die EU wacht beim Thema Rohstoffe auf. China sichert sich schon seit Jahrzehnten die nötigen Materialien, um seine Wirtschaft zu versorgen. Europa hat lange auf Mechanismen des freien Marktes gesetzt. Das ist ehrenhaft, aber es passt nicht mehr zusammen, wenn andere Wirtschaftsblöcke sich mit robusten Methoden den Erstzugriff verschaffen.
Der Entwurf für einen “Raw Materials Act” ist daher ein wichtiger Schritt. Auch Deutschlands Energiewende kann nur gelingen, wenn die Rohstoffe dafür verfügbar sind. Doch wie immer in der EU hängen über der konkreten Umsetzung viele Fragezeichen. Für einen Erfolg müssten alle an einem Strang ziehen, was den Mitgliedsstaaten bekanntlich schwerfällt.
Etwas schwer tut sich auch der Suchmaschinen- und KI-Konzern Baidu mit seiner Version einer Computer-Intelligenz für gepflegte Plaudereien. Was als große Konkurrenz zum amerikanischstämmigen Wunderwerk ChatGPT angekündigt war, erwies sich in der offiziellen Präsentation als nicht praxisfest. Baidu-Chef Robin Li traute sich nicht einmal ein Echtzeitgespräch mit seiner KI. ChatGPT hätte so eine Showeinlage locker gemeistert. Doch das Rennen um die beste KI hat gerade erst begonnen, analysiert Jörn Petring.
Anfang der Woche ist Jiang Yanyong gestorben, der Chefchirurg, der zum personifizierten schlechten Gewissen der Partei geworden ist. Unser Autor Johnny Erling kennt ihn schon seit Jahrzehnten und zeichnet das Leben eines Mannes nach, der für die Wahrheit kämpfte. Mit seinem Tod im Hausarrest schwindet einmal mehr die Chance auf eine Aufarbeitung von 1989.
Stahl, Aluminium, Kupfer, Seltene Erden – Chinas Hersteller von Industriemetallen haben einer Studie zufolge engste Verwicklungen zu Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Die Erkenntnis der Untersuchung der britischen Universität Sheffield Hallam setzt auch deutsche Autobauer unter Druck. Denn direkt oder indirekt werden Volkswagen, BMW oder Mercedes-Benz von zahlreichen Unternehmen dieser Branchen beliefert.
Alle drei Hersteller weisen gegenüber Table.Media jede Kenntnis über Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten zurück und beteuern ihre Aufrichtigkeit beim Versuch, das Problem in den Griff zu bekommen. Doch die Frage ist, wie genau sie ihre Lieferkette in Wirklichkeit durchschauen.
Die Brisanz und Relevanz dieser Fragen nimmt derzeit rapide zu. Sowohl die Entwürfe der deutschen China-Strategien als auch des EU-Lieferkettengesetzes sehen viel stärkere ethische Komponenten in der Handelspolitik vor. Den Unternehmen drohen geschäftliche Risiken und ein Ansehensverlust, wenn sie menschenrechtlich unsauber arbeiten.
Ein Mercedes-Insider mit Detailwissen über das China-Geschäft erklärt jedoch gegenüber Table.Media, öffentliche Aussagen des Unternehmens zur Gründlichkeit seiner Kontrollen seien “alle gelogen”. “Bei uns steht nur der Profit im Vordergrund. Die ethische Diskussion spielt keine Rolle“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte.
In Wahrheit sei es unmöglich, die Lieferketten zu kontrollieren. Zulieferer von Vertragspartnern würden “irgendwelche Zertifikate” präsentieren, deren Glaubwürdigkeit kein deutscher Manager in China beurteilen könne. Und nicht allen chinesischen Mitarbeitern könne man vertrauen. Manche “spielen uns da aus”, sagt der Manager. Er behauptet aber auch, dass Mercedes-Benz keineswegs der einzige Automobilhersteller sei, der zur Einschätzung der Lage in Xinjiang öffentliche falsche Angaben macht. “Die lügen alle”, sagt er, ohne jedoch konkrete Beweise für diese Einschätzung vorlegen zu können.
Jedoch legt die Sheffield-Studie mit dem Titel “Driving Force – Auto Supply Chains and Uyghur Forced Labour” nahe, dass ausländische Autobauer tatsächlich bewusst wegschauen, wenn es um die Verstrickung ihrer Zulieferer in Zwangsarbeit-Systeme in Xinjiang geht.
Die Autoren werteten öffentlich zugängliche Logistik-Daten und Finanzberichte von Unternehmen, journalistische Beiträge, staatliche Propaganda, Fernerkundungsdaten von Satelliten und Karten aus. Ihr Fazit: “Von der Rohstoffgewinnung und ihrer Verarbeitung bis hin zur Herstellung von Autoteilen haben wir festgestellt, dass praktisch jedes Teil des Autos einer genaueren Prüfung unterzogen werden muss, um sicherzustellen, dass es frei von uigurischer Zwangsarbeit ist.”
Die Unternehmen behaupten zwar, dass sie solche Prüfungen durchführen. Jedoch bleiben sie transparent nachvollziehbare Rückschlüsse schuldig. Bei Volkswagen sei ein Teil des Managements sogar “völlig angenervt”, dass man ihm das lukrative China-Geschäft und damit verbundener Jahresboni “kaputt machen wolle”, sagt ein Analyst mit guten Drähten nach Wolfsburg, der ebenfalls nicht öffentlich sprechen will.
Dabei wiegen die Verdachtsmomente schwer. Die Autoren der Studie sehen die Hersteller wegen ihres gesamten Beschaffungsnetzes in China in erheblichem Maße dem Risiko ausgesetzt, von der Unterdrückung der Uiguren zu profitieren. Zumal die Autobauer laut einer McKinsey-Studie im Schnitt mit 250 direkten und bis zu 18.000 indirekten Zulieferern zusammenarbeiten.
Hochproblematisch sehen die Autoren der Sheffield-Studie die Partnerschaften und Verbindungen zu etlichen Unternehmen in der Toutunhe-Zone bei Urumqi, einem Industriegebiet mit Tausenden Fabriken auf der Größe der Stadt Köln. Mindestens seit 2016 habe der Bezirk staatlich Arbeitsvermittlungsprogramme unterstützt. “Jedes Unternehmen im Park könnte Empfänger dieser versetzten Arbeitskräfte sein, was auf eine erhebliche Gefährdung durch Zwangsarbeit in der Automobilindustrie hindeutet.”
Explizit nennen sie unter anderem den After-Sale-Zulieferer Xinjiang Fenghua Shenzhou Auto Parts, dessen Produkte für BMW, Volkswagen, Mercedes, aber auch Opel, Audi sowie japanische und koreanische Marken bestimmt sind.
Die Risiken betreffen laut der Studie so gut wie alle Teile und Rohstoffe, die zum Autobau nötig sind. Zum Beispiel:
Die generelle Komplexität der Lieferketten hilft chinesischen Zulieferern dabei, Zwangsarbeit in ihrer Wertschöpfung zu verschleiern. Rohstoffe verlassen die Region in andere Teile Chinas, wo sie weiterverarbeitet werden. Dort werden diese dann entweder an internationale Marken geliefert oder in andere Teile der Welt exportiert.
Die Autoren der Studie kommen allerdings zu dem Schluss: “Die Unternehmen können sich nicht mehr damit herausreden, dass die Lieferketten einfach zu komplex sind, oder zulassen, dass ein Teil ihrer Lieferketten im Dunkeln bleibt. Die Risiken für die Menschen in der uigurischen Region sind zu hoch.” Mitarbeit: Christian Domke Seidel
Die Volksrepublik China und die Vereinigten Staaten haben sich im Menschenrechtsrat einen Schlagabtausch geliefert. Mitglieder der chinesischen Delegation unterbrachen mehrfach den Wortbeitrag der tibetisch-stämmigen Vertreterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Thinlay Chukki. Sie sprachen der Aktivistin die Gültigkeit ihrer Akkreditierung für den Rat ab und bezeichneten sie als Seperatistin. Zweimal ergriff daraufhin ein US-Delegierter das Wort und betonte die Rechtmäßigkeit ihres Redebeitrages. Die Sitzungsleitung vergewisserte sich daraufhin der Gültigkeit der Akkreditierung und ließ Chukki zu Ende sprechen.
Akkreditierungen für den Menschenrechtsrat erteilt der Wirtschafts- und Sozialrat der UN (Ecosoc). Nichtregierungsorganisationen können sich mit dieser Zulassung für ein Zeitfenster bewerben, um einen Beitrag zu einer bestimmten Debatte zu leisten. China selbst hat in den vergangenen Jahren Dutzende, allerdings staatlich organisierte Nichtregierungsorganisationen bei Ecosoc akkreditiert. Diese Organisationen bewerben sich inflationär um Zeitfenster, um anderen, tatsächlich unabhängigen Organisationen die Chance auf Redezeit zu nehmen. grz
Die britische Regierung hat eine härtere Gangart gegenüber China beschlossen. Mit “schnellen und robusten Maßnahmen” will Großbritannien in Zukunft der “epochalen und systemischen Herausforderung” durch China entgegentreten. Das ist die Quintessenz aus der frisch überarbeiteten Sicherheitsstrategie des Vereinigten Königreichs, die am Montag veröffentlicht wurde.
Das Papier stammt ursprünglich aus dem Jahr 2021 und wurde nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erstmals überarbeitet. In der nun gültigen Fassung wird der Aufbau einer National Protective Security Authority angekündigt. Diese neue Sicherheitsbehörde soll für mehr Aufklärung über Gefahren durch Agenten im Auftrag ausländischer Staaten sorgen. Dazu zählen unter anderem die Volksrepublik und Russland, aber auch andere Akteure. grz
Die Regierung in Peking plant einem Medienbericht zufolge angesichts der rapide alternden Gesellschaft eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters. Die Volksrepublik strebe einen “progressiven, flexiblen und differenzierten Weg zur Anhebung des Renteneintrittsalters” an, wird der Präsident der Chinesischen Akademie für Arbeits- und Sozialversicherungswissenschaften, Jin Weigang, am Dienstag von der staatlichen Zeitung Global Times zitiert. “Menschen, die sich dem Rentenalter nähern, müssen den Eintritt in den Ruhestand nur um einige Monate hinauszögern.” Junge Leute müssten womöglich einige Jahre länger arbeiten. Aber es werde eine lange Anpassungs- und Übergangszeit geben, sagte der hochrangige Regierungsberater.
China hat bislang noch keine formelle Änderung des Renteneintrittsalters angekündigt, das zu den niedrigsten in der Welt zählt. Es liegt aktuell bei 60 Jahren für Männer, bei 55 Jahren für weibliche Angestellte in Büro-Berufen und bei 50 Jahren für Frauen, die in Fabriken arbeiten. “Das wichtigste Merkmal der Reform ist, dass die Menschen selbst entscheiden können, wann sie in den Ruhestand gehen wollen, je nach ihren Umständen und Bedingungen”, wird Jin zitiert.
Die von 1980 bis 2015 geltende Ein-Kind-Politik sorgt nun aber dafür, dass zu wenig Nachwuchs in den Arbeitsmarkt nachrückt. Damit steigt der Druck auf die Rentenkasse. Die Nationale Gesundheitskommission geht davon aus, dass die Zahl der über 60-Jährigen bis zum Jahr 2035 von 280 Millionen auf mehr als 400 Millionen steigen wird.
Zugleich ist die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes rapide gewachsen. Lag sie 1960 noch bei 44 Jahren, waren es 2021 bereits 78 Jahre – ein höherer Wert als in den USA. 2050 wird sie Studien zufolge voraussichtlich die Marke von 80 Jahren überschreiten.
Derzeit wird jeder Rentner durch die Beiträge von fünf Arbeitnehmern unterstützt. Der Anteil der Beitragszahler ist nur noch halb so groß wie vor einem Jahrzehnt. Experten zufolge könnte es bis 2030 nur noch 4:1 betragen, 2050 sogar nur noch 2:1. Das derzeitige Rentensystem ist Demografen und Ökonomen zufolge nicht länger tragfähig, da es sich auf eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung stütze, die eine wachsende Zahl von Rentnern finanzieren müsse. Die staatliche Chinesische Akademie der Wissenschaften geht davon aus, dass dem Rentensystem bis 2035 das Geld ausgeht. rtr/flee
Drei Mitglieder der Hongkonger Organisationsgruppe des jährlichen Gedenkens an das Massaker auf dem Tiananmen-Platz sind zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt worden. Der Richter begründete diese harte Strafe damit, dass die drei Verurteilten sich geweigert hätten, der Polizei Antworten auf Fragen zu Auslandsverbindungen zu geben. Das berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Die Angeklagten gehörten der Allianz zur Unterstützung patriotisch-demokratischer Bewegungen in China an.
Grundlage des Urteils ist das nationale Sicherheitsgesetz, das die Führung in Peking im Sommer 2020 eingeführt hat. Sie hat damit über Nacht den völkerrechtlich garantierten Autonomiestatus der Sonderverwaltungszone aufgehoben, der Hongkong zum Ende der britischen Kolonialherrschaft 1997 zugesichert wurde. Aufgrund dieses Gesetzes kann die Polizei von als Agenten des Auslands eingestuften Personen oder Gruppen Informationen verlangen. Die Allianz weigerte sich und erklärte, da sie kein ausländischer Agent sei, müsse sie solche Informationen auch nicht herausgeben.
Die Gruppe hatte jedes Jahr am 4. Juni die Opfer der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 in China erinnert. 2020 untersagten die Behörden die einzige Gedenkveranstaltung dieser Art auf chinesischem Boden unter Hinweis auf die Corona-Pandemie. Die Allianz löste sich 2021 selbst auf. flee
Nach der EU-Kommission und dem Europaparlament hat nun auch die belgische Regierung die Nutzung der App Tiktok auf den Diensthandys ihrer Beschäftigten verboten. Der Nationale Sicherheitsrat habe vor den Risiken der Daten-Sammlung durch Tiktok und die mögliche Zusammenarbeit mit chinesischen Geheimdiensten gewarnt, erklärte Belgiens Ministerpräsident Alexander De Croo. “Deshalb ist es konsequent, die Nutzung von TikTok auf von der Bundesregierung bereitgestellten Handys zu verbieten. Die Sicherheit unserer Informationen muss Vorrang haben“, sagte De Croo. Zuvor hatte auch das lettische Außenministerium die Nutzung auf Diensttelefonen untersagt.
Tiktok widersprach den Aussagen des belgischen Regierungschefs. Das Unternehmen erklärte, es speichere Benutzerdaten in den USA und Singapur und baue Rechenzentren in Europa. “Die chinesische Regierung kann andere souveräne Nationen nicht dazu zwingen, Daten auszutauschen, die auf ihrem Territorium gespeichert sind”, betonte ein Sprecher des Unternehmens. rtr/ari
Es kam als merkwürdige Koinzidenz: Chinas neugewählter Premier Li Qiang tat auf seiner ersten live übertragenen Pressekonferenz in Peking am vergangenen Montag so, als ob der Journalist das Thema verfehlt habe. Der wollte von ihm wissen, ob ausländische Zweifel über Chinas lange und extrem harte Vorgehensweise gegen Covid-19 berechtigt gewesen seien. “Unsere Strategien und Methoden waren absolut richtig”, verkündete Li und ging nicht darauf ein, wie er Anfang 2022 als damaliger Parteichef von Shanghai 25 Millionen Einwohner zwei Monate lang im Lockdown einsperren ließ. Wie zuvor Parteichef Xi Jinping pries der Premier den “großen entscheidenden Sieg” der Partei über die Pandemie (取得重大决定性胜利). Weil sie “mehr als drei Jahre dem Grundsatz folgte, dass Mensch und Leben bei uns an erste Stelle kommen.” (三年多来,我们始终坚持人民至上、生命至上.)
Zur gleichen Zeit durchkämmten staatliche Zensoren Chinas Internet nach allen Nachrichten zum Tod des legendären Arztes Jiang Yanyong, dem es zeitlebens Ernst damit war, das Leben seiner Mitmenschen über alles zu stellen – auch gegen den Willen der Partei. Der ehemalige Chefchirurg starb am Samstag an einer Lungenentzündung im gleichen Pekinger Militär- und Prominentenkrankenhaus 301, wo er 1957 als Arzt angefangen hatte.
Die erste Online-Meldung über seinen Tod verbreitete sich über Weixin (Wechat) Montagfrüh um 6:23 Uhr: “Chinas Arzt Jiang Yanyong ist gestorben. Einst hat er mit einem Satz der Wahrheit das Leben unzähliger Chinesen gerettet. Jeder sollte trauern.” Zensoren löschten die Nachricht und ersetzten sie durch ihr typisches Verbotssymbol: ein weißes Ausrufezeichen in einer roten Kugel mit einer Warnung vor verbotenen Inhalten.
Anonyme Blogger protestierten am Dienstag gegen die Nachrichtensperre: “Ich trauere! Ewigkeit für Doktor Jiang Yanyong! Gestern ist er gestorben. Wer im Netz sucht, findet diesen Menschen aber nicht.” (悼!蒋彦永医生千古!昨日去世,全网查无此人.) Die Zensur ging so massiv vor, dass bis Donnerstag kein offizielles Medium Jiangs Tod meldete. Seine Familie durfte am Mittwoch nur mit einer einfachen Zeremonie im Totensaal des Krankenhauses 301 Abschied von ihm nehmen. Alle Kränze für Jiang mussten vorab inspiziert werden.
Prominente Bürgerrechtler nutzten das verbotene Twitter, um zu trauern. Wie etwa der mutige ehemalige Anwalt Pu Zhijiang 浦志强, dem Peking die Lizenz entzogen hat und den sie einsperren ließ. Pu schrieb: “Bevor Corona ausbrach, konnte ich mich mit dem Arzt Jiang noch jedes Jahr treffen. Ich musste beim Wohnblock meine Autonummer anmelden, damit ich durchgelassen wurde. In den letzten Jahren durften weder ich noch die Anwaltskollegen Zhang Zuhua, Mo Shaoping und Shang Baojun zu ihm. Ich hörte, dass sogar seine Schüler strengsten Kontrollen unterzogen wurden, wenn sie den alten Herrn aufsuchen wollten. Da war nichts zu machen. Es gibt Leute, die ihn fürchten.” (没办法, 有人怕他.)
Damit waren Chinas Parteiführer der vergangenen 20 Jahre gemeint, die ihn isolieren ließen, nachdem Jiang im März 2003 öffentlich aufgedeckt hatte, wie Peking die ausbrechende Sars-Epidemie zu verschleiern versuchte. Zum verfolgten Unruhestifter aber wurde er ein Jahr später, als er 2004 sein Schweigen über den einst von der Partei befohlenen “verbrecherischen Armeeeinsatz” gegen Studentendemonstrationen brach, der zum Tiananmen-Massaker des 4. Juni 1989 führte. Jiang forderte in einem erschütternden Brief die Parteiführung auf, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen und die unheilvollen Ereignisse aufzuarbeiten.
Er provozierte damit nicht nur die damaligen Machthaber, sondern auch den erst 2012 zum Parteichef gewählten Xi Jinping. Jiang forderte ihn in mehreren Briefen zuerst parteiintern und dann öffentlich auf, endlich die Tiananmen-Proteste vom Vorwurf der Konterrevolution freizusprechen.
Im letzten Brief an Xi vom 10. Oktober 2018, den er im März 2019 an den Volkskongress schickte, schrieb er, die Partei müsse ihre Angst überwinden, dass in China Chaos ausbricht, wenn sie die Ereignisse neu bewertet. Sie wird damit “die Stabilität Chinas absolut nicht gefährden. Im Gegenteil”. Der Armee-Einsatz 1989 sei ihr “schlimmstes Verbrechen”.
Jiang erinnerte Xi dabei an dessen Vater und Politiker Xi Zhongxun während Chinas Reformzeit. Vater Xi habe es selbst gewagt, gegen einen Deng Xiaoping zu protestieren, als dieser den früheren Parteichef Hu Yaobang absetzen ließ, weil er ihm zu liberal war. Der Vater sei in den Raum von Deng gestürzt, er “schlug auf den Tisch und beschimpfte ihn.” Wie aber verhalten sich Sohn Xi und die heutigen Führer? “Haben sie auch so viel Courage, für eine gerechte Sache einzustehen?”
Als ich Jiang im Frühsommer 2019 in Peking mehrfach treffen konnte, sagte er mir: “Ich habe fünf solcher Briefe an Xi geschrieben. Antworten habe ich auf keinen einzigen bekommen.” Sein letzter Brief war besonders brisant. Denn Jiang, der den Rang eines Generalmajors hatte und ein Parteiveteran war, der seit Juli 1952 der KP angehörte, kannte viele chinesische Führer persönlich. Er enthüllte, wie umstritten die von Deng Xiaoping befohlene, blutige Niederschlagung am 4. Juni innerhalb der Parteispitze war. Der damals amtierende Staatspräsident Yang Shangkun hatte auf Befehl von Deng im Mai 1989 zusammen mit Premier Li Peng den Ausnahmezustand über Peking verhängt. Damit konnten die Truppen in die Hauptstadt kommen. Als der Militärarzt Jiang zehn Jahre später Yang Shangkun in seinem Haus aufsuchte, gestand der ihm: “Der vierte Juni war der schwerste Fehler in unserer Parteigeschichte.” Jetzt sei er nicht korrigierbar, werde es aber in Zukunft sein. Auch von anderen Mächtigen hörte Jiang solche späten Einsichten.
In seinem ersten Brief wegen des Tiananmen-Massakers von 1989, den er im Februar 2004 an die damalige Pekinger Führung schickte, hätte er sich erstmals getraut, Pekings größtes Tabuthema öffentlich anzusprechen, sagte er mir einst. Ihn habe all die Jahre gequält, was er als Chefchirurg in der Nacht auf den 4. Juni miterlebte. Jiangs Militärkrankenhaus 301 lag auf der Einmarschroute der um sich schießenden Truppen, die zu dem von Studenten besetzten Tiananmen-Platz des Himmlischen Friedens vorstießen. Bis Mitternacht wurden ihm 89 Verletzte mit fürchterlichen Wunden eingeliefert. Die Soldaten hätten mit international geächteter Bleimunition geschossen, die beim Aufprall splitterte.
Die damalige Nacht habe ihn verändert und zu seinem Ein-Mann Kreuzzug bewogen, zuerst gegen die Lügen wegen Sars und dann für die Rehabilitierung der Ereignisse und der Opfer des 4. Juni. Nachdem Jiangs Brief öffentlich wurde, sperrten die Behörden ihn und seine Frau am 1. Juni 2004 für 45 Tage ein und stellten sie dann für acht Monate unter Hausarrest. Chinas Partei-Führung beharrte 2004 so wie auch heute unter Xi Jinping, dass die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 gerechtfertigt gewesen sei. Sie werde diese Vergangenheit niemals neu aufrollen.
Als loyaler Patriot hatte sich Jiang, der aus einer vornehmen Hangzhouer Bankiersfamilie stammte und Verwandte in Taiwan hatte, immer an die KP-Disziplin gehalten. Er schwieg über das, was er in der Kulturrevolution erlitt. Er wurde als Konterrevolutionär brutal verfolgt und verbrachte bis 1971 fünf Jahre lang als Pferdehirt in einem Armee-Straflager auf dem tibetischen Hochplateau Qinghai. Dann brauchte man ihn als Chirurg wieder zurück.
Doch als Arzt geriet er außer sich, als er am 3. April 2003 im Fernsehen mit ansah, wie der damalige Gesundheitsminister Zhang Wenkang die mysteriöse aus Guangdong nach Peking überschwappende Sars-Seuche herunterspielte und log: Sie sei bis auf wenige Einzelfälle “unter Kontrolle”.
Jiang hatte beunruhigt verfolgt, wie täglich immer mehr Neuinfizierte eingeliefert und heimlich auf Pekinger Militärkrankenhäuser verteilt wurden. Er verschickte Brandbriefe an den Staatssender CCTV und den prochinesischen Hongkonger Kabelsender Phoenix TV. Beide ignorierten ihn. Darauf wagte er am 8. April, die Pekinger Korrespondentin Susan Jakes vom US-Magazin Time zu informieren. Zusammen mit Karl Greenfeld, dem Chefredakteur des Asien-Ablegers des Magazins, der Jahre später ein Buch über das Thema veröffentlichte (China Syndrome: The True Story of the 21st Century’s First Great Epidemic), schrieben die Journalisten einen Report, der die Weltgesundheitsorganisation (WTO) alarmierte. Am 20. April gestand die Pekinger Führung auf einer Pressekonferenz 339 SARS-Fälle und viele Tote nur in Peking ein. Sie feuerte den Gesundheitsminister und einen weiteren hohen Beamten.
Peking mobilisierte darauf das Land gegen Sars. Mitte August war die Ausweitung zur pandemischen Gefahr gebannt. Die WHO zählte dank der Zusammenarbeit mit China weltweit nur 8.422 Infizierte und 919 Tote. Mehr als 800 Menschen waren in Festlandchina, Hongkong und auf Taiwan gestorben.
Jiang wurde drei Monate lang als Held gefeiert. Chinas Regierung erließ neue Regeln zur Transparenz und völligen Offenlegung medizinischer Informationen bei Risikofällen. Sie führte 2006 die Meldepflicht für Seuchen und Notfälle ein.
15 Jahre später beim Corona-Ausbruch in Wuhan Anfang 2020 war alles wieder vergessen, wurde wieder verheimlicht, gelogen und getrickst. Der einstige Whistleblower Jiang saß mit seiner Frau Hua Zhongwei im Hausarrest und konnte nur ohnmächtig zuschauen.
die EU wacht beim Thema Rohstoffe auf. China sichert sich schon seit Jahrzehnten die nötigen Materialien, um seine Wirtschaft zu versorgen. Europa hat lange auf Mechanismen des freien Marktes gesetzt. Das ist ehrenhaft, aber es passt nicht mehr zusammen, wenn andere Wirtschaftsblöcke sich mit robusten Methoden den Erstzugriff verschaffen.
Der Entwurf für einen “Raw Materials Act” ist daher ein wichtiger Schritt. Auch Deutschlands Energiewende kann nur gelingen, wenn die Rohstoffe dafür verfügbar sind. Doch wie immer in der EU hängen über der konkreten Umsetzung viele Fragezeichen. Für einen Erfolg müssten alle an einem Strang ziehen, was den Mitgliedsstaaten bekanntlich schwerfällt.
Etwas schwer tut sich auch der Suchmaschinen- und KI-Konzern Baidu mit seiner Version einer Computer-Intelligenz für gepflegte Plaudereien. Was als große Konkurrenz zum amerikanischstämmigen Wunderwerk ChatGPT angekündigt war, erwies sich in der offiziellen Präsentation als nicht praxisfest. Baidu-Chef Robin Li traute sich nicht einmal ein Echtzeitgespräch mit seiner KI. ChatGPT hätte so eine Showeinlage locker gemeistert. Doch das Rennen um die beste KI hat gerade erst begonnen, analysiert Jörn Petring.
Anfang der Woche ist Jiang Yanyong gestorben, der Chefchirurg, der zum personifizierten schlechten Gewissen der Partei geworden ist. Unser Autor Johnny Erling kennt ihn schon seit Jahrzehnten und zeichnet das Leben eines Mannes nach, der für die Wahrheit kämpfte. Mit seinem Tod im Hausarrest schwindet einmal mehr die Chance auf eine Aufarbeitung von 1989.
Stahl, Aluminium, Kupfer, Seltene Erden – Chinas Hersteller von Industriemetallen haben einer Studie zufolge engste Verwicklungen zu Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Die Erkenntnis der Untersuchung der britischen Universität Sheffield Hallam setzt auch deutsche Autobauer unter Druck. Denn direkt oder indirekt werden Volkswagen, BMW oder Mercedes-Benz von zahlreichen Unternehmen dieser Branchen beliefert.
Alle drei Hersteller weisen gegenüber Table.Media jede Kenntnis über Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten zurück und beteuern ihre Aufrichtigkeit beim Versuch, das Problem in den Griff zu bekommen. Doch die Frage ist, wie genau sie ihre Lieferkette in Wirklichkeit durchschauen.
Die Brisanz und Relevanz dieser Fragen nimmt derzeit rapide zu. Sowohl die Entwürfe der deutschen China-Strategien als auch des EU-Lieferkettengesetzes sehen viel stärkere ethische Komponenten in der Handelspolitik vor. Den Unternehmen drohen geschäftliche Risiken und ein Ansehensverlust, wenn sie menschenrechtlich unsauber arbeiten.
Ein Mercedes-Insider mit Detailwissen über das China-Geschäft erklärt jedoch gegenüber Table.Media, öffentliche Aussagen des Unternehmens zur Gründlichkeit seiner Kontrollen seien “alle gelogen”. “Bei uns steht nur der Profit im Vordergrund. Die ethische Diskussion spielt keine Rolle“, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte.
In Wahrheit sei es unmöglich, die Lieferketten zu kontrollieren. Zulieferer von Vertragspartnern würden “irgendwelche Zertifikate” präsentieren, deren Glaubwürdigkeit kein deutscher Manager in China beurteilen könne. Und nicht allen chinesischen Mitarbeitern könne man vertrauen. Manche “spielen uns da aus”, sagt der Manager. Er behauptet aber auch, dass Mercedes-Benz keineswegs der einzige Automobilhersteller sei, der zur Einschätzung der Lage in Xinjiang öffentliche falsche Angaben macht. “Die lügen alle”, sagt er, ohne jedoch konkrete Beweise für diese Einschätzung vorlegen zu können.
Jedoch legt die Sheffield-Studie mit dem Titel “Driving Force – Auto Supply Chains and Uyghur Forced Labour” nahe, dass ausländische Autobauer tatsächlich bewusst wegschauen, wenn es um die Verstrickung ihrer Zulieferer in Zwangsarbeit-Systeme in Xinjiang geht.
Die Autoren werteten öffentlich zugängliche Logistik-Daten und Finanzberichte von Unternehmen, journalistische Beiträge, staatliche Propaganda, Fernerkundungsdaten von Satelliten und Karten aus. Ihr Fazit: “Von der Rohstoffgewinnung und ihrer Verarbeitung bis hin zur Herstellung von Autoteilen haben wir festgestellt, dass praktisch jedes Teil des Autos einer genaueren Prüfung unterzogen werden muss, um sicherzustellen, dass es frei von uigurischer Zwangsarbeit ist.”
Die Unternehmen behaupten zwar, dass sie solche Prüfungen durchführen. Jedoch bleiben sie transparent nachvollziehbare Rückschlüsse schuldig. Bei Volkswagen sei ein Teil des Managements sogar “völlig angenervt”, dass man ihm das lukrative China-Geschäft und damit verbundener Jahresboni “kaputt machen wolle”, sagt ein Analyst mit guten Drähten nach Wolfsburg, der ebenfalls nicht öffentlich sprechen will.
Dabei wiegen die Verdachtsmomente schwer. Die Autoren der Studie sehen die Hersteller wegen ihres gesamten Beschaffungsnetzes in China in erheblichem Maße dem Risiko ausgesetzt, von der Unterdrückung der Uiguren zu profitieren. Zumal die Autobauer laut einer McKinsey-Studie im Schnitt mit 250 direkten und bis zu 18.000 indirekten Zulieferern zusammenarbeiten.
Hochproblematisch sehen die Autoren der Sheffield-Studie die Partnerschaften und Verbindungen zu etlichen Unternehmen in der Toutunhe-Zone bei Urumqi, einem Industriegebiet mit Tausenden Fabriken auf der Größe der Stadt Köln. Mindestens seit 2016 habe der Bezirk staatlich Arbeitsvermittlungsprogramme unterstützt. “Jedes Unternehmen im Park könnte Empfänger dieser versetzten Arbeitskräfte sein, was auf eine erhebliche Gefährdung durch Zwangsarbeit in der Automobilindustrie hindeutet.”
Explizit nennen sie unter anderem den After-Sale-Zulieferer Xinjiang Fenghua Shenzhou Auto Parts, dessen Produkte für BMW, Volkswagen, Mercedes, aber auch Opel, Audi sowie japanische und koreanische Marken bestimmt sind.
Die Risiken betreffen laut der Studie so gut wie alle Teile und Rohstoffe, die zum Autobau nötig sind. Zum Beispiel:
Die generelle Komplexität der Lieferketten hilft chinesischen Zulieferern dabei, Zwangsarbeit in ihrer Wertschöpfung zu verschleiern. Rohstoffe verlassen die Region in andere Teile Chinas, wo sie weiterverarbeitet werden. Dort werden diese dann entweder an internationale Marken geliefert oder in andere Teile der Welt exportiert.
Die Autoren der Studie kommen allerdings zu dem Schluss: “Die Unternehmen können sich nicht mehr damit herausreden, dass die Lieferketten einfach zu komplex sind, oder zulassen, dass ein Teil ihrer Lieferketten im Dunkeln bleibt. Die Risiken für die Menschen in der uigurischen Region sind zu hoch.” Mitarbeit: Christian Domke Seidel
Die Volksrepublik China und die Vereinigten Staaten haben sich im Menschenrechtsrat einen Schlagabtausch geliefert. Mitglieder der chinesischen Delegation unterbrachen mehrfach den Wortbeitrag der tibetisch-stämmigen Vertreterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Thinlay Chukki. Sie sprachen der Aktivistin die Gültigkeit ihrer Akkreditierung für den Rat ab und bezeichneten sie als Seperatistin. Zweimal ergriff daraufhin ein US-Delegierter das Wort und betonte die Rechtmäßigkeit ihres Redebeitrages. Die Sitzungsleitung vergewisserte sich daraufhin der Gültigkeit der Akkreditierung und ließ Chukki zu Ende sprechen.
Akkreditierungen für den Menschenrechtsrat erteilt der Wirtschafts- und Sozialrat der UN (Ecosoc). Nichtregierungsorganisationen können sich mit dieser Zulassung für ein Zeitfenster bewerben, um einen Beitrag zu einer bestimmten Debatte zu leisten. China selbst hat in den vergangenen Jahren Dutzende, allerdings staatlich organisierte Nichtregierungsorganisationen bei Ecosoc akkreditiert. Diese Organisationen bewerben sich inflationär um Zeitfenster, um anderen, tatsächlich unabhängigen Organisationen die Chance auf Redezeit zu nehmen. grz
Die britische Regierung hat eine härtere Gangart gegenüber China beschlossen. Mit “schnellen und robusten Maßnahmen” will Großbritannien in Zukunft der “epochalen und systemischen Herausforderung” durch China entgegentreten. Das ist die Quintessenz aus der frisch überarbeiteten Sicherheitsstrategie des Vereinigten Königreichs, die am Montag veröffentlicht wurde.
Das Papier stammt ursprünglich aus dem Jahr 2021 und wurde nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erstmals überarbeitet. In der nun gültigen Fassung wird der Aufbau einer National Protective Security Authority angekündigt. Diese neue Sicherheitsbehörde soll für mehr Aufklärung über Gefahren durch Agenten im Auftrag ausländischer Staaten sorgen. Dazu zählen unter anderem die Volksrepublik und Russland, aber auch andere Akteure. grz
Die Regierung in Peking plant einem Medienbericht zufolge angesichts der rapide alternden Gesellschaft eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters. Die Volksrepublik strebe einen “progressiven, flexiblen und differenzierten Weg zur Anhebung des Renteneintrittsalters” an, wird der Präsident der Chinesischen Akademie für Arbeits- und Sozialversicherungswissenschaften, Jin Weigang, am Dienstag von der staatlichen Zeitung Global Times zitiert. “Menschen, die sich dem Rentenalter nähern, müssen den Eintritt in den Ruhestand nur um einige Monate hinauszögern.” Junge Leute müssten womöglich einige Jahre länger arbeiten. Aber es werde eine lange Anpassungs- und Übergangszeit geben, sagte der hochrangige Regierungsberater.
China hat bislang noch keine formelle Änderung des Renteneintrittsalters angekündigt, das zu den niedrigsten in der Welt zählt. Es liegt aktuell bei 60 Jahren für Männer, bei 55 Jahren für weibliche Angestellte in Büro-Berufen und bei 50 Jahren für Frauen, die in Fabriken arbeiten. “Das wichtigste Merkmal der Reform ist, dass die Menschen selbst entscheiden können, wann sie in den Ruhestand gehen wollen, je nach ihren Umständen und Bedingungen”, wird Jin zitiert.
Die von 1980 bis 2015 geltende Ein-Kind-Politik sorgt nun aber dafür, dass zu wenig Nachwuchs in den Arbeitsmarkt nachrückt. Damit steigt der Druck auf die Rentenkasse. Die Nationale Gesundheitskommission geht davon aus, dass die Zahl der über 60-Jährigen bis zum Jahr 2035 von 280 Millionen auf mehr als 400 Millionen steigen wird.
Zugleich ist die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes rapide gewachsen. Lag sie 1960 noch bei 44 Jahren, waren es 2021 bereits 78 Jahre – ein höherer Wert als in den USA. 2050 wird sie Studien zufolge voraussichtlich die Marke von 80 Jahren überschreiten.
Derzeit wird jeder Rentner durch die Beiträge von fünf Arbeitnehmern unterstützt. Der Anteil der Beitragszahler ist nur noch halb so groß wie vor einem Jahrzehnt. Experten zufolge könnte es bis 2030 nur noch 4:1 betragen, 2050 sogar nur noch 2:1. Das derzeitige Rentensystem ist Demografen und Ökonomen zufolge nicht länger tragfähig, da es sich auf eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung stütze, die eine wachsende Zahl von Rentnern finanzieren müsse. Die staatliche Chinesische Akademie der Wissenschaften geht davon aus, dass dem Rentensystem bis 2035 das Geld ausgeht. rtr/flee
Drei Mitglieder der Hongkonger Organisationsgruppe des jährlichen Gedenkens an das Massaker auf dem Tiananmen-Platz sind zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt worden. Der Richter begründete diese harte Strafe damit, dass die drei Verurteilten sich geweigert hätten, der Polizei Antworten auf Fragen zu Auslandsverbindungen zu geben. Das berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Die Angeklagten gehörten der Allianz zur Unterstützung patriotisch-demokratischer Bewegungen in China an.
Grundlage des Urteils ist das nationale Sicherheitsgesetz, das die Führung in Peking im Sommer 2020 eingeführt hat. Sie hat damit über Nacht den völkerrechtlich garantierten Autonomiestatus der Sonderverwaltungszone aufgehoben, der Hongkong zum Ende der britischen Kolonialherrschaft 1997 zugesichert wurde. Aufgrund dieses Gesetzes kann die Polizei von als Agenten des Auslands eingestuften Personen oder Gruppen Informationen verlangen. Die Allianz weigerte sich und erklärte, da sie kein ausländischer Agent sei, müsse sie solche Informationen auch nicht herausgeben.
Die Gruppe hatte jedes Jahr am 4. Juni die Opfer der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 in China erinnert. 2020 untersagten die Behörden die einzige Gedenkveranstaltung dieser Art auf chinesischem Boden unter Hinweis auf die Corona-Pandemie. Die Allianz löste sich 2021 selbst auf. flee
Nach der EU-Kommission und dem Europaparlament hat nun auch die belgische Regierung die Nutzung der App Tiktok auf den Diensthandys ihrer Beschäftigten verboten. Der Nationale Sicherheitsrat habe vor den Risiken der Daten-Sammlung durch Tiktok und die mögliche Zusammenarbeit mit chinesischen Geheimdiensten gewarnt, erklärte Belgiens Ministerpräsident Alexander De Croo. “Deshalb ist es konsequent, die Nutzung von TikTok auf von der Bundesregierung bereitgestellten Handys zu verbieten. Die Sicherheit unserer Informationen muss Vorrang haben“, sagte De Croo. Zuvor hatte auch das lettische Außenministerium die Nutzung auf Diensttelefonen untersagt.
Tiktok widersprach den Aussagen des belgischen Regierungschefs. Das Unternehmen erklärte, es speichere Benutzerdaten in den USA und Singapur und baue Rechenzentren in Europa. “Die chinesische Regierung kann andere souveräne Nationen nicht dazu zwingen, Daten auszutauschen, die auf ihrem Territorium gespeichert sind”, betonte ein Sprecher des Unternehmens. rtr/ari
Es kam als merkwürdige Koinzidenz: Chinas neugewählter Premier Li Qiang tat auf seiner ersten live übertragenen Pressekonferenz in Peking am vergangenen Montag so, als ob der Journalist das Thema verfehlt habe. Der wollte von ihm wissen, ob ausländische Zweifel über Chinas lange und extrem harte Vorgehensweise gegen Covid-19 berechtigt gewesen seien. “Unsere Strategien und Methoden waren absolut richtig”, verkündete Li und ging nicht darauf ein, wie er Anfang 2022 als damaliger Parteichef von Shanghai 25 Millionen Einwohner zwei Monate lang im Lockdown einsperren ließ. Wie zuvor Parteichef Xi Jinping pries der Premier den “großen entscheidenden Sieg” der Partei über die Pandemie (取得重大决定性胜利). Weil sie “mehr als drei Jahre dem Grundsatz folgte, dass Mensch und Leben bei uns an erste Stelle kommen.” (三年多来,我们始终坚持人民至上、生命至上.)
Zur gleichen Zeit durchkämmten staatliche Zensoren Chinas Internet nach allen Nachrichten zum Tod des legendären Arztes Jiang Yanyong, dem es zeitlebens Ernst damit war, das Leben seiner Mitmenschen über alles zu stellen – auch gegen den Willen der Partei. Der ehemalige Chefchirurg starb am Samstag an einer Lungenentzündung im gleichen Pekinger Militär- und Prominentenkrankenhaus 301, wo er 1957 als Arzt angefangen hatte.
Die erste Online-Meldung über seinen Tod verbreitete sich über Weixin (Wechat) Montagfrüh um 6:23 Uhr: “Chinas Arzt Jiang Yanyong ist gestorben. Einst hat er mit einem Satz der Wahrheit das Leben unzähliger Chinesen gerettet. Jeder sollte trauern.” Zensoren löschten die Nachricht und ersetzten sie durch ihr typisches Verbotssymbol: ein weißes Ausrufezeichen in einer roten Kugel mit einer Warnung vor verbotenen Inhalten.
Anonyme Blogger protestierten am Dienstag gegen die Nachrichtensperre: “Ich trauere! Ewigkeit für Doktor Jiang Yanyong! Gestern ist er gestorben. Wer im Netz sucht, findet diesen Menschen aber nicht.” (悼!蒋彦永医生千古!昨日去世,全网查无此人.) Die Zensur ging so massiv vor, dass bis Donnerstag kein offizielles Medium Jiangs Tod meldete. Seine Familie durfte am Mittwoch nur mit einer einfachen Zeremonie im Totensaal des Krankenhauses 301 Abschied von ihm nehmen. Alle Kränze für Jiang mussten vorab inspiziert werden.
Prominente Bürgerrechtler nutzten das verbotene Twitter, um zu trauern. Wie etwa der mutige ehemalige Anwalt Pu Zhijiang 浦志强, dem Peking die Lizenz entzogen hat und den sie einsperren ließ. Pu schrieb: “Bevor Corona ausbrach, konnte ich mich mit dem Arzt Jiang noch jedes Jahr treffen. Ich musste beim Wohnblock meine Autonummer anmelden, damit ich durchgelassen wurde. In den letzten Jahren durften weder ich noch die Anwaltskollegen Zhang Zuhua, Mo Shaoping und Shang Baojun zu ihm. Ich hörte, dass sogar seine Schüler strengsten Kontrollen unterzogen wurden, wenn sie den alten Herrn aufsuchen wollten. Da war nichts zu machen. Es gibt Leute, die ihn fürchten.” (没办法, 有人怕他.)
Damit waren Chinas Parteiführer der vergangenen 20 Jahre gemeint, die ihn isolieren ließen, nachdem Jiang im März 2003 öffentlich aufgedeckt hatte, wie Peking die ausbrechende Sars-Epidemie zu verschleiern versuchte. Zum verfolgten Unruhestifter aber wurde er ein Jahr später, als er 2004 sein Schweigen über den einst von der Partei befohlenen “verbrecherischen Armeeeinsatz” gegen Studentendemonstrationen brach, der zum Tiananmen-Massaker des 4. Juni 1989 führte. Jiang forderte in einem erschütternden Brief die Parteiführung auf, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen und die unheilvollen Ereignisse aufzuarbeiten.
Er provozierte damit nicht nur die damaligen Machthaber, sondern auch den erst 2012 zum Parteichef gewählten Xi Jinping. Jiang forderte ihn in mehreren Briefen zuerst parteiintern und dann öffentlich auf, endlich die Tiananmen-Proteste vom Vorwurf der Konterrevolution freizusprechen.
Im letzten Brief an Xi vom 10. Oktober 2018, den er im März 2019 an den Volkskongress schickte, schrieb er, die Partei müsse ihre Angst überwinden, dass in China Chaos ausbricht, wenn sie die Ereignisse neu bewertet. Sie wird damit “die Stabilität Chinas absolut nicht gefährden. Im Gegenteil”. Der Armee-Einsatz 1989 sei ihr “schlimmstes Verbrechen”.
Jiang erinnerte Xi dabei an dessen Vater und Politiker Xi Zhongxun während Chinas Reformzeit. Vater Xi habe es selbst gewagt, gegen einen Deng Xiaoping zu protestieren, als dieser den früheren Parteichef Hu Yaobang absetzen ließ, weil er ihm zu liberal war. Der Vater sei in den Raum von Deng gestürzt, er “schlug auf den Tisch und beschimpfte ihn.” Wie aber verhalten sich Sohn Xi und die heutigen Führer? “Haben sie auch so viel Courage, für eine gerechte Sache einzustehen?”
Als ich Jiang im Frühsommer 2019 in Peking mehrfach treffen konnte, sagte er mir: “Ich habe fünf solcher Briefe an Xi geschrieben. Antworten habe ich auf keinen einzigen bekommen.” Sein letzter Brief war besonders brisant. Denn Jiang, der den Rang eines Generalmajors hatte und ein Parteiveteran war, der seit Juli 1952 der KP angehörte, kannte viele chinesische Führer persönlich. Er enthüllte, wie umstritten die von Deng Xiaoping befohlene, blutige Niederschlagung am 4. Juni innerhalb der Parteispitze war. Der damals amtierende Staatspräsident Yang Shangkun hatte auf Befehl von Deng im Mai 1989 zusammen mit Premier Li Peng den Ausnahmezustand über Peking verhängt. Damit konnten die Truppen in die Hauptstadt kommen. Als der Militärarzt Jiang zehn Jahre später Yang Shangkun in seinem Haus aufsuchte, gestand der ihm: “Der vierte Juni war der schwerste Fehler in unserer Parteigeschichte.” Jetzt sei er nicht korrigierbar, werde es aber in Zukunft sein. Auch von anderen Mächtigen hörte Jiang solche späten Einsichten.
In seinem ersten Brief wegen des Tiananmen-Massakers von 1989, den er im Februar 2004 an die damalige Pekinger Führung schickte, hätte er sich erstmals getraut, Pekings größtes Tabuthema öffentlich anzusprechen, sagte er mir einst. Ihn habe all die Jahre gequält, was er als Chefchirurg in der Nacht auf den 4. Juni miterlebte. Jiangs Militärkrankenhaus 301 lag auf der Einmarschroute der um sich schießenden Truppen, die zu dem von Studenten besetzten Tiananmen-Platz des Himmlischen Friedens vorstießen. Bis Mitternacht wurden ihm 89 Verletzte mit fürchterlichen Wunden eingeliefert. Die Soldaten hätten mit international geächteter Bleimunition geschossen, die beim Aufprall splitterte.
Die damalige Nacht habe ihn verändert und zu seinem Ein-Mann Kreuzzug bewogen, zuerst gegen die Lügen wegen Sars und dann für die Rehabilitierung der Ereignisse und der Opfer des 4. Juni. Nachdem Jiangs Brief öffentlich wurde, sperrten die Behörden ihn und seine Frau am 1. Juni 2004 für 45 Tage ein und stellten sie dann für acht Monate unter Hausarrest. Chinas Partei-Führung beharrte 2004 so wie auch heute unter Xi Jinping, dass die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 gerechtfertigt gewesen sei. Sie werde diese Vergangenheit niemals neu aufrollen.
Als loyaler Patriot hatte sich Jiang, der aus einer vornehmen Hangzhouer Bankiersfamilie stammte und Verwandte in Taiwan hatte, immer an die KP-Disziplin gehalten. Er schwieg über das, was er in der Kulturrevolution erlitt. Er wurde als Konterrevolutionär brutal verfolgt und verbrachte bis 1971 fünf Jahre lang als Pferdehirt in einem Armee-Straflager auf dem tibetischen Hochplateau Qinghai. Dann brauchte man ihn als Chirurg wieder zurück.
Doch als Arzt geriet er außer sich, als er am 3. April 2003 im Fernsehen mit ansah, wie der damalige Gesundheitsminister Zhang Wenkang die mysteriöse aus Guangdong nach Peking überschwappende Sars-Seuche herunterspielte und log: Sie sei bis auf wenige Einzelfälle “unter Kontrolle”.
Jiang hatte beunruhigt verfolgt, wie täglich immer mehr Neuinfizierte eingeliefert und heimlich auf Pekinger Militärkrankenhäuser verteilt wurden. Er verschickte Brandbriefe an den Staatssender CCTV und den prochinesischen Hongkonger Kabelsender Phoenix TV. Beide ignorierten ihn. Darauf wagte er am 8. April, die Pekinger Korrespondentin Susan Jakes vom US-Magazin Time zu informieren. Zusammen mit Karl Greenfeld, dem Chefredakteur des Asien-Ablegers des Magazins, der Jahre später ein Buch über das Thema veröffentlichte (China Syndrome: The True Story of the 21st Century’s First Great Epidemic), schrieben die Journalisten einen Report, der die Weltgesundheitsorganisation (WTO) alarmierte. Am 20. April gestand die Pekinger Führung auf einer Pressekonferenz 339 SARS-Fälle und viele Tote nur in Peking ein. Sie feuerte den Gesundheitsminister und einen weiteren hohen Beamten.
Peking mobilisierte darauf das Land gegen Sars. Mitte August war die Ausweitung zur pandemischen Gefahr gebannt. Die WHO zählte dank der Zusammenarbeit mit China weltweit nur 8.422 Infizierte und 919 Tote. Mehr als 800 Menschen waren in Festlandchina, Hongkong und auf Taiwan gestorben.
Jiang wurde drei Monate lang als Held gefeiert. Chinas Regierung erließ neue Regeln zur Transparenz und völligen Offenlegung medizinischer Informationen bei Risikofällen. Sie führte 2006 die Meldepflicht für Seuchen und Notfälle ein.
15 Jahre später beim Corona-Ausbruch in Wuhan Anfang 2020 war alles wieder vergessen, wurde wieder verheimlicht, gelogen und getrickst. Der einstige Whistleblower Jiang saß mit seiner Frau Hua Zhongwei im Hausarrest und konnte nur ohnmächtig zuschauen.