei “Bürgerplattform”, sagte, die Politik der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gefährde die Zukunft Polens in Europa: “Wir wissen, warum sie die EU verlassen wollen: Damit sie ungestraft demokratische Regeln verletzen können”, sagte er vor dem Warschauer Königsschloss vor Tausenden Demonstranten. Die PiS beteuert, sie habe keine Pläne für einen “Polexit”.
Der staatliche Fernsehsender TVP, dem Kritiker vorwerfen, dass er sich stark auf die Darstellungen der Regierung konzentriere, zeigte während seiner Berichterstattung über die Ereignisse am Sonntag einen Nachrichtenticker mit der Aufschrift “Protest gegen die Verfassung”. rtr/luk
In Österreich soll nach dem Rückzug von Sebastian Kurz (ÖVP) am Montag der bisherige Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) als neuer Kanzler vereidigt werden. Den Wechsel ins Kanzleramt bezeichnete er als, “enorm herausfordernde Aufgabe”. Zur Regierungsarbeit wollte er sich vorerst nicht äußern. Erst nach seiner Vereidigung wolle er vor die Öffentlichkeit treten, sagte er.
Kurz, der die Korruptionsvorwürfe gegen ihn bestreitet, zieht sich nicht ganz zurück. Er bleibt Parteichef der ÖVP und wird die Fraktion der Konservativen im Parlament anführen. Die Vorsitzende der Sozialdemokraten (SPÖ), Pamela Rendi-Wagner, kritisierte, dass Kurz damit im Hintergrund weiter die Fäden ziehen werde. “Er ist zwar nicht mehr Bundeskanzler, aber Schattenkanzler der Republik Österreich“, sagte die Chefin der größten Oppositionspartei.
Der 52-jährige Schallenberg, der erst seit kurzem ÖVP-Mitglied ist, ist Jurist und Diplomat. Er war viele Jahre im Ausland tätig und leitete etwa die Rechtsabteilung der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU in Brüssel. Zudem war er Pressesprecher der früheren Außenministerin Ursula Plassnik sowie von deren Nachfolger Michael Spindelegger. Das Amt des Außenministers hatte er schon in einer vorübergehenden Beamtenregierung ab Juni 2019 nach dem Ibiza-Skandal inne. Nach der Wahl im Januar 2020 wurde er erneut Außenminister. Schallenberg vertritt ebenso wie Kurz einen harten Migrationskurs. Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos im vergangenen Jahr lehnte der Außenminister eine Aufnahme von Migranten strikt ab. rtr
Die Regierungsbildung in Tschechien könnte durch die Krankheit des Staatspräsidenten Milos Zeman überschattet werden. Der 77-Jährige wurde am Sonntag ins Zentrale Militärkrankenhaus von Prag eingeliefert und liegt dort auf der Intensivstation. Zeman hatte sich vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus noch mit Ministerpräsident Andrej Babis getroffen.
Babis hat bei der Parlamentswahl am Freitag und Samstag knapp seine Regierungsmehrheit verloren. In Führung liegt eine Gruppe mehrerer konservativer und liberaler Oppositionsparteien, die eine Ablösung von Babis und dessen populistischer Partei ANO anstrebt. Eine wichtige Rolle spielt allerdings Staatspräsident Milos Zeman, der laut Verfassung den Ministerpräsidenten ernennt. Er hatte vor der Wahl angekündigt, der stärksten Einzelpartei den Regierungsauftrag erteilen zu wollen. Das war erneut die ANO von Babis, während es sich bei den Oppositionsgruppen um Bündnisse aus mehreren Parteien handelt.
Seit dem Wahlergebnis hat sich Zeman noch nicht zu den nächsten Schritten geäußert und Babis hat bislang keinen Hinweis gegeben, in die Opposition gehen zu wollen. Sollte Zeman – ein Verbündeter von Babis – ihm die Befugnis erteilen, werde er Gespräche zur Bildung eines Kabinetts führen. rtr
Bei den “vertieften Sondierungen” zur Bildung einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP wird es ab Montag auch um die Knackpunkte gehen (Europe.Table berichtete). Grünen-Co-Chef Robert Habeck machte am Wochenende deutlich, dass es noch jede Menge und teils erhebliche Differenzen zwischen den potenziellen Regierungspartnern gibt, vor allem in der Finanzpolitik. “Ich will betonen, bei weitem ist der Drops nicht gelutscht. Wir haben einen langen Weg zu gehen, und das wird noch sehr anstrengend werden“, sagte Habeck dem Deutschlandfunk.
Die Öffentlichkeit werde noch erleben, dass es Konflikte bei den Ampel-Sondierungen gebe. “Also, es gibt erkennbare Differenzen zwischen uns und vielleicht auch der SPD und der FDP beim Thema Finanzen. Und Finanzen heißt nicht nur Haushalt, sondern auch die investiven Möglichkeiten für den Klimaschutz bereitzustellen.” Dies mache auch vor Europa keinen Halt, so Habeck: “Die Corona-Krise hat alle europäische Länder in die Verschuldung getrieben. Wenn man sie zwingt, diese Schulden, wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen, über eine sehr strenge Schuldenregel zurückzuzahlen, dann wird es südeuropäischen Ländern nur mit massiven Kürzungen im Sozialbudget gelingen.”
FDP-Generalsekretär Volker Wissing sagte der “Bild am Sonntag”, die Liberalen seien zu keinerlei Zugeständnissen bei Steuererhöhungen und der Schuldenbremse bereit. “Alle Gesprächspartner kennen unsere Forderungen: keine Steuererhöhungen und kein Aufweichen der Schuldenbremse. Daran halten wir fest. Schulden schaffen keine Zukunft.”
Diese Woche sind für Montag, Dienstag und Freitag Ampel-Sondierungen geplant. Danach könnte die Entscheidung fallen, ob offizielle Koalitionsverhandlungen folgen. Einen klaren Zeitplan dafür gibt es bislang aber nicht. rtr
Wir haben es uns zu bequem gemacht. In den vergangenen Jahren war Deutschland kein Schrittmacher der Digitalisierung – im Gegenteil. Wir haben zugesehen, wie andere das Tempo vorgaben: Big Player wie die USA und China, aber auch kleine Länder wie Dänemark oder der Stadtstaat Singapur, machen uns vor, wie Digitalisierung geht. Das müssen und das können wir ändern. Und der anstehende Regierungswechsel im Bund ist die beste Gelegenheit, sich aus der Lethargie zu befreien und einen digitalen Aufbruch anzustoßen.
Die neue Regierungskoalition steht vor der Aufgabe, die Digitalisierung besser, mutiger und entschiedener voranzutreiben. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein mächtiges Werkzeug, um Wachstum und Wohlstand langfristig zu sichern und den Klimawandel aufzuhalten. Das ist kein Entweder-oder, sondern ein klares Sowohl-als-auch: Wir brauchen digitale Technologien, um unsere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Und wir brauchen eine völlig neue Politik, um diese Transformationsprozesse erfolgreich zu gestalten.
Was die Digitalisierung betrifft, müssen politisch künftig alle Fäden an einer Stelle zusammenlaufen. Die neue Regierung sollte ein eigenständiges und starkes Digitalministerium einrichten, das mit allen Rechten und Ressourcen ausgestattet ist, um die Digitalpolitik zu koordinieren und konzertieren. Zugleich muss dieses Digitalministerium alle anderen Ressorts effektiv darin unterstützen, ihre eigenen Digitalisierungsbemühungen zu verstärken.
Deshalb braucht ein Digitalministerium Federführung bei digitalpolitischen Kernprojekten sowie echte Koordinierungsrechte gegenüber anderen Ressorts. Dazu gehört auch eine zeitgemäße Auslegung des Ressortprinzips. Nur so ist eine echte interministerielle Kooperation sichergestellt und werden Blockaden verhindert. Dieser Veränderungsprozess verdient und braucht die Aufmerksamkeit des Bundeskanzleramts und ausreichend finanzielle Mittel aus dem Bundeshaushalt.
Neben Klimazielen und Nachhaltigkeit steht die kommende Legislatur im Zeichen von drei weiteren Herausforderungen:
Wenn wir unsere Digitalpolitik an den Grundsätzen der Nachhaltigkeit, Teilhabe, Souveränität und Resilienz ausrichten, ist das zugleich die beste Wirtschafts- und Klimapolitik. Die Digitalisierung ist kein verzichtbares Extra, sie ist ein unbedingtes Muss. Jetzt sind wir alle gefragt, diesen digitalen Aufbruch zu gestalten.
Bühne frei für Runde drei. Zum dritten Mal in drei Jahren buhlen drei oder mehr Kandidat:innen um den Vorsitz der CDU. Diesmal gehen wohl ins Rennen: Friedrich Merz, Jens Spahn, Norbert Röttgen. Und der Überraschungsgast auf dieser Bühne: Der wiedergewählte Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Ralph Brinkhaus. Sie alle glauben, die Partei erneuern zu können und scheinen die Schuld für das Wahldebakel nicht bei sich selbst zu sehen.
Zeitgleich werden die Rufe lauter, das ganze Parteipräsidium solle zurücktreten, da dessen Mitglieder mitverantwortlich für die Schlappe bei der Bundestagswahl seien. Und da befinden wir uns schon mitten in der nächsten Zwickmühle: Drei der vier oben genannten potenziellen Kandidaten für den Parteivorsitz sind Mitglieder in ebenjenem Präsidium.
Einzig Friedrich Merz hätte nach dieser Definition eine weiße Weste. Doch ob der 65-Jährige tatsächlich zum Symbol für die Erneuerung der Partei werden kann, für die er vor über 30 Jahren schon im EU-Parlament saß, vor 27 Jahren im Bundestag und deren Fraktionsvorsitzender er vor über 20 Jahren schon war? Schwer vorstellbar. Lukas Scheid