der Befund ernüchtert: In weniger als zwanzig Jahren wird die Menschheit so viel Treibhausgas ausgestoßen haben, dass die Erderwärmung die 1,5-Grad-Marke erreicht. Daran führt kaum noch ein Weg vorbei, wie der neueste Bericht des Weltklimarates aufzeigt. Jetzt gehe es darum, (noch) Schlimmeres zu verhindern – durch eine sofortige, schnelle und weitreichende Reduktion der Emissionen. Auch die EU müsse bei ihren Green-Deal-Plänen noch nachlegen, fordern Umweltpolitiker.
Schlimmeres verhindern will auch der Digital Services Act – und zwar eine weitere Verrohung der Debattenkultur im Netz. Die Brüsseler Regulierer schicken sich aber an, Fehler ihrer Berliner Kollegen aus dem NetzDG zu wiederholen, analysiert Hendrik Wieduwilt: Sie hecheln der Realität auf den Plattformen schon hinterher, bevor die Pläne überhaupt Gesetz geworden sind.
Angesichts des neuen Berichts des Weltklimarats (IPCC) fordern Vertreter von CDU und Grünen Nachbesserungen am “Fit for 55“-Paket der EU-Kommission. “Wir sollten die Vorschläge der Kommission an der einen oder anderen Stelle noch nachschärfen”, sagte Peter Liese, umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament, Europe.Table. Michael Bloss, umweltpolitischer Sprecher der Grünen, forderte: “Wir müssen alles tun, um das Best-Case-Szenario des IPCC-Berichts zu erreichen.”
Am Montag hat der IPCC den ersten Teil seines sechsten Sachstandsberichts veröffentlicht. Demnach belegen eine Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen immer deutlicher den menschengemachten Klimawandel und den Zusammenhang mit Extremwetterereignissen. Im ersten Teil des insgesamt dreiteiligen IPCC-Reports, der in seiner vollständigen Fassung im kommenden Jahr erwartet wird, geht es um die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels.
Viele der durch den Klimawandel verursachten Veränderungen sind dem Bericht zufolge über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar und haben weitreichende Folgen. Die globale Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter könnte die 1,5 Grad schon in den nächsten 20 Jahren und die 2 Grad bis 2060 überschreiten.
Das hätte zur Folge, dass die Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, Starkniederschlägen und Dürren weiter zunimmt, warnen die Experten. Für Europa werden vor allem eine Zunahme heftiger Niederschläge und damit zusammenhängende Flutkatastrophen prognostiziert.
Der Bericht nennt verschiedene Szenarien für die Erderwärmung, die je nach Emissionsmengen in bestimmten Zeiträumen eintreten könnten. Tritt das Szenario mit den niedrigsten Treibhausgasemissionen ein, erreicht die globale Erwärmung maximal 1,6 Grad und könnte bereits nach 2060 wieder sinken.
“Wenn die Welt die Emissionen in den 2020er-Jahren substanziell senken kann und bis 2050 netto kein CO2 mehr ausstößt, können wir den Temperaturanstieg noch auf 1,5 Grad begrenzen”, sagte Piers Forster, einer der Autoren des Berichts. Doch ohne sofortige, schnelle und weitreichende Reduktion der Emissionen sei eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 oder auch 2 Grad “außer Reichweite”, warnt der Bericht.
Möglich ist, dass es sogar noch schlimmer kommt: Das Worst-Case-Szenario bildet das obere Ende der Skala ab, die die Wissenschaftler bei extrem hohen Treibhausgas-Emissionen für am wahrscheinlichsten halten. Danach könnte die globale Erwärmung bis 2040 auf 1,9 Grad, bis 2060 auf 3 Grad und bis 2100 auf bis zu 5,7 Grad ansteigen.
Das im Pariser Klimaabkommen verankerte Ziel, die Erderwärmung auf weniger als 2 Grad und möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zu vorindustriellem Niveau zu begrenzen, ist also von zentraler Bedeutung, um die Folgen des Klimawandels zu minimieren. Im November steht in Glasgow erneut ein Klimagipfel (COP26) an, dem ähnlich viel Bedeutung beigemessen wird wie dem Gipfel 2015 in Paris. Zumal sich hinsichtlich der dort beschlossenen Ziele in den vergangenen Jahren noch nicht sehr viel getan hat.
Laut dem IPCC-Bericht darf die Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch weitere 300 Gigatonnen CO2 ausstoßen, bis die 1,5-Grad-Erwärmung erreicht ist. Bei derzeit rund 40 Gigatonnen globaler Emissionen pro Jahr wäre das Budget ohne einschneidende Veränderungen demnach Anfang der 2030er-Jahre aufgebraucht.
Die Erkenntnisse zeigen laut Liese, dass sich jede eingesparte Tonne CO2 lohne. “Wir sollten die Vorschläge der Kommission jetzt möglichst schnell in der EU beschließen und zudem dafür sorgen, dass uns andere Länder folgen”, forderte der CDU-Politiker. Dafür brauche es einen europäischen Klimagesandten, der sich um die internationalen Verhandlungen kümmere. Der für den Green Deal zuständige Kommissionsvize Frans Timmermans fülle “diese Aufgabe bislang nicht aus”.
Konkret schlägt der CDU-Politiker zudem einige Nachbesserungen an den Kommissionsvorschlägen des “Fit for 55”-Pakets vor. So könne die Schifffahrt früher als 2027 ins europäische Emissionshandelssystem einbezogen werden. “Zudem sollten wir prüfen, die Ziele für die Senkenleistung von Wäldern und Mooren noch etwas anzuheben”, so Liese. Nach dem Kommissionsvorschlag zur LULUCF-Verordnung sollen in der EU ab 2026 Kohlenstoffsenken von 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent geschaffen werden.
Grünen-Vertreter Bloss fordert noch weitergehende Nachbesserungen. Das “Fit for 55”-Paket reiche nicht aus, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, sagte er. Konkret fordert Bloss, den Kohleausstieg und das Ende des Verbrennermotors auf 2030 vorzuziehen. Um das effektiv zu erreichen, strebt Bloss einen Mindestpreis pro Tonne CO2 von 65 Euro im ETS an.
Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält dagegen: Das europäische Klimagesetz sei “vollkommen kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel”. Die angestrebten Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 stünden damit im Einklang. “Die 55 Prozent der EU bis 2030 sollte man eher danach bewerten, ob der Pfad zu den 100 Prozent nach 2030 nicht sehr steil wird. Aber so kurzfristig von 40 auf 55 Prozent zu springen ist, schon extrem anspruchsvoll.” Timo Landenberger/Lukas Scheid
Der “Digital Services Act” ist nach der Datenschutzgrundverordnung die zweite europäische Großtat mit globalem Geltungsanspruch und wesentlicher Teil des Gesamtkonzepts für Europas digitalen Rechtsrahmen der Zukunft. Er soll Plattformgiganten zügeln, Schutzraum für Diskurse schaffen, Recht durchsetzen. Er wird schon jetzt als Grundgesetz für das Internet bezeichnet. Anders als das deutsche Grundgesetz ist dieses Werk allerdings sehr umfangreich, umfasst 122 dicht beschriebene Seiten. Und der DSA soll von den Fehlern des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) lernen, das ist ihm anzusehen. Doch wie beim deutschen Vorgänger gibt es damit Probleme.
Kern der Idee: Online-Plattformen sollen EU-weit festgelegte Verfahren für die Streitschlichtung über Inhalte einhalten (Abschnitt 3). Über diese neue außergerichtliche Streitbeilegung wacht dann ein neuer “Koordinator für digitale Dienste”. Mit diesem Konzept will die Kommission das Dilemma eines Staatenbundes lösen, der kulturell unterschiedlichen Staaten ein gemeinsames Regelungsregime für Kommunikation geben möchte. Rechtswidrige Inhalte sollen Folgen haben, zuerst einmal unmittelbar auf den Plattformen. Hierfür sind Meldemechanismen vorgesehen – bis hin zu besonders privilegierte Meldern (trusted flagger).
Die Plattformen sollen aber nicht nur einzelne beanstandete Inhalte, sondern auch Nutzer durch Sperren sanktionieren (Artikel 20), wenn sie etwa häufig mit illegalen Inhalten erwischt werden oder andere Nutzer böswillig wegmelden wollen. Letzteres kennzeichnet das Bemühen der Kommission, keine Anreize für systematisches Zuviellöschen (Overblocking) zu setzen – ein Unterschied zum NetzDG. Außerdem müssen sie die Auseinandersetzung sichtbarer machen: Transparenzberichte müssen Informationen über Zahl, Dauer und Ergebnisse der Streitbeilegung geben (Artikel 23). Ein weiterer Unterschied zum NetzDG: Wie viel Personal sie einsetzen, müssen die Unternehmen nicht offenlegen.
Plattformgiganten (“sehr große Plattformen”) sollen besonders strenge Pflichten schultern (Abschnitt 4). Dazu gehört die regelmäßige Bewertung systemischer Risiken: illegale Inhalte, nachteilige Auswirkungen auf Grundrechte (Privat- und Familienleben, Meinungs- und Informationsfreiheit, Diskriminierungsverbot und Kinderrechte; Artikel 26). Gegebenenfalls müssen sie diese Risiken mindern (Artikel 27). Das ist neu. Lobenswert aus Grundrechtesicht: Diese Bewertung muss auch mögliches Overblocking in den Blick nehmen.
Doch es gibt auch grundlegende Unterschiede: Anders als das NetzDG setzt der DSA den Plattformen keine konkreten Fristen. Das NetzDG fordert etwa offensichtlich rechtswidrige Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Das liegt, so klingt es bei der Kommission durch, daran, dass diese deutsche Regelung von Beginn an hochumstritten war.
Denn die Praxis der Plattformen zeigt, dass sie aufgrund der nach NetzDG drohenden Sanktionen nicht nur einen kleinen, sondern den ganz überwiegenden Teil der Beschwerden innerhalb dieser kurzen Frist behandeln. Im Fall des letzten Facebook-Transparenzberichts (PDF) sind es 1031 Sperrungen/Löschungen von 1117 Beschwerden, bei Youtube (Bericht) Google (PDF) sind es ebenfalls etwa 80 und 90 Prozent der Inhalte.
Gemein ist NetzDG und DSA, dass beide Gesetze an der Rechtswirklichkeit vorbeiregulieren. Das liegt an zwei grundsätzlichen Erbfehlern des NetzDG:
Für Plattformen sind die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten mit ihren individuellen Kulturen schwer handhabbar. Sie wickeln den Paragrafen-Mix daher in eine Art juristisches Dämmmaterial: Ihre “Community-Standards”, also die Hausregeln. Diese sind deutlich schwammiger ausgestaltet und das gewährt den Plattformen Spielräume.
Dabei agieren die Plattformen praktisch im Gleichschritt. Das zeigte kürzlich eine Studie unter der Leitung von Marc Liesching, Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig). Auf Basis der Evaluierungsberichte kamen Liesching und sein Team zu dem Schluss, dass wir über die Effektivität des NetzDG nur wenig wissen können.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) schürte kürzlich Hoffnungen auf Transparenz: “Nach dem Vorschlag für den Digital Services Act (DSA) müssen die Plattformen sich klare, unmissverständliche Kommunikationsregeln geben und diese objektiv und verhältnismäßig anwenden – anders als die heutigen oft intransparent angewandten ‘Community Standards'”, schrieb sie in der “Zeit”.
Die Ministerin irrt womöglich: Mit dem DSA wird es nicht unbedingt besser, meint Liesching. “Der Digital Services Act könnte zum Teil an der Realität vorbeilaufen“, attestiert der Jurist. Der DSA könnte genauso ins Leere regulieren wie das NetzDG, weil die Plattformen auf Basis der Community Standards aktiv löschten, noch bevor überhaupt Beschwerden eingehen.
Der DSA ist allerdings nicht komplett blind, was die Gemeinschaftsregeln angeht. Artikel 12 macht für Nutzungsbedingungen Vorgaben: “Say what you do and do what you say” – die Plattformen müssen transparent und konsequent handeln, was ihre Hausregeln angeht. Zudem: Wenn “systemische Risiken” auftreten, könnte die Kommission zusammen mit den Koordinatoren auf eine Anpassung drängen.
Hier könnte die EU-Kommission jetzt noch einmal nachschärfen. Doch bereits der jetzige Regelungsvorschlag reibt sich an den EU-Grundrechten. Wenn die Kommission bei der Gestaltung der Hausregeln Druck ausübt, betrifft das einerseits die Grundrechte der Plattformen, vor allem deren Berufs- und Vertragsfreiheit.
Deren Bedeutung hat in Deutschland gerade erst der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Hassrede unterstrichen (Urteile vom 29. Juli 2021 – III ZR 179/20 und III ZR 192/20). Zugleich ist auch die Meinungsfreiheit der Nutzer betroffen. Denn die heutigen Hausregeln der Plattformen schneiden schließlich teils tiefer in die faktische Kommunikationsfreiheit ein als das Recht, verbieten etwa Nacktheit.
Der zweite Erbfehler betrifft die Art, wie rechtswidrige Inhalte entdeckt werden sollen. Sowohl NetzDG als auch DSA unterschätzen systematisch die Automatisierung.
Beide beziehen sich auf Beschwerden. Doch tatsächlich, das zeigen die Transparenzberichte etwa von Facebook, wird ein wachsender Teil der Inhalte automatisch gemeldet und sanktioniert. “Erst seit 2020 haben große Plattformen bei der Content Moderation auf KI gesetzt”, sagt der Rechtswissenschaftler Liesching. Youtube gibt für das erste Quartal 2021 an, dass es über neun Millionen Videos automatisch entfernt hat – und etwa 360 000 aufgrund von Nutzerbeschwerden, 114 000 durch “trusted flagger”.
So lässt sich etwa erklären, dass der legendäre “Titanic”-Titel “Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?” gerade zum wiederholten Mal zur zeitweisen Sperre gegen den früheren “Titanic”-Chefredakteur Martin Sonneborn auf Facebook führte. Doch wie der DSA mit der gleichzeitig in Arbeit befindlichen KI-Verordnung der EU zusammengehen soll, die genau solche Moderationsmechanismen ebenfalls regulieren wird, ist derzeit offen.
Und was passiert, wenn DSA und NetzDG zusammenwirken? Wie viel von der deutschen Regelung übrig bleibe, lasse sich schwer sagen, meint Liesching. Hier kommt es auf die konkrete Normkollision an – das gilt auch für die 24-Stunden-Frist. Vielleicht ist auch hier die Wirklichkeit schneller als der Gesetzgeber: Nach Klagen von Facebook und Google gegen das NetzDG könnte die Regelung schon bald Geschichte sein, glaubt Liesching. Das Verwaltungsgericht könnte den Streit dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Ob die noch vor der DSA-Verabschiedung entscheiden, hängt auch von der Verhandlungsgeschwindigkeit in Brüssel ab. Hendrik Wieduwilt
Mit Blick auf die verheerenden Waldbrände im Mittelmeerraum hat EU-Krisenkommissar Janez Lenarčič mehr Gewicht für den EU-Zivilschutz gefordert. Die Krisenreaktionsfähigkeit auf europäischer Ebene müsse priorisiert werden, sagte der aus Slowenien stammende Lenarčič am Montag. Bei den Löscheinsätzen handele es sich um eine der “größten gemeinsamen Brandbekämpfungsoperationen jemals“, so Lenarčič weiter – mit mehreren Bränden in mehreren Staaten gleichzeitig.
Der Krisenreaktionsmechanismus funktioniert dabei bislang als freiwilliger transnationaler Pool, koordiniert vom Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen: Die Mitgliedstaaten benennen Fähigkeiten und Kapazitäten, die sie für die weltweite Krisenreaktion zur Verfügung stellen wollen. Anschließend werden diese zertifiziert. Wenn die Einheiten dann benötigt werden, übernimmt die EU bis zu 75 Prozent der Kosten des Einsatzes. Für Waldbrandbekämpfung wurden Anfang 2021 elf Löschflugzeuge und sechs Helikopter von den Mitgliedstaaten zertifiziert.
3,1 Milliarden Euro sollen im Zeitraum von 2021 bis 2027 für die Zivilschutzmaßnahmen als Budget zur Verfügung stehen. Damit sollen künftig auch dauerhaft und verbindlich zur Verfügung stehende Kapazitäten wie Löschflugzeuge oder medizinische Notfallausrüstung bezahlt werden.
Vor allem Griechenland und Italien sind zurzeit stark betroffen. Fast 1000 Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer aus den unterschiedlichen Mitgliedstaaten sind allein in Griechenland als Unterstützung eingetroffen, dazu neun Löschflugzeuge und knapp 200 Feuerwehrfahrzeuge. Auch Albanien und Nordmazedonien haben über den EU-eigenen Krisenmechanismus Hilfestellung erhalten, obwohl sie keine Mitgliedstaaten sind. fst
Die EU-Kommission überarbeitet derzeit die Chemikalien-Gesetzgebung und hat nun eine öffentliche Konsultation gestartet. Dabei geht es um die Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von chemischen Stoffen und Gemischen (“CLP-Verordnung”). Bis zum 15. November haben Stakeholder Zeit, ihre Stellungnahmen einzureichen.
Die CLP-Verordnung setzt das global harmonisierte System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS) in der EU um. Die Kommission erwägt, im Rahmen der Revision unter anderem neue Gefahrenklassen einzuführen. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) warnte aber davor, vom globalen System abzuweichen: “Es ist von größtem Interesse für die Industrie, die erreichte Harmonisierung zu erhalten“, sagte ein Sprecher. Die Schutzziele der europäischen Chemikalienpolitik ließen sich auch im Rahmen des bestehenden Rechts erreichen. tho
Die Freude am Bauen und Selbermachen, die sei ihm seit seiner Kindheit geblieben, sagt Paul Nemitz.
Die Weichen in der EU-Digitalpolitik stellen offiziell andere. Nemitz berät dabei, wann in welche Richtung welcher Zug fahren sollte, wie schnell und mit welchem Ziel.
Seit April 2017 ist der 59-Jährige Hauptberater für Rechtspolitik in der Generaldirektion Justiz und Verbraucher der Europäischen Kommission. Als Gastprofessor lehrt er außerdem Recht am Europakolleg in Brügge. Dass man als Jurist keineswegs nur Gesetze interpretieren, sondern auch selbst den Weg beeinflussen kann, wenn es die Umstände ermöglichen, das ist Nemitz früh klar geworden.
Der überzeugte Sozialdemokrat und Europäer hat in seinem Berufsleben unterschiedliche Funktionen in unterschiedlichen Generaldirektionen ausgeübt und dabei Gemeinsamkeiten erkannt: “‘Man lebt sein Leben vorwärts, man versteht es rückwärts’, hat Kierkegaard mal gesagt. Aus jeder Tätigkeit nimmt man nützliches Wissen mit und sieht, dass die Muster der Politikentwicklung in unterschiedlichsten Bereichen immer sehr ähnlich sind.”
Nemitz leitete die Reform des Datenschutzrechts in der EU und die Verhandlungen mit den USA für die vorerst letzte Vereinbarung zum transatlantischen Datentransfer, die 2020 vom Europäischen Gerichtshof als nicht ausreichend verworfen wurde. Was Nemitz nicht überrascht haben dürfte. Doch mehr war in den Verhandlungen mit den USA auch für ihn nicht drin.
Der interne Hauptberaterposten in der Justizdirektion – ein eher ruhiger Karriereausklang? Das würde nicht zu ihm passen. Auf seinem LinkedIn-Profil strahlt Nemitz den Betrachter mit Pilotenmütze aus einem Cockpit an. Vor Flügen, erzählt er, schaue er immer ins Cockpit hinein. Für das Foto durfte er sogar ganz vorne Platz nehmen. “Ich habe so eine gewisse Jungsfantasie von Technik, das ist so eine naive, oberflächliche Faszination.” Dennoch – oder gerade deshalb – warnt er vor den Gefahren neuer Techniken für die Demokratie, wenn man sie unreguliert lässt.
“Das Neue an der KI ist, dass sie eine Gateway-Technologie in die Hirne der Menschen ist. Sie ermöglicht es, Menschen sehr genau zu verstehen und zu imitieren”, sagt Nemitz. Programme, die mit KI funktionierten, hätten das Potenzial, “ganze Gesellschaften zu täuschen”. Gefährlich werden könnten “Staaten, große Konzerne oder auch Kriminelle”. Das will Nemitz so gut es geht verhindern.
Mit 13 Expert:innen, unter anderem aus Harvard und Stanford, hat er im Juni anlässlich des Besuchs von US-Präsident Joe Biden in Brüssel das “Manifesto In Defence of Democracy and the Rule of Law in the Age of Artificial Intelligence” veröffentlicht. 432 Seiten widmet er der Künstlichen Intelligenz in seinem 2020 erschienenen Buch “Prinzip Mensch”, das er mit dem Journalisten Matthias Pfeffer geschrieben hat.
Die EU-Kommission hat im April ihren Vorschlag zur Regulierung der Künstlichen Intelligenz auf den Weg gebracht, der auch auf seinen Überlegungen basiert. Paul Nemitz hat die Hoffnung, dass europäische Verordnungen auch Nicht-EU-Länder beeinflussen können. “Wir sehen immer mehr in China und in Amerika Gesetzgebung, die sich an unserem Modell orientiert. Und ich glaube, in Amerika unter Biden gibt es eine viel positivere Einstellung zu Europa.” Der “Antagonismus”, der lange zwischen der EU und den USA auch vor Trump bestanden habe, sei zu Ende.
Das Manifest vom Juni wurde etwa 30.000 Mal heruntergeladen. Diese Downloadzahlen dürften die Klickzahlen des Songs “Amok – Original Mix” auf Spotify bald überschreiten. Es ist ein Stück der Hamburger Disco-Punk-Band “Ledernacken”, bei der Nemitz zu Studienzeiten Keyboard spielte. Sound und Text sind derb, Sänger, Bass und Synthesizer-Sound drängen sich in den Vordergrund. Paul Nemitz am Keyboard hört man eher leise heraus. Gabriel Bub
Manche Länder zählen Medaillen. Andere zählen, wie viele Athleten sie überhaupt zu den Olympischen Spielen schicken dürfen. Für ein kleines Land wie Luxemburg sind ein Dutzend Teilnehmer in Tokio schon ein Erfolg.
Die Leistung der Sportler vor dem Bildschirm verfolgen und mitfiebern? Meist unmöglich. Es sei denn, man findet den einen Streaming-Anbieter, der auch die ersten Runden der Wettkämpfe überträgt. Denn danach heißt es für Luxemburg meistens: die Show von der Zuschauerbank aus verfolgen.
Doch in diesem Jahr war das anders. Ein Luxemburger hat es ins Finale des 1500-Meter-Laufs geschafft. Bereits das Erreichen des Halbfinales war eine Sensation: Politiker googelten fiebrig, wer denn dieser Charles Grethen ist, bevor sie von Nationalstolz gespickte Nachrichten in die sozialen Medien schickten. Am Ende verfolgte ein ganzes Land an den Bildschirmen, wie Grethen auf Platz 12 ins Ziel läuft. “Lëtz make it happen” – das Regierungsmotto zur nationalen Imagekampagne greift also manchmal doch. Charlotte Wirth
der Befund ernüchtert: In weniger als zwanzig Jahren wird die Menschheit so viel Treibhausgas ausgestoßen haben, dass die Erderwärmung die 1,5-Grad-Marke erreicht. Daran führt kaum noch ein Weg vorbei, wie der neueste Bericht des Weltklimarates aufzeigt. Jetzt gehe es darum, (noch) Schlimmeres zu verhindern – durch eine sofortige, schnelle und weitreichende Reduktion der Emissionen. Auch die EU müsse bei ihren Green-Deal-Plänen noch nachlegen, fordern Umweltpolitiker.
Schlimmeres verhindern will auch der Digital Services Act – und zwar eine weitere Verrohung der Debattenkultur im Netz. Die Brüsseler Regulierer schicken sich aber an, Fehler ihrer Berliner Kollegen aus dem NetzDG zu wiederholen, analysiert Hendrik Wieduwilt: Sie hecheln der Realität auf den Plattformen schon hinterher, bevor die Pläne überhaupt Gesetz geworden sind.
Angesichts des neuen Berichts des Weltklimarats (IPCC) fordern Vertreter von CDU und Grünen Nachbesserungen am “Fit for 55“-Paket der EU-Kommission. “Wir sollten die Vorschläge der Kommission an der einen oder anderen Stelle noch nachschärfen”, sagte Peter Liese, umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament, Europe.Table. Michael Bloss, umweltpolitischer Sprecher der Grünen, forderte: “Wir müssen alles tun, um das Best-Case-Szenario des IPCC-Berichts zu erreichen.”
Am Montag hat der IPCC den ersten Teil seines sechsten Sachstandsberichts veröffentlicht. Demnach belegen eine Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen immer deutlicher den menschengemachten Klimawandel und den Zusammenhang mit Extremwetterereignissen. Im ersten Teil des insgesamt dreiteiligen IPCC-Reports, der in seiner vollständigen Fassung im kommenden Jahr erwartet wird, geht es um die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels.
Viele der durch den Klimawandel verursachten Veränderungen sind dem Bericht zufolge über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar und haben weitreichende Folgen. Die globale Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter könnte die 1,5 Grad schon in den nächsten 20 Jahren und die 2 Grad bis 2060 überschreiten.
Das hätte zur Folge, dass die Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, Starkniederschlägen und Dürren weiter zunimmt, warnen die Experten. Für Europa werden vor allem eine Zunahme heftiger Niederschläge und damit zusammenhängende Flutkatastrophen prognostiziert.
Der Bericht nennt verschiedene Szenarien für die Erderwärmung, die je nach Emissionsmengen in bestimmten Zeiträumen eintreten könnten. Tritt das Szenario mit den niedrigsten Treibhausgasemissionen ein, erreicht die globale Erwärmung maximal 1,6 Grad und könnte bereits nach 2060 wieder sinken.
“Wenn die Welt die Emissionen in den 2020er-Jahren substanziell senken kann und bis 2050 netto kein CO2 mehr ausstößt, können wir den Temperaturanstieg noch auf 1,5 Grad begrenzen”, sagte Piers Forster, einer der Autoren des Berichts. Doch ohne sofortige, schnelle und weitreichende Reduktion der Emissionen sei eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 oder auch 2 Grad “außer Reichweite”, warnt der Bericht.
Möglich ist, dass es sogar noch schlimmer kommt: Das Worst-Case-Szenario bildet das obere Ende der Skala ab, die die Wissenschaftler bei extrem hohen Treibhausgas-Emissionen für am wahrscheinlichsten halten. Danach könnte die globale Erwärmung bis 2040 auf 1,9 Grad, bis 2060 auf 3 Grad und bis 2100 auf bis zu 5,7 Grad ansteigen.
Das im Pariser Klimaabkommen verankerte Ziel, die Erderwärmung auf weniger als 2 Grad und möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zu vorindustriellem Niveau zu begrenzen, ist also von zentraler Bedeutung, um die Folgen des Klimawandels zu minimieren. Im November steht in Glasgow erneut ein Klimagipfel (COP26) an, dem ähnlich viel Bedeutung beigemessen wird wie dem Gipfel 2015 in Paris. Zumal sich hinsichtlich der dort beschlossenen Ziele in den vergangenen Jahren noch nicht sehr viel getan hat.
Laut dem IPCC-Bericht darf die Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch weitere 300 Gigatonnen CO2 ausstoßen, bis die 1,5-Grad-Erwärmung erreicht ist. Bei derzeit rund 40 Gigatonnen globaler Emissionen pro Jahr wäre das Budget ohne einschneidende Veränderungen demnach Anfang der 2030er-Jahre aufgebraucht.
Die Erkenntnisse zeigen laut Liese, dass sich jede eingesparte Tonne CO2 lohne. “Wir sollten die Vorschläge der Kommission jetzt möglichst schnell in der EU beschließen und zudem dafür sorgen, dass uns andere Länder folgen”, forderte der CDU-Politiker. Dafür brauche es einen europäischen Klimagesandten, der sich um die internationalen Verhandlungen kümmere. Der für den Green Deal zuständige Kommissionsvize Frans Timmermans fülle “diese Aufgabe bislang nicht aus”.
Konkret schlägt der CDU-Politiker zudem einige Nachbesserungen an den Kommissionsvorschlägen des “Fit for 55”-Pakets vor. So könne die Schifffahrt früher als 2027 ins europäische Emissionshandelssystem einbezogen werden. “Zudem sollten wir prüfen, die Ziele für die Senkenleistung von Wäldern und Mooren noch etwas anzuheben”, so Liese. Nach dem Kommissionsvorschlag zur LULUCF-Verordnung sollen in der EU ab 2026 Kohlenstoffsenken von 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent geschaffen werden.
Grünen-Vertreter Bloss fordert noch weitergehende Nachbesserungen. Das “Fit for 55”-Paket reiche nicht aus, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, sagte er. Konkret fordert Bloss, den Kohleausstieg und das Ende des Verbrennermotors auf 2030 vorzuziehen. Um das effektiv zu erreichen, strebt Bloss einen Mindestpreis pro Tonne CO2 von 65 Euro im ETS an.
Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält dagegen: Das europäische Klimagesetz sei “vollkommen kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel”. Die angestrebten Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 stünden damit im Einklang. “Die 55 Prozent der EU bis 2030 sollte man eher danach bewerten, ob der Pfad zu den 100 Prozent nach 2030 nicht sehr steil wird. Aber so kurzfristig von 40 auf 55 Prozent zu springen ist, schon extrem anspruchsvoll.” Timo Landenberger/Lukas Scheid
Der “Digital Services Act” ist nach der Datenschutzgrundverordnung die zweite europäische Großtat mit globalem Geltungsanspruch und wesentlicher Teil des Gesamtkonzepts für Europas digitalen Rechtsrahmen der Zukunft. Er soll Plattformgiganten zügeln, Schutzraum für Diskurse schaffen, Recht durchsetzen. Er wird schon jetzt als Grundgesetz für das Internet bezeichnet. Anders als das deutsche Grundgesetz ist dieses Werk allerdings sehr umfangreich, umfasst 122 dicht beschriebene Seiten. Und der DSA soll von den Fehlern des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) lernen, das ist ihm anzusehen. Doch wie beim deutschen Vorgänger gibt es damit Probleme.
Kern der Idee: Online-Plattformen sollen EU-weit festgelegte Verfahren für die Streitschlichtung über Inhalte einhalten (Abschnitt 3). Über diese neue außergerichtliche Streitbeilegung wacht dann ein neuer “Koordinator für digitale Dienste”. Mit diesem Konzept will die Kommission das Dilemma eines Staatenbundes lösen, der kulturell unterschiedlichen Staaten ein gemeinsames Regelungsregime für Kommunikation geben möchte. Rechtswidrige Inhalte sollen Folgen haben, zuerst einmal unmittelbar auf den Plattformen. Hierfür sind Meldemechanismen vorgesehen – bis hin zu besonders privilegierte Meldern (trusted flagger).
Die Plattformen sollen aber nicht nur einzelne beanstandete Inhalte, sondern auch Nutzer durch Sperren sanktionieren (Artikel 20), wenn sie etwa häufig mit illegalen Inhalten erwischt werden oder andere Nutzer böswillig wegmelden wollen. Letzteres kennzeichnet das Bemühen der Kommission, keine Anreize für systematisches Zuviellöschen (Overblocking) zu setzen – ein Unterschied zum NetzDG. Außerdem müssen sie die Auseinandersetzung sichtbarer machen: Transparenzberichte müssen Informationen über Zahl, Dauer und Ergebnisse der Streitbeilegung geben (Artikel 23). Ein weiterer Unterschied zum NetzDG: Wie viel Personal sie einsetzen, müssen die Unternehmen nicht offenlegen.
Plattformgiganten (“sehr große Plattformen”) sollen besonders strenge Pflichten schultern (Abschnitt 4). Dazu gehört die regelmäßige Bewertung systemischer Risiken: illegale Inhalte, nachteilige Auswirkungen auf Grundrechte (Privat- und Familienleben, Meinungs- und Informationsfreiheit, Diskriminierungsverbot und Kinderrechte; Artikel 26). Gegebenenfalls müssen sie diese Risiken mindern (Artikel 27). Das ist neu. Lobenswert aus Grundrechtesicht: Diese Bewertung muss auch mögliches Overblocking in den Blick nehmen.
Doch es gibt auch grundlegende Unterschiede: Anders als das NetzDG setzt der DSA den Plattformen keine konkreten Fristen. Das NetzDG fordert etwa offensichtlich rechtswidrige Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Das liegt, so klingt es bei der Kommission durch, daran, dass diese deutsche Regelung von Beginn an hochumstritten war.
Denn die Praxis der Plattformen zeigt, dass sie aufgrund der nach NetzDG drohenden Sanktionen nicht nur einen kleinen, sondern den ganz überwiegenden Teil der Beschwerden innerhalb dieser kurzen Frist behandeln. Im Fall des letzten Facebook-Transparenzberichts (PDF) sind es 1031 Sperrungen/Löschungen von 1117 Beschwerden, bei Youtube (Bericht) Google (PDF) sind es ebenfalls etwa 80 und 90 Prozent der Inhalte.
Gemein ist NetzDG und DSA, dass beide Gesetze an der Rechtswirklichkeit vorbeiregulieren. Das liegt an zwei grundsätzlichen Erbfehlern des NetzDG:
Für Plattformen sind die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten mit ihren individuellen Kulturen schwer handhabbar. Sie wickeln den Paragrafen-Mix daher in eine Art juristisches Dämmmaterial: Ihre “Community-Standards”, also die Hausregeln. Diese sind deutlich schwammiger ausgestaltet und das gewährt den Plattformen Spielräume.
Dabei agieren die Plattformen praktisch im Gleichschritt. Das zeigte kürzlich eine Studie unter der Leitung von Marc Liesching, Professor für Medienrecht und Medientheorie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig). Auf Basis der Evaluierungsberichte kamen Liesching und sein Team zu dem Schluss, dass wir über die Effektivität des NetzDG nur wenig wissen können.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) schürte kürzlich Hoffnungen auf Transparenz: “Nach dem Vorschlag für den Digital Services Act (DSA) müssen die Plattformen sich klare, unmissverständliche Kommunikationsregeln geben und diese objektiv und verhältnismäßig anwenden – anders als die heutigen oft intransparent angewandten ‘Community Standards'”, schrieb sie in der “Zeit”.
Die Ministerin irrt womöglich: Mit dem DSA wird es nicht unbedingt besser, meint Liesching. “Der Digital Services Act könnte zum Teil an der Realität vorbeilaufen“, attestiert der Jurist. Der DSA könnte genauso ins Leere regulieren wie das NetzDG, weil die Plattformen auf Basis der Community Standards aktiv löschten, noch bevor überhaupt Beschwerden eingehen.
Der DSA ist allerdings nicht komplett blind, was die Gemeinschaftsregeln angeht. Artikel 12 macht für Nutzungsbedingungen Vorgaben: “Say what you do and do what you say” – die Plattformen müssen transparent und konsequent handeln, was ihre Hausregeln angeht. Zudem: Wenn “systemische Risiken” auftreten, könnte die Kommission zusammen mit den Koordinatoren auf eine Anpassung drängen.
Hier könnte die EU-Kommission jetzt noch einmal nachschärfen. Doch bereits der jetzige Regelungsvorschlag reibt sich an den EU-Grundrechten. Wenn die Kommission bei der Gestaltung der Hausregeln Druck ausübt, betrifft das einerseits die Grundrechte der Plattformen, vor allem deren Berufs- und Vertragsfreiheit.
Deren Bedeutung hat in Deutschland gerade erst der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Hassrede unterstrichen (Urteile vom 29. Juli 2021 – III ZR 179/20 und III ZR 192/20). Zugleich ist auch die Meinungsfreiheit der Nutzer betroffen. Denn die heutigen Hausregeln der Plattformen schneiden schließlich teils tiefer in die faktische Kommunikationsfreiheit ein als das Recht, verbieten etwa Nacktheit.
Der zweite Erbfehler betrifft die Art, wie rechtswidrige Inhalte entdeckt werden sollen. Sowohl NetzDG als auch DSA unterschätzen systematisch die Automatisierung.
Beide beziehen sich auf Beschwerden. Doch tatsächlich, das zeigen die Transparenzberichte etwa von Facebook, wird ein wachsender Teil der Inhalte automatisch gemeldet und sanktioniert. “Erst seit 2020 haben große Plattformen bei der Content Moderation auf KI gesetzt”, sagt der Rechtswissenschaftler Liesching. Youtube gibt für das erste Quartal 2021 an, dass es über neun Millionen Videos automatisch entfernt hat – und etwa 360 000 aufgrund von Nutzerbeschwerden, 114 000 durch “trusted flagger”.
So lässt sich etwa erklären, dass der legendäre “Titanic”-Titel “Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?” gerade zum wiederholten Mal zur zeitweisen Sperre gegen den früheren “Titanic”-Chefredakteur Martin Sonneborn auf Facebook führte. Doch wie der DSA mit der gleichzeitig in Arbeit befindlichen KI-Verordnung der EU zusammengehen soll, die genau solche Moderationsmechanismen ebenfalls regulieren wird, ist derzeit offen.
Und was passiert, wenn DSA und NetzDG zusammenwirken? Wie viel von der deutschen Regelung übrig bleibe, lasse sich schwer sagen, meint Liesching. Hier kommt es auf die konkrete Normkollision an – das gilt auch für die 24-Stunden-Frist. Vielleicht ist auch hier die Wirklichkeit schneller als der Gesetzgeber: Nach Klagen von Facebook und Google gegen das NetzDG könnte die Regelung schon bald Geschichte sein, glaubt Liesching. Das Verwaltungsgericht könnte den Streit dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Ob die noch vor der DSA-Verabschiedung entscheiden, hängt auch von der Verhandlungsgeschwindigkeit in Brüssel ab. Hendrik Wieduwilt
Mit Blick auf die verheerenden Waldbrände im Mittelmeerraum hat EU-Krisenkommissar Janez Lenarčič mehr Gewicht für den EU-Zivilschutz gefordert. Die Krisenreaktionsfähigkeit auf europäischer Ebene müsse priorisiert werden, sagte der aus Slowenien stammende Lenarčič am Montag. Bei den Löscheinsätzen handele es sich um eine der “größten gemeinsamen Brandbekämpfungsoperationen jemals“, so Lenarčič weiter – mit mehreren Bränden in mehreren Staaten gleichzeitig.
Der Krisenreaktionsmechanismus funktioniert dabei bislang als freiwilliger transnationaler Pool, koordiniert vom Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen: Die Mitgliedstaaten benennen Fähigkeiten und Kapazitäten, die sie für die weltweite Krisenreaktion zur Verfügung stellen wollen. Anschließend werden diese zertifiziert. Wenn die Einheiten dann benötigt werden, übernimmt die EU bis zu 75 Prozent der Kosten des Einsatzes. Für Waldbrandbekämpfung wurden Anfang 2021 elf Löschflugzeuge und sechs Helikopter von den Mitgliedstaaten zertifiziert.
3,1 Milliarden Euro sollen im Zeitraum von 2021 bis 2027 für die Zivilschutzmaßnahmen als Budget zur Verfügung stehen. Damit sollen künftig auch dauerhaft und verbindlich zur Verfügung stehende Kapazitäten wie Löschflugzeuge oder medizinische Notfallausrüstung bezahlt werden.
Vor allem Griechenland und Italien sind zurzeit stark betroffen. Fast 1000 Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer aus den unterschiedlichen Mitgliedstaaten sind allein in Griechenland als Unterstützung eingetroffen, dazu neun Löschflugzeuge und knapp 200 Feuerwehrfahrzeuge. Auch Albanien und Nordmazedonien haben über den EU-eigenen Krisenmechanismus Hilfestellung erhalten, obwohl sie keine Mitgliedstaaten sind. fst
Die EU-Kommission überarbeitet derzeit die Chemikalien-Gesetzgebung und hat nun eine öffentliche Konsultation gestartet. Dabei geht es um die Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von chemischen Stoffen und Gemischen (“CLP-Verordnung”). Bis zum 15. November haben Stakeholder Zeit, ihre Stellungnahmen einzureichen.
Die CLP-Verordnung setzt das global harmonisierte System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS) in der EU um. Die Kommission erwägt, im Rahmen der Revision unter anderem neue Gefahrenklassen einzuführen. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) warnte aber davor, vom globalen System abzuweichen: “Es ist von größtem Interesse für die Industrie, die erreichte Harmonisierung zu erhalten“, sagte ein Sprecher. Die Schutzziele der europäischen Chemikalienpolitik ließen sich auch im Rahmen des bestehenden Rechts erreichen. tho
Die Freude am Bauen und Selbermachen, die sei ihm seit seiner Kindheit geblieben, sagt Paul Nemitz.
Die Weichen in der EU-Digitalpolitik stellen offiziell andere. Nemitz berät dabei, wann in welche Richtung welcher Zug fahren sollte, wie schnell und mit welchem Ziel.
Seit April 2017 ist der 59-Jährige Hauptberater für Rechtspolitik in der Generaldirektion Justiz und Verbraucher der Europäischen Kommission. Als Gastprofessor lehrt er außerdem Recht am Europakolleg in Brügge. Dass man als Jurist keineswegs nur Gesetze interpretieren, sondern auch selbst den Weg beeinflussen kann, wenn es die Umstände ermöglichen, das ist Nemitz früh klar geworden.
Der überzeugte Sozialdemokrat und Europäer hat in seinem Berufsleben unterschiedliche Funktionen in unterschiedlichen Generaldirektionen ausgeübt und dabei Gemeinsamkeiten erkannt: “‘Man lebt sein Leben vorwärts, man versteht es rückwärts’, hat Kierkegaard mal gesagt. Aus jeder Tätigkeit nimmt man nützliches Wissen mit und sieht, dass die Muster der Politikentwicklung in unterschiedlichsten Bereichen immer sehr ähnlich sind.”
Nemitz leitete die Reform des Datenschutzrechts in der EU und die Verhandlungen mit den USA für die vorerst letzte Vereinbarung zum transatlantischen Datentransfer, die 2020 vom Europäischen Gerichtshof als nicht ausreichend verworfen wurde. Was Nemitz nicht überrascht haben dürfte. Doch mehr war in den Verhandlungen mit den USA auch für ihn nicht drin.
Der interne Hauptberaterposten in der Justizdirektion – ein eher ruhiger Karriereausklang? Das würde nicht zu ihm passen. Auf seinem LinkedIn-Profil strahlt Nemitz den Betrachter mit Pilotenmütze aus einem Cockpit an. Vor Flügen, erzählt er, schaue er immer ins Cockpit hinein. Für das Foto durfte er sogar ganz vorne Platz nehmen. “Ich habe so eine gewisse Jungsfantasie von Technik, das ist so eine naive, oberflächliche Faszination.” Dennoch – oder gerade deshalb – warnt er vor den Gefahren neuer Techniken für die Demokratie, wenn man sie unreguliert lässt.
“Das Neue an der KI ist, dass sie eine Gateway-Technologie in die Hirne der Menschen ist. Sie ermöglicht es, Menschen sehr genau zu verstehen und zu imitieren”, sagt Nemitz. Programme, die mit KI funktionierten, hätten das Potenzial, “ganze Gesellschaften zu täuschen”. Gefährlich werden könnten “Staaten, große Konzerne oder auch Kriminelle”. Das will Nemitz so gut es geht verhindern.
Mit 13 Expert:innen, unter anderem aus Harvard und Stanford, hat er im Juni anlässlich des Besuchs von US-Präsident Joe Biden in Brüssel das “Manifesto In Defence of Democracy and the Rule of Law in the Age of Artificial Intelligence” veröffentlicht. 432 Seiten widmet er der Künstlichen Intelligenz in seinem 2020 erschienenen Buch “Prinzip Mensch”, das er mit dem Journalisten Matthias Pfeffer geschrieben hat.
Die EU-Kommission hat im April ihren Vorschlag zur Regulierung der Künstlichen Intelligenz auf den Weg gebracht, der auch auf seinen Überlegungen basiert. Paul Nemitz hat die Hoffnung, dass europäische Verordnungen auch Nicht-EU-Länder beeinflussen können. “Wir sehen immer mehr in China und in Amerika Gesetzgebung, die sich an unserem Modell orientiert. Und ich glaube, in Amerika unter Biden gibt es eine viel positivere Einstellung zu Europa.” Der “Antagonismus”, der lange zwischen der EU und den USA auch vor Trump bestanden habe, sei zu Ende.
Das Manifest vom Juni wurde etwa 30.000 Mal heruntergeladen. Diese Downloadzahlen dürften die Klickzahlen des Songs “Amok – Original Mix” auf Spotify bald überschreiten. Es ist ein Stück der Hamburger Disco-Punk-Band “Ledernacken”, bei der Nemitz zu Studienzeiten Keyboard spielte. Sound und Text sind derb, Sänger, Bass und Synthesizer-Sound drängen sich in den Vordergrund. Paul Nemitz am Keyboard hört man eher leise heraus. Gabriel Bub
Manche Länder zählen Medaillen. Andere zählen, wie viele Athleten sie überhaupt zu den Olympischen Spielen schicken dürfen. Für ein kleines Land wie Luxemburg sind ein Dutzend Teilnehmer in Tokio schon ein Erfolg.
Die Leistung der Sportler vor dem Bildschirm verfolgen und mitfiebern? Meist unmöglich. Es sei denn, man findet den einen Streaming-Anbieter, der auch die ersten Runden der Wettkämpfe überträgt. Denn danach heißt es für Luxemburg meistens: die Show von der Zuschauerbank aus verfolgen.
Doch in diesem Jahr war das anders. Ein Luxemburger hat es ins Finale des 1500-Meter-Laufs geschafft. Bereits das Erreichen des Halbfinales war eine Sensation: Politiker googelten fiebrig, wer denn dieser Charles Grethen ist, bevor sie von Nationalstolz gespickte Nachrichten in die sozialen Medien schickten. Am Ende verfolgte ein ganzes Land an den Bildschirmen, wie Grethen auf Platz 12 ins Ziel läuft. “Lëtz make it happen” – das Regierungsmotto zur nationalen Imagekampagne greift also manchmal doch. Charlotte Wirth