Table.Briefing: China

Konsequenzen des VW-Xinjiang-Audits + Abstiegssorgen in Chinas Unterschicht

Liebe Leserin, lieber Leser,

Xi Jinpings Leitidee für China ist die einer Zukunft des “gemeinsamen Wohlstands”. In Zeiten von schwächelndem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit glauben viele Chinesen jedoch nicht mehr an diesen chinesischen Traum, der besagt, dass jeder es schaffen kann. Im Gegenteil: Viele haben Angst, auf der sozialen Leiter abzurutschen.

Margaret Hillenbrand, Professorin der Universität Oxford, hat ein Buch über das neue Prekariat Chinas geschrieben. Dazu zählt sie Wanderarbeiter, aber auch Hochschulabsolventen, die keinen Job finden. Sie fühlen sich nicht mehr abgeholt von Versprechungen einer “harmonischen Gesellschaft”, sagt sie im Interview mit Amelie Richter. Auch schildert Hillenbrand, wie sich langsam eine Art “Zombie-Staatsbürgerschaft” herausbildet, bestehend aus Menschen, denen von oben die Fähigkeit abgesprochen wird, selbstständig zu sprechen, zu denken oder zu handeln.

Auch ausländische Unternehmen sind in der Pflicht, wenn es darum geht, Menschen vor Unterdrückung und Ausgrenzung zu schützen. Besonders im Fokus stehen dabei seit langem Firmen, die in der von Zwangsarbeit betroffenen Region Xinjiang aktiv sind.

VW konnte nach der Veröffentlichung einer Sonderprüfung seines dortigen Werks nun aufatmen. Es wurden keine sichtbaren Beweise für Zwangsarbeit festgestellt, die Firmen-Aktie ging nach oben. Dennoch ergibt sich aus den Erkenntnissen der Inspektoren ein gemischtes Bild, schreibt Finn Mayer-Kuckuk. VW müsse weiter Audits vornehmen und ein funktionierendes Beschwerdemanagement einrichten, um das Vertrauen der Anleger langfristig zu erhalten. Denn Sozialstandards in der Lieferkette werden weltweit immer wichtiger.

Ihr
Fabian Peltsch
Bild von Fabian  Peltsch

Analyse

“Die Menschen haben Angst in die ‘Zombie-Staatsbürgerschaft’ abzurutschen”

Sie schreiben in “On the Edge: Feeling Precarious in China” über Prekarität in der Volksrepublik. Was bedeutet es, sich im China des 21. Jahrhunderts prekär zu fühlen?

Das ist die Schlüsselfrage, die ich in dem Buch stelle. Seit der Jahrtausendwende ist Prekarität ein entscheidendes Schlagwort unserer Zeit. Nach der Finanzkrise von 2008 hat der Begriff noch an Bedeutung zugenommen. Aber trotz der Tatsache, dass es in China schon immer Menschen in prekären Lebenssituationen gab, war “Prekarität” bis vor Kurzem kein Konzept, das auf die chinesische Gesellschaft angewandt wurde, insbesondere nicht in Bezug auf kulturelle Formen.

Dennoch gibt es auch im kommunistischen China weiterhin viele einkommensschwache Haushalte.

Um zu verstehen, wie sich Prekarität in China anfühlt, muss man sich vor Augen halten, dass es dort eine Unterschicht von 300 bis 400 Millionen Menschen gibt – die größte derartige Kohorte in der Geschichte der Menschheit. Der Begriff Prekarität wird zudem eher mit Ungleichheit als mit Wohlfahrt in Verbindung gebracht. Chinas Unterschicht hat viel Schlimmes ertragen müssen. Diese Menschen haben die Hauptlast des ungleichen Hukou- und des Suzhi-Systems, also des Bevormundungsstaats, getragen, Formen staatlicher Kontrolle, die im Wesentlichen auf sozialer Trennung beruhen. Diese Erfahrungen der Unterschicht lassen sich besser im Sinne von Vertreibung oder sogar Verbannung beschreiben. In meinem Buch zeige ich diesen Weg auf und wie sich dieser in kulturellem Schaffen wiederfindet. 

Die Lebenssituation der Arbeitsmigranten in China kann als prekär bezeichnet werden und ist allgemein bekannt. Was bedeutet Prekarität über die Wanderarbeiter hinaus?

Beispiele für andere soziale Gruppen, die derzeit prekär sind, sind Absolventen von Elite-Universitäten, die keinen Job finden. IT-Mitarbeiter, die in Chinas 996-Arbeitskultur  (996 工作制, von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche, Anmerkung der Redaktion) gefangen sind. Oder auch Lieferfahrer in der Plattformindustrie des Landes, die erkennen müssen, dass die vermeintliche Flexibilität der Gig Economy illusorisch wird, weil sie in Algorithmen gefangen sind, die sehr harte Arbeitsbedingungen als Folge haben. Aber es gibt auch düsterere Beispiele weiter unten auf dem Weg zur Verbannung, darunter Wanderarbeiter: Menschen, die eine Zwangsräumung erlebt haben. Menschen, die hart arbeiten, aber denen ihr Lohn vorenthalten wird, insbesondere in der Baubranche, oder die aufgrund hoher Mietpreise gezwungen sind, in Schiffscontainern und stillgelegten Bunkern zu leben. Alle diese Menschen erleben derzeit in China Prekarität oder sogar Vertreibung.

In Ihrem Buch sprechen Sie von “Zombie-Staatsbürgerschaft” (“zombie citizenship).

Es handelt sich um einen Zustand von Verbannung aus dem Schutz des Gesetzes. In diesem befindet sich derzeit eine Minderheit der Chinesen, die in diesem Zustand dahinsiecht, obwohl sie nach dem Gesetz des Landes theoretisch volle, ja sogar privilegierte Persönlichkeitsrechte genießen sollten. Artikel 1 der chinesischen Verfassung besagt eindeutig, dass die Volksrepublik China ein sozialistischer Staat ist, der unter einer demokratischen Diktatur des Volkes steht, die von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis von Arbeitern und Bauern basiert. Der Begriff “Zombie-Staatsbürgerschaft” ist notwendig, weil er den Zustand wiedergibt, in dem viele arbeitende Menschen in China durch die Arbeit gefesselt sind und gleichzeitig keinen Schutz durch das Gesetz erfahren – ungeachtet dessen, was dieses Gesetz ihnen schwarz auf weiß zuspricht.

Verstehe ich es richtig? Diese Menschen sind am Leben, existieren auf dem Papier, aber erfahren aufgrund ihrer prekären Existenz ohne Grundrechte oder einem Stadt-Hukou nicht die vollen Rechte der Staatsbürgerschaft?

Ja. Allerdings muss ich sagen, dass ich den Begriff “Zombie” nicht zur Beschreibung der Menschen selbst verwende. Es ist ein provokantes Wort: Zombies sind aus dem Grab auferstandene Kreaturen ohne die Fähigkeit zu sprechen, zu denken oder zu handeln. Deshalb verwende ich den Begriff “Zombie-Staatsbürgerschaft”, um den Zustand des bürgerlichen Halblebens zu beschreiben, in dem sich manche Menschen in gegenwärtigen prekären Situationen befinden. Die Angst, in diese “Zombie-Staatsbürgerschaft” abzurutschen, treibt nicht nur die Unterschicht um. Sie trifft auch Menschen, die auf den ersten Blick in weitaus sichereren Umständen zu leben scheinen. 

Sie verbinden Kultur mit Prekarität. Wie passen diese beiden zusammen, insbesondere jetzt im digitalen Zeitalter?

Die Angst vor einem Abstieg hat in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts bis zur Corona-Pandemie zu Unruhe in der chinesischen Gesellschaft geführt. Diese Spannung spiegelt sich auch im kulturellen Schaffen wider. Ich betrachte ein breites Spektrum künstlerischer Formen, durch die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ihren Gefühlen der Angst und des Misstrauens, der Verachtung und der Wut Luft machen. Dies sind dunkle Gefühle, die in Chinas sogenannter “harmonischer Gesellschaft”, in der “positive Energie” der vorherrschende Ton sein soll, grundsätzlich tabu sind. Ich habe mir für das Buch verschiedene Materialien angeschaut: Gedichte, Magazine, Social-Media-Beiträge, kurze Online-Videos, Performance-Kunst, Dokumentarfilme, Installationen, Interviews. Als ich tiefer in dieses Archiv eintauchte, stellte ich fest, dass diese dunklen Gefühle sehr persönlich sind. Sie sind äußerst antagonistisch.

Wie zeigt sich das?

In einer Art feindlicher Konfrontation: zwischen Avantgarde-Künstlern und den verzweifelten Migranten, die sie für demütigende Performance-Stücke rekrutieren. Zwischen unbezahlten Bauarbeitern, die vor laufender Kamera drohen, vom Dach zu springen, und ihren unmoralischen Chefs unten auf der Straße. Zwischen Dichtern, die in der Foxconn-Fabrik am Band stehen und den multinationalen Konzernen, die diese ausbeutenden Verhältnisse durchsetzen. Zwischen Nutzern der Livestreaming-Apps, die vor laufender Kamera Exkremente essen oder Feuerwerkskörper auf ihre Genitalien zünden, und den sozialen Besserwissern, die sie dann als vulgär bezeichnen. Diese Begegnungen sind angespannt und aggressiv. Aber in einer Gesellschaft, in der aktive Solidarität oft blockiert wird, können diese Momente des Antagonismus auch eine weitere Möglichkeit sein, wichtige Berührungspunkte zwischen Menschen zu schaffen.

Hat die Pandemie die Prekarität in China beschleunigt?

Für Menschen, die bereits ausgegrenzt waren, hat Covid diese Marginalität verstärkt. Ein Beispiel sind Lieferfahrer. Sie waren die Arbeitenden, die in die leeren Städte gingen, um lebenswichtige Lieferungen zu erledigen. Dennoch wurden sie oft als potenzielle Überträger des Virus stigmatisiert. Mit anderen Worten: Sie wurden gesellschaftlich bestraft, weil sie einen wichtigen öffentlichen Dienst leisteten. Ihre prekäre Lage, die vor dem Ausbruch recht intensiv war, verschärfte sich während der Pandemie noch weiter.

Das klingt hochgradig ungerecht.

Auch bei vermeintlich sichereren Menschen kam es zuweilen zu einem zwangsweisen Entzug von Rechten. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist der Lockdown in Shanghai 2022. Shanghai ist eine Metropole voller Elite-Fachkräfte. Doch viele waren in ihren Häusern eingesperrt und hatten keinen Zugang zu Freiheiten, die sie zuvor für selbstverständlich gehalten hatten. Plötzlich wurde ihnen klar, dass ihr Zugang zu Grundrechten möglicherweise genauso dürftig war wie der von Menschen, die auf der sozialen Leiter unten stehen.

Im letzten Fünfjahresplan hatte die KPCh bereits angekündigt, Änderungen am Hukou-System vornehmen zu wollen. Wäre das ein wirksames Mittel gegen Prekarität?

In den letzten Jahren gab es viele öffentlichkeitswirksame Äußerungen, die das Ende der auf Hukou basierenden sozialen Apartheid versprachen. Auf einer Ebene scheinen diese Veränderungen unvermeidlich, da Xi Jinpings Leitpolitik des “gemeinsamen Wohlstands” grundsätzlich unvereinbar mit der Fortsetzung des Hukou ist. Doch viele dieser politischen Initiativen haben nur an der Oberfläche gekratzt. Insbesondere die Entscheidungsfindung über Hukou ist nach wie vor zu dezentralisiert. Sie gehe auch häufig nicht das Problem der Hukou-Beschränkungen in den Megastädten an, die für viele Migranten auf dem Land immer noch das bevorzugte Ziel sind. Aus diesem Grund herrscht in den Medien sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas große Skepsis darüber, ob diese Reformen des Hukou-Systems tiefgreifend und umfassend genug sein werden. 

Margaret Hillenbrand ist Professorin für moderne chinesische Literatur und Kultur an der Universität Oxford. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Literatur- und Bildwissenschaften in China, Hongkong, Taiwan und Japan des 20. und 21. Jahrhunderts, primär auf Kulturen des Protests und der Geheimhaltung. Zu ihren Büchern gehören “Negative Exposures: Knowing What Not to Know in Contemporary China

  • Gesellschaft
  • KP Chinas
  • Wanderarbeiter

VW bleibt bei Union ein nachhaltiges Investment

Das Ergebnis einer Sonderprüfung des Volkswagen-Werks in der chinesischen Region Xinjiang hat den Ausschlag gegeben: Die Fondsgesellschaft Union Investment stuft die VW-Aktie weiterhin als “investierbar” für nachhaltige Geldanlagen ein. “Die Veröffentlichung des Audits ist ein Schritt in die richtige Richtung”, sagt Henrik Pontzen, Leiter Nachhaltigkeit im Portfoliomanagement von Union Investment, gegenüber Table.Media. VW müsse jedoch langfristig weitere Audits vornehmen und ein funktionierendes Beschwerdemanagement einrichten, um da Vertrauen der Anleger zu erhalten.

Am Tag nach Veröffentlichung der Erkenntnisse der Inspektoren ergibt sich damit ein gemischtes Bild:

  • Einerseits zeigen sich Investoren erleichtert, was sich am Mittwoch am steigenden Kurs der VW-Aktie zeigte. Auch die Beseitigung eines Warnhinweises (“Red Flag”) in der Kategorie Soziales durch den großen Börsenindexverwalter MSCI ist jetzt im Gespräch. Analysten des US-Bankhauses Citi schrieben, es sei “eine Last von der Aktie gefallen”.
  • Andererseits bleiben Zweifel an der Aussagekraft des Audits. Die Kritik an VW zielte von Anfang an mehr darauf, dass ein deutscher Konzern überhaupt in einer so hochproblematischen Region engagiert ist und der chinesischen Politik in Xinjiang damit Legitimität verleiht. VW gilt in China aber generell als guter Arbeitgeber, konkrete Menschenrechtsverletzungen vor Ort im Werk hatte eigentlich niemand erwartet.

Die unabhängigen Kontrolleure konnten ihre Untersuchung aber eben nur dort, im Werk Ürümqi, durchführen. Der Gesamtzusammenhang in der Region Xinjiang ist wegen der Intransparenz des chinesischen Systems nur schwer zu ergründen. Die potenziellen Lieferketten-Risiken in China sind damit für VW also noch nicht ausgestanden.

Umstrittener Standort

VW betreibt im westchinesischen Ürümqi seit 2012 eine Fabrik, die wegen ihrer räumlichen Nähe zu systematischen Menschenrechtsverletzungen am Volk der Uiguren umstritten ist. Die Beratungsfirma Löning – Human Rights & Responsible Business hatte die Verhältnisse im Werk überprüft und keine Auffälligkeiten gefunden.

Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning hat diese Firma vor zehn Jahren gegründet. Löning und sein Unternehmen genießen einen guten Ruf. Löning selbst schränkte bei Vorstellung des Berichts ein: “Die Situation in China und Xinjiang und die Herausforderungen bei der Datenerhebung für Audits sind bekannt.” Sein Team hat vor allem nach Verstößen gegen Arbeitsbestimmungen bei den 197 Mitarbeitern vor Ort gesucht. “Wir konnten keine Hinweise auf oder Belege für Zwangsarbeit bei den Mitarbeitenden finden”, so Löning.

To-do-Liste für Volkswagen

Für VW hing viel von Lönings Urteil ab. Die Einstufung als nachhaltiges Investment durch Firmen wie Union Investment ist wichtig für die Finanzierungsfähigkeit von Volkswagen. Die konkurrierende Deka Investment hat sich bereits aus der Aktie zurückgezogen. Unternehmen wie Volkswagen sind auf solche Großanleger angewiesen, um sich Kapital zu verschaffen.

VW ist nach Ansicht von Union Investment damit jedoch noch nicht am Ziel, es bleibt noch viel zu tun. “In China dürfen Audits keine einmalige Übung bleiben“, sagt Pontzen. “Außerdem muss ein funktionierendes Beschwerdemanagement etabliert werden.” Auch bleibe “die schwache Corporate Governance” bei VW eine Achillesferse. Corporate Governance – das ist gute Unternehmensführung.

Union Investment sieht weiteren Handlungsbedarf

Trotz der theoretischen Entscheidung, die VW-Aktie wieder in als nachhaltig gekennzeichnete Fonds stecken zu können, ist das derzeit bei Union Investment bei keinem Produkt der Fall. Das Wertpapierhaus zögert also mit der praktischen Konsequenz aus der Einstufung als “investierbar”. “Wir werden VW als aktiver Aktionär weiter kritisch begleiten”, kündigte Pontzen an.

Union Investment unterscheidet dabei zwischen Investierbarkeit nach Artikel 8 und nach Artikel 9 des EU-Plans für eine nachhaltige Finanzwirtschaft (der sogenannten Offenlegungsverordnung):

  • Eine Einstufung nach Artikel 8 gilt für Fonds, die Nachhaltigkeitsziele anstreben, aber nicht als wichtigstes Anlagekriterium haben. Union Investment sieht die VW-Aktie für diese Stufe der nachhaltigen Geldanlage geeignet.
  • Eine Einstufung nach Artikel 9 gilt für Fonds, die ausdrücklich und in erster Linie Nachhaltigkeitsziele abbilden. Union Investment erachtet die VW-Aktie dafür als nicht unbedingt geeignet.

Auch der Dachverband Kritische Aktionärinnen und Aktionäre (DKA), der Kleinanleger in Umwelt-, Sozial- und Governance-Fragen vertritt, zeigte sich skeptisch. Anders als die Union Investment stellt der DKA den Wert solcher Inspektionen generell in Frage. In Anbetracht des eingeschränkten Umfangs der Untersuchung sei der Wert künftiger Audits fraglich, sagte DKA-Geschäftsführer Tilman Massa der Nachrichtenagentur Reuters.

Zunehmende Brisanz durch EU-Regeln

Den Unternehmen im China-Geschäft ist ebenso wie den professionellen Aktionären klar, dass die Aufmerksamkeit für Sozialstandards in der Lieferkette immer weiter zunimmt. Als Wendepunkt in der Wahrnehmung gilt der Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesh; seitdem gehört das Geschehen in der Lieferkette für immer mehr Fonds zu den Kriterien für die Auswahl von Aktien.

Der nächste große Meilenstein wird das EU-Sortfaltspflichtengesetz, wenn es eines Tages kommt. Es rückt Umwelt-, Menschenrechts- und Sozialprobleme bei Zulieferern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Anders als das deutsche Lieferkettengesetz verpflichtet es nicht nur zur Betrachtung der direkten Geschäftspartner, sondern der ganzen Lieferkette. Das dürfte in der chinesischen Industrie sehr aufwändig werden.

  • Corporate Governance
  • Menschenrechte
  • Volkswagen
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News

Italiens Regierung informiert Peking über BRI-Austritt

Die italienische Regierung hat einem Medienbericht zufolge China offiziell über das Ende seiner Beteiligung an der Neuen Seidenstraße informiert. Rom habe demnach bereits zu Beginn der Woche Peking in einer Verbalnote den formellen Ausstieg aus der Belt and Road Initiative (BRI) bestätigt, berichtete die italienische Tageszeitung Corriere della Serra am Mittwoch. Beide Seiten wollten jedoch stattdessen die strategische Partnerschaft, die zwischen Italien und China seit mehr als zehn Jahren besteht – die aber nie vollständig umgesetzt wurde – so weit wie möglich neu beleben, hieß es in dem Bericht unter Berufung auf das Schreiben. Nach Außen gab es zunächst weder von italienischer noch chinesischer Seite eine Mitteilung dazu.

Italien war 2019 die erste und bisher einzige G7-Nation, die sich der BRI formal angeschlossen hatte. Der damalige Ministerpräsident Giuseppe Conte und Chinas Staatschef Xi Jinping hatten dazu mit großem Brimborium ein Memorandum of Understanding (MoU) in der Villa Madama unterzeichnet. In der Realität blieb das MoU jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Kooperationsvereinbarung läuft im März 2024 aus. Rom musste also bis Ende des Jahres eine Entscheidung treffen.

Für den EU-China-Gipfel, der am Donnerstag in Peking stattfindet, wird der formale Austritt von EU-Staat Italien nicht Thema sein. Dass Rom vorhatte, die BRI zu verlassen, war seit längerer Zeit klar. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni habe sich “in jeder Hinsicht für einen sanften Ausstieg aus der Seidenstraße entschieden”, sagte Journalistin und China-Expertin Giulia Pompili Table.Media. “Sie wollte vermeiden, dass am 10. Jahrestag des Starts des strategischen Projekts eine starke Anti-China-Haltung die Führung Pekings verärgern würde.” Politisch sei der Zeitpunkt aber dennoch interessant: Italien hatte bis zum 22. Dezember Zeit, den Austritt anzukündigen. Dass Rom den Schritt nur wenige Tage vor dem Gipfeltreffen vollzogen habe, kann Pompili zufolge auch als Botschaft der Unterstützung an die EU-Vertreter gesehen werden.ari

  • Neue Seidenstraße

IW: Deutsche Firmen tun zu wenig

In Politik und Wirtschaft ist im Umgang mit China viel von De-Risking die Rede. Doch passiert ist offenbar noch wenig. Nach Ansicht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unternehmen deutschen Firmen nicht genug, um ihre einseitigen Abhängigkeiten von China zu reduzieren. “Das De-Risking ist in Gang gekommen, aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Es passiert noch zu wenig, obwohl die Zeit drängt”, erklärte IW-Handelsexperte Jürgen Matthes am Mittwoch laut Nachrichtenagentur AFP. Viele Unternehmen setzten sogar auf mehr statt weniger Importe aus der Volksrepublik.

Die Untersuchung des IW zeigt, dass von 400 befragten Unternehmen allein in Nordrhein-Westfalen 40 Prozent abhängig von Produkten aus China sind. Davon erwartet rund ein Drittel, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändert, 48 Prozent gehen sogar von einer wachsenden Bedeutung Chinas aus.

Es sei eigentlich Aufgabe der Unternehmen, kritische Abhängigkeiten zu reduzieren, erklärte das IW gegenüber AFP. Wegen staatlicher Subventionen bleibe die chinesische Industrie jedoch ein guter und günstiger Handelspartner. Wollen die Firmen wettbewerbsfähig bleiben, müssten sie auf China als Partner setzen. “Hier liegt eine Art Marktversagen vor”, erklärte Matthes. Aus gesamtwirtschaftlicher und geostrategischer Sicht sei es dringend geboten, Abhängigkeiten zu verringern. 

Wenn sich die Einstellung der Unternehmen dazu nicht zeitnah ändere, sollte die Politik weitere Anreize schaffen, um kritische Abhängigkeiten zu vermindern, forderte Matthes. flee

  • De-Risking
  • Deutschland
  • Handel
  • Technologie

Auswärtiges Amt will deutsch-taiwanischen Austausch fördern

Deutschland und Taiwan sollen nach Angaben des Bundesaußenministeriums auf zivilgesellschaftlicher Ebene in einen engeren Austausch gehen. Dazu plant das Deutsche Institut Taipei und die Taipei-Vertretung in Berlin eine neue deutsch-taiwanische Dialogplattform, wie das Auswärtige Amt am Mittwoch mitteilte. Ziel der Plattform sei es, “einen lebendigen zivilgesellschaftlichen Austausch zu fördern, gerade vor dem Hintergrund verstärkter bilateraler Wirtschaftskontakte.” Die Dialogplattform soll demnach zwölf Mitglieder pro Seite haben und sich jährlich im Wechsel in Deutschland und Taiwan treffen. Auf der deutschen Seite wird der Grünen-Europapolitiker Reinhard Bütikofer den Vorsitz übernehmen. Die Arbeit der Dialogplattform soll im kommenden Jahr beginnen. ari

Jedes dritte verkaufte Auto fährt elektrisch

Chinas Automarkt hat im November wieder zugelegt. Wie der Branchenverband PCA (China Passenger Car Association) mitteilte, seien im letzten Monat 2,06 Millionen Fahrzeuge an Kunden ausgeliefert worden. Das ist rund ein Viertel mehr als vor einem Jahr.

Allerdings hatten vor einem Jahr Lockdowns in zahlreichen chinesischen Regionen dazu beigetragen, dass die Nachfrage der Pkw sank. Gegenüber dem Oktober verzeichnete der Verkauf im November ein Plus von einem Prozent.

Elektroautos sind dabei weiter auf dem Vormarsch. Fast jedes dritte verkaufte Auto ist vollelektrisch oder mit Plug-in-Hybrid. Dies waren den Angaben zufolge knapp ein Drittel mehr als noch vor einem Jahr. flee

  • Elektromobilität
  • Handel
  • Technologie

Prada will Geschäft in China verdoppeln

Prada will sein Geschäft in China verdoppeln. Das erklärte Gianfranco D’Attis, der Vorstandsvorsitzende der italienischen Marke, am Mittwoch vor Reportern in Shanghai. “Wir haben viele Ambitionen in China”, so der ehemalige Dior-Manager, der im Januar das Ruder bei Prada übernommen hat. “Damit einher geht auch eine Erhöhung unserer Investitionen.”

D’Attis nannte keinen genauen Zeitrahmen für sein Vorhaben, sagte aber, dass die erhöhten Investitionen nicht unbedingt einen großen Anstieg der Zahl der im Land eröffneten Geschäfte bedeuten würde. “Nicht nur die Anzahl der Läden ist für uns wichtig, sondern auch die Qualität der Läden, größere Läden mit mehr Kategorien, mit mehr lokalisierten Produkten, mit mehr Erlebnissen, mit mehr Gastfreundschaft, mehr Veranstaltungen.”

Die Prada-Gruppe, zu deren Marken auch der klassische englische Schuhhersteller Church’s gehört, meldete im November für das dritte Quartal einen Umsatzanstieg von 10 Prozent und erklärte, die starken Umsätze in Asien und Europa hätten dazu beigetragen, die Schwäche in Nord- und Südamerika auszugleichen. China ist einer der wichtigsten Luxusmärkte der Welt. Nach Prognosen der Unternehmensberatung Bain wird die Volksrepublik bis zum Jahr 2030 fast 40 Prozent des weltweiten Luxusumsatzes ausmachen. rtr

  • Handel
  • Konsum
  • Luxusgüter

Presseschau

Chinas “Neue Seidenstraße”: Italien zieht sich zurück WIWO
Die EU und China treffen sich in Peking zum Gipfel FAZ
Europa will seine Beziehungen zu China neu ausloten DER STANDARD
EU-China-Gipfel: “Für viele Industrien geht es ums Überleben” HANDELSBLATT
Krieg in Nahost: Außenminister der USA und Chinas rufen zur Deeskalation auf DEUTSCHLANDFUNK
China hopes Myanmar achieves rapid national reconciliation – Wang Yi REUTERS
China says ally Venezuela, Guyana must resolve border disput TIMES OF INDIA
Hongkongs Opposition vor Gericht: “Es geht hier um Macht” SPIEGEL
EU will sich mit Rohstoffgesetz von China loseisen DER STANDARD
China”s graphite export curbs a new cloud over U.S. EV supply chain AUTONEWS
Bekannte Modefirmen sollen von uigurischer Zwangsarbeit profitieren ZEIT
China says it “firmly opposes” UK sanctions on its companies TIMES OF INDIA
China hopes Microsoft will play constructive role in China-US cooperation on AI CHANNEL NEWS ASIA
Taiwan probes free China trips used to “influence” election THE HINDU
Deutsche Unternehmen setzen in Asien verstärkt auf De-Risking HANDELSBLATT
Maschinenbauer fordern gleiche Wettbewerbsbedingungen mit China N-TV
China”s hidden debt spurs warnings of more Moody”s downgrades NIKKEI
China: Größte Bank der Welt, Industrial and Commercial Bank of China, mit Problemen FINANZMARKTWELT
China to set up coal production reserve to stabilise prices REUTERS
Volkswagen in China: Größter Automarkt der Welt legt deutlich bei Neuanmeldungen zu WOLFSBURGER ALLGEMEINE
China starts up world”s first fourth-generation nuclear reactor DECCAN HERALD
China launches internet technology test satellite from sea barge SPACENEWS

Heads

Leonie Suna-Kiefer – die neue Kraft in der Stiftung Asienhaus 

Das erste Mal hörte Leonie Suna-Kiefer die chinesische Sprache von Touristen in ihrer kleinen Heimatstadt am Bodensee. Damals noch ein Kind war sie bereits fasziniert von Mandarin. Nach dem Abitur reiste sie 2012 nach Thailand, Laos – und schließlich nach China. “Ich war eingeschüchtert, fasziniert und voller Neugierde dem Unbekannten gegenüber”, erinnert sie sich.

Auch daran, dass ihr von deutschen Medien geprägtes China-Bild ganz und gar nicht mit dem übereinstimmte, was sie dort erlebte. “Mir wurde bewusst, dass ich mit einer gewissen Arroganz nach China gekommen war, um festzustellen, dass sich das Land ganz anders entwickelt hatte und aus technologischer Perspektive dabei war, an Deutschland vorbeizuziehen.” Statt Fahrräder waren nur Elektroroller auf den Straßen der chinesischen Millionenstädte zu sehen. 

Zurück in Deutschland war das Interesse endgültig geweckt – “und ein gewisser Ehrgeiz, diese scheinbar unlernbare Sprache zu beherrschen.” In Köln studierte sie Regionalstudien China und schrieb ihre Masterarbeit zum chinesischen Sozialkreditsystem. “Mir war es wichtig, einen neuen Blickwinkel auf das SKS zu eröffnen, um aufzuzeigen, wie in chinesischen Medien über das SKS berichtet wird und welche Rolle das System im Alltag der Menschen tatsächlich spielt.”

Ein weiterer Schwerpunkt waren die Entwicklungen im Bereich der chinesischen Klimapolitik, die Suna-Kiefer bis heute aufmerksam verfolgt. Ein Jahr verbrachte sie während ihrer Studienzeit in Chengdu an der Sichuan Universität. “In besonderer Erinnerung bleiben die Teehäuser, das unvergleichlich betäubend scharfe Sichuan Essen und die offene und lebensfrohe Mentalität der Menschen”, erzählt sie.  

Dialograum für globalpolitische Probleme 

Was sie später mit ihrem Studium machen wird, schien zumindest allen anderen stets klar zu sein. “In der Wirtschaft wird China immer wichtiger, da findest du bestimmt was!”, erzählt sie, hieß es damals. Dabei hatte die junge Frau einen ganz anderen Wunsch. Sie wollte Brücken zwischen den Zivilgesellschaften Chinas und Deutschlands schlagen.

Seit Dezember letzten Jahres sitzt sie dafür an genau der richtigen Stelle: als China-Programm-Managerin in der Stiftung Asienhaus, einer Organisation, die sich nach eigenen Angaben für die Verwirklichung der Menschenrechte, für die Stärkung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, sowie für soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt einsetzt. “Diese Art der Arbeit im China-Kontext war für mich wie das Finden der goldenen Nadel im Heuhaufen.” Mit Blick auf den Klimawandel betont sie, dass die großen Probleme unserer Zeit nur gemeinsam gelöst werden können. Dafür sei das Pflegen und Eröffnen von Dialogräumen unerlässlich. 

Wenn Suna-Kiefer auf ihr erstes Jahr im China-Programm zurückblickt, kommt es ihr vor, als sei es blitzschnell vorbeigezogen. Es gab auch einiges zu tun: Newsletter schreiben, Veranstaltungen organisieren, Publikationen verfassen, Netzwerkarbeit und einen Kurs leiten bei der Einsteigerakademie China, ein Angebot des Bildungsnetzwerks China für Jugendliche.

Außerdem arbeitet sie mit ihrer Kollegin Joanna Klabisch an einem aktuellen Projekt mit dem Titel “Die Klimakrise, Global China und zivilgesellschaftliche Advocacy in Asien”. Dabei entstehen Plattformen für Vertreter aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Über die Diskussionsplattformen soll ein Austausch über den Einfluss chinesischer Investitionen auf die Klimakrise in anderen asiatischen Ländern stattfinden.  

“Gerade ist eine sehr polarisierte Zeit für die Arbeit im China-Kontext”, betont Suna-Kiefer. “Es zeichnet sich eine immer weitere Verhärtung der politischen Fronten zwischen China und dem sogenannten ‘Westen’ ab. Das betrifft auch unsere Arbeit.” Nach der extremen Abschottung während der Corona-Pandemie müsse auf allen Ebenen Beziehungsarbeit betrieben werden. Aktuell sieht Suna-Kiefer sich mit veränderten Arbeits- und Dialogmöglichkeiten in und mit China konfrontiert und mit Rahmenbedingungen, die immer enger werden. Suna-Kiefer: “Die Arbeit ist herausfordernd, aber wir tun alles dafür, weiterhin auf zivilgesellschaftlicher Ebene mit China zusammenzuarbeiten.” Svenja Napp 

Translation missing.

Personalien

Laura Bonsaver ist neue Associate Director of Mentorships bei der britischen Nichtregierungsorganisation Young China Watchers.

Vincent Lian ist seit November Marketing Communications Specialist für Greater China bei der norwegischen Klassifikationsgesellschaft DNV. Er war zuvor Marketing Consultant bei La Décoration in Shanghai.

Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

Dessert

McDonalds China nimmt einmal mehr die kaufkräftige Kundenschicht junger “Haustiereltern” ins Visier. Nachdem die US-Fastfoodkette bereits 2021 ein sofort vergriffenes Katzenbett in Form einer Burger-Box herausgebracht hatte, folgte nun ein Katzen-Carrier, der einer Take-Away-Papiertüte nachempfunden ist. Die in drei Designs erhältliche Handtasche, die auch als Katzenbett fungieren soll, ist auf 500.000 Stück limitiert und nur in Kombination eines teuren Combo Meals erhältlich. Auf Social Media-Seiten gingen die Katzen im Sack umgehend viral. Der Hashtag “McDonald’s Katzenbett” erreichte allein auf Weibo 160 Millionen Aufrufe.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Xi Jinpings Leitidee für China ist die einer Zukunft des “gemeinsamen Wohlstands”. In Zeiten von schwächelndem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit glauben viele Chinesen jedoch nicht mehr an diesen chinesischen Traum, der besagt, dass jeder es schaffen kann. Im Gegenteil: Viele haben Angst, auf der sozialen Leiter abzurutschen.

    Margaret Hillenbrand, Professorin der Universität Oxford, hat ein Buch über das neue Prekariat Chinas geschrieben. Dazu zählt sie Wanderarbeiter, aber auch Hochschulabsolventen, die keinen Job finden. Sie fühlen sich nicht mehr abgeholt von Versprechungen einer “harmonischen Gesellschaft”, sagt sie im Interview mit Amelie Richter. Auch schildert Hillenbrand, wie sich langsam eine Art “Zombie-Staatsbürgerschaft” herausbildet, bestehend aus Menschen, denen von oben die Fähigkeit abgesprochen wird, selbstständig zu sprechen, zu denken oder zu handeln.

    Auch ausländische Unternehmen sind in der Pflicht, wenn es darum geht, Menschen vor Unterdrückung und Ausgrenzung zu schützen. Besonders im Fokus stehen dabei seit langem Firmen, die in der von Zwangsarbeit betroffenen Region Xinjiang aktiv sind.

    VW konnte nach der Veröffentlichung einer Sonderprüfung seines dortigen Werks nun aufatmen. Es wurden keine sichtbaren Beweise für Zwangsarbeit festgestellt, die Firmen-Aktie ging nach oben. Dennoch ergibt sich aus den Erkenntnissen der Inspektoren ein gemischtes Bild, schreibt Finn Mayer-Kuckuk. VW müsse weiter Audits vornehmen und ein funktionierendes Beschwerdemanagement einrichten, um das Vertrauen der Anleger langfristig zu erhalten. Denn Sozialstandards in der Lieferkette werden weltweit immer wichtiger.

    Ihr
    Fabian Peltsch
    Bild von Fabian  Peltsch

    Analyse

    “Die Menschen haben Angst in die ‘Zombie-Staatsbürgerschaft’ abzurutschen”

    Sie schreiben in “On the Edge: Feeling Precarious in China” über Prekarität in der Volksrepublik. Was bedeutet es, sich im China des 21. Jahrhunderts prekär zu fühlen?

    Das ist die Schlüsselfrage, die ich in dem Buch stelle. Seit der Jahrtausendwende ist Prekarität ein entscheidendes Schlagwort unserer Zeit. Nach der Finanzkrise von 2008 hat der Begriff noch an Bedeutung zugenommen. Aber trotz der Tatsache, dass es in China schon immer Menschen in prekären Lebenssituationen gab, war “Prekarität” bis vor Kurzem kein Konzept, das auf die chinesische Gesellschaft angewandt wurde, insbesondere nicht in Bezug auf kulturelle Formen.

    Dennoch gibt es auch im kommunistischen China weiterhin viele einkommensschwache Haushalte.

    Um zu verstehen, wie sich Prekarität in China anfühlt, muss man sich vor Augen halten, dass es dort eine Unterschicht von 300 bis 400 Millionen Menschen gibt – die größte derartige Kohorte in der Geschichte der Menschheit. Der Begriff Prekarität wird zudem eher mit Ungleichheit als mit Wohlfahrt in Verbindung gebracht. Chinas Unterschicht hat viel Schlimmes ertragen müssen. Diese Menschen haben die Hauptlast des ungleichen Hukou- und des Suzhi-Systems, also des Bevormundungsstaats, getragen, Formen staatlicher Kontrolle, die im Wesentlichen auf sozialer Trennung beruhen. Diese Erfahrungen der Unterschicht lassen sich besser im Sinne von Vertreibung oder sogar Verbannung beschreiben. In meinem Buch zeige ich diesen Weg auf und wie sich dieser in kulturellem Schaffen wiederfindet. 

    Die Lebenssituation der Arbeitsmigranten in China kann als prekär bezeichnet werden und ist allgemein bekannt. Was bedeutet Prekarität über die Wanderarbeiter hinaus?

    Beispiele für andere soziale Gruppen, die derzeit prekär sind, sind Absolventen von Elite-Universitäten, die keinen Job finden. IT-Mitarbeiter, die in Chinas 996-Arbeitskultur  (996 工作制, von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche, Anmerkung der Redaktion) gefangen sind. Oder auch Lieferfahrer in der Plattformindustrie des Landes, die erkennen müssen, dass die vermeintliche Flexibilität der Gig Economy illusorisch wird, weil sie in Algorithmen gefangen sind, die sehr harte Arbeitsbedingungen als Folge haben. Aber es gibt auch düsterere Beispiele weiter unten auf dem Weg zur Verbannung, darunter Wanderarbeiter: Menschen, die eine Zwangsräumung erlebt haben. Menschen, die hart arbeiten, aber denen ihr Lohn vorenthalten wird, insbesondere in der Baubranche, oder die aufgrund hoher Mietpreise gezwungen sind, in Schiffscontainern und stillgelegten Bunkern zu leben. Alle diese Menschen erleben derzeit in China Prekarität oder sogar Vertreibung.

    In Ihrem Buch sprechen Sie von “Zombie-Staatsbürgerschaft” (“zombie citizenship).

    Es handelt sich um einen Zustand von Verbannung aus dem Schutz des Gesetzes. In diesem befindet sich derzeit eine Minderheit der Chinesen, die in diesem Zustand dahinsiecht, obwohl sie nach dem Gesetz des Landes theoretisch volle, ja sogar privilegierte Persönlichkeitsrechte genießen sollten. Artikel 1 der chinesischen Verfassung besagt eindeutig, dass die Volksrepublik China ein sozialistischer Staat ist, der unter einer demokratischen Diktatur des Volkes steht, die von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis von Arbeitern und Bauern basiert. Der Begriff “Zombie-Staatsbürgerschaft” ist notwendig, weil er den Zustand wiedergibt, in dem viele arbeitende Menschen in China durch die Arbeit gefesselt sind und gleichzeitig keinen Schutz durch das Gesetz erfahren – ungeachtet dessen, was dieses Gesetz ihnen schwarz auf weiß zuspricht.

    Verstehe ich es richtig? Diese Menschen sind am Leben, existieren auf dem Papier, aber erfahren aufgrund ihrer prekären Existenz ohne Grundrechte oder einem Stadt-Hukou nicht die vollen Rechte der Staatsbürgerschaft?

    Ja. Allerdings muss ich sagen, dass ich den Begriff “Zombie” nicht zur Beschreibung der Menschen selbst verwende. Es ist ein provokantes Wort: Zombies sind aus dem Grab auferstandene Kreaturen ohne die Fähigkeit zu sprechen, zu denken oder zu handeln. Deshalb verwende ich den Begriff “Zombie-Staatsbürgerschaft”, um den Zustand des bürgerlichen Halblebens zu beschreiben, in dem sich manche Menschen in gegenwärtigen prekären Situationen befinden. Die Angst, in diese “Zombie-Staatsbürgerschaft” abzurutschen, treibt nicht nur die Unterschicht um. Sie trifft auch Menschen, die auf den ersten Blick in weitaus sichereren Umständen zu leben scheinen. 

    Sie verbinden Kultur mit Prekarität. Wie passen diese beiden zusammen, insbesondere jetzt im digitalen Zeitalter?

    Die Angst vor einem Abstieg hat in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts bis zur Corona-Pandemie zu Unruhe in der chinesischen Gesellschaft geführt. Diese Spannung spiegelt sich auch im kulturellen Schaffen wider. Ich betrachte ein breites Spektrum künstlerischer Formen, durch die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ihren Gefühlen der Angst und des Misstrauens, der Verachtung und der Wut Luft machen. Dies sind dunkle Gefühle, die in Chinas sogenannter “harmonischer Gesellschaft”, in der “positive Energie” der vorherrschende Ton sein soll, grundsätzlich tabu sind. Ich habe mir für das Buch verschiedene Materialien angeschaut: Gedichte, Magazine, Social-Media-Beiträge, kurze Online-Videos, Performance-Kunst, Dokumentarfilme, Installationen, Interviews. Als ich tiefer in dieses Archiv eintauchte, stellte ich fest, dass diese dunklen Gefühle sehr persönlich sind. Sie sind äußerst antagonistisch.

    Wie zeigt sich das?

    In einer Art feindlicher Konfrontation: zwischen Avantgarde-Künstlern und den verzweifelten Migranten, die sie für demütigende Performance-Stücke rekrutieren. Zwischen unbezahlten Bauarbeitern, die vor laufender Kamera drohen, vom Dach zu springen, und ihren unmoralischen Chefs unten auf der Straße. Zwischen Dichtern, die in der Foxconn-Fabrik am Band stehen und den multinationalen Konzernen, die diese ausbeutenden Verhältnisse durchsetzen. Zwischen Nutzern der Livestreaming-Apps, die vor laufender Kamera Exkremente essen oder Feuerwerkskörper auf ihre Genitalien zünden, und den sozialen Besserwissern, die sie dann als vulgär bezeichnen. Diese Begegnungen sind angespannt und aggressiv. Aber in einer Gesellschaft, in der aktive Solidarität oft blockiert wird, können diese Momente des Antagonismus auch eine weitere Möglichkeit sein, wichtige Berührungspunkte zwischen Menschen zu schaffen.

    Hat die Pandemie die Prekarität in China beschleunigt?

    Für Menschen, die bereits ausgegrenzt waren, hat Covid diese Marginalität verstärkt. Ein Beispiel sind Lieferfahrer. Sie waren die Arbeitenden, die in die leeren Städte gingen, um lebenswichtige Lieferungen zu erledigen. Dennoch wurden sie oft als potenzielle Überträger des Virus stigmatisiert. Mit anderen Worten: Sie wurden gesellschaftlich bestraft, weil sie einen wichtigen öffentlichen Dienst leisteten. Ihre prekäre Lage, die vor dem Ausbruch recht intensiv war, verschärfte sich während der Pandemie noch weiter.

    Das klingt hochgradig ungerecht.

    Auch bei vermeintlich sichereren Menschen kam es zuweilen zu einem zwangsweisen Entzug von Rechten. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist der Lockdown in Shanghai 2022. Shanghai ist eine Metropole voller Elite-Fachkräfte. Doch viele waren in ihren Häusern eingesperrt und hatten keinen Zugang zu Freiheiten, die sie zuvor für selbstverständlich gehalten hatten. Plötzlich wurde ihnen klar, dass ihr Zugang zu Grundrechten möglicherweise genauso dürftig war wie der von Menschen, die auf der sozialen Leiter unten stehen.

    Im letzten Fünfjahresplan hatte die KPCh bereits angekündigt, Änderungen am Hukou-System vornehmen zu wollen. Wäre das ein wirksames Mittel gegen Prekarität?

    In den letzten Jahren gab es viele öffentlichkeitswirksame Äußerungen, die das Ende der auf Hukou basierenden sozialen Apartheid versprachen. Auf einer Ebene scheinen diese Veränderungen unvermeidlich, da Xi Jinpings Leitpolitik des “gemeinsamen Wohlstands” grundsätzlich unvereinbar mit der Fortsetzung des Hukou ist. Doch viele dieser politischen Initiativen haben nur an der Oberfläche gekratzt. Insbesondere die Entscheidungsfindung über Hukou ist nach wie vor zu dezentralisiert. Sie gehe auch häufig nicht das Problem der Hukou-Beschränkungen in den Megastädten an, die für viele Migranten auf dem Land immer noch das bevorzugte Ziel sind. Aus diesem Grund herrscht in den Medien sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas große Skepsis darüber, ob diese Reformen des Hukou-Systems tiefgreifend und umfassend genug sein werden. 

    Margaret Hillenbrand ist Professorin für moderne chinesische Literatur und Kultur an der Universität Oxford. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Literatur- und Bildwissenschaften in China, Hongkong, Taiwan und Japan des 20. und 21. Jahrhunderts, primär auf Kulturen des Protests und der Geheimhaltung. Zu ihren Büchern gehören “Negative Exposures: Knowing What Not to Know in Contemporary China

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    VW bleibt bei Union ein nachhaltiges Investment

    Das Ergebnis einer Sonderprüfung des Volkswagen-Werks in der chinesischen Region Xinjiang hat den Ausschlag gegeben: Die Fondsgesellschaft Union Investment stuft die VW-Aktie weiterhin als “investierbar” für nachhaltige Geldanlagen ein. “Die Veröffentlichung des Audits ist ein Schritt in die richtige Richtung”, sagt Henrik Pontzen, Leiter Nachhaltigkeit im Portfoliomanagement von Union Investment, gegenüber Table.Media. VW müsse jedoch langfristig weitere Audits vornehmen und ein funktionierendes Beschwerdemanagement einrichten, um da Vertrauen der Anleger zu erhalten.

    Am Tag nach Veröffentlichung der Erkenntnisse der Inspektoren ergibt sich damit ein gemischtes Bild:

    • Einerseits zeigen sich Investoren erleichtert, was sich am Mittwoch am steigenden Kurs der VW-Aktie zeigte. Auch die Beseitigung eines Warnhinweises (“Red Flag”) in der Kategorie Soziales durch den großen Börsenindexverwalter MSCI ist jetzt im Gespräch. Analysten des US-Bankhauses Citi schrieben, es sei “eine Last von der Aktie gefallen”.
    • Andererseits bleiben Zweifel an der Aussagekraft des Audits. Die Kritik an VW zielte von Anfang an mehr darauf, dass ein deutscher Konzern überhaupt in einer so hochproblematischen Region engagiert ist und der chinesischen Politik in Xinjiang damit Legitimität verleiht. VW gilt in China aber generell als guter Arbeitgeber, konkrete Menschenrechtsverletzungen vor Ort im Werk hatte eigentlich niemand erwartet.

    Die unabhängigen Kontrolleure konnten ihre Untersuchung aber eben nur dort, im Werk Ürümqi, durchführen. Der Gesamtzusammenhang in der Region Xinjiang ist wegen der Intransparenz des chinesischen Systems nur schwer zu ergründen. Die potenziellen Lieferketten-Risiken in China sind damit für VW also noch nicht ausgestanden.

    Umstrittener Standort

    VW betreibt im westchinesischen Ürümqi seit 2012 eine Fabrik, die wegen ihrer räumlichen Nähe zu systematischen Menschenrechtsverletzungen am Volk der Uiguren umstritten ist. Die Beratungsfirma Löning – Human Rights & Responsible Business hatte die Verhältnisse im Werk überprüft und keine Auffälligkeiten gefunden.

    Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning hat diese Firma vor zehn Jahren gegründet. Löning und sein Unternehmen genießen einen guten Ruf. Löning selbst schränkte bei Vorstellung des Berichts ein: “Die Situation in China und Xinjiang und die Herausforderungen bei der Datenerhebung für Audits sind bekannt.” Sein Team hat vor allem nach Verstößen gegen Arbeitsbestimmungen bei den 197 Mitarbeitern vor Ort gesucht. “Wir konnten keine Hinweise auf oder Belege für Zwangsarbeit bei den Mitarbeitenden finden”, so Löning.

    To-do-Liste für Volkswagen

    Für VW hing viel von Lönings Urteil ab. Die Einstufung als nachhaltiges Investment durch Firmen wie Union Investment ist wichtig für die Finanzierungsfähigkeit von Volkswagen. Die konkurrierende Deka Investment hat sich bereits aus der Aktie zurückgezogen. Unternehmen wie Volkswagen sind auf solche Großanleger angewiesen, um sich Kapital zu verschaffen.

    VW ist nach Ansicht von Union Investment damit jedoch noch nicht am Ziel, es bleibt noch viel zu tun. “In China dürfen Audits keine einmalige Übung bleiben“, sagt Pontzen. “Außerdem muss ein funktionierendes Beschwerdemanagement etabliert werden.” Auch bleibe “die schwache Corporate Governance” bei VW eine Achillesferse. Corporate Governance – das ist gute Unternehmensführung.

    Union Investment sieht weiteren Handlungsbedarf

    Trotz der theoretischen Entscheidung, die VW-Aktie wieder in als nachhaltig gekennzeichnete Fonds stecken zu können, ist das derzeit bei Union Investment bei keinem Produkt der Fall. Das Wertpapierhaus zögert also mit der praktischen Konsequenz aus der Einstufung als “investierbar”. “Wir werden VW als aktiver Aktionär weiter kritisch begleiten”, kündigte Pontzen an.

    Union Investment unterscheidet dabei zwischen Investierbarkeit nach Artikel 8 und nach Artikel 9 des EU-Plans für eine nachhaltige Finanzwirtschaft (der sogenannten Offenlegungsverordnung):

    • Eine Einstufung nach Artikel 8 gilt für Fonds, die Nachhaltigkeitsziele anstreben, aber nicht als wichtigstes Anlagekriterium haben. Union Investment sieht die VW-Aktie für diese Stufe der nachhaltigen Geldanlage geeignet.
    • Eine Einstufung nach Artikel 9 gilt für Fonds, die ausdrücklich und in erster Linie Nachhaltigkeitsziele abbilden. Union Investment erachtet die VW-Aktie dafür als nicht unbedingt geeignet.

    Auch der Dachverband Kritische Aktionärinnen und Aktionäre (DKA), der Kleinanleger in Umwelt-, Sozial- und Governance-Fragen vertritt, zeigte sich skeptisch. Anders als die Union Investment stellt der DKA den Wert solcher Inspektionen generell in Frage. In Anbetracht des eingeschränkten Umfangs der Untersuchung sei der Wert künftiger Audits fraglich, sagte DKA-Geschäftsführer Tilman Massa der Nachrichtenagentur Reuters.

    Zunehmende Brisanz durch EU-Regeln

    Den Unternehmen im China-Geschäft ist ebenso wie den professionellen Aktionären klar, dass die Aufmerksamkeit für Sozialstandards in der Lieferkette immer weiter zunimmt. Als Wendepunkt in der Wahrnehmung gilt der Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesh; seitdem gehört das Geschehen in der Lieferkette für immer mehr Fonds zu den Kriterien für die Auswahl von Aktien.

    Der nächste große Meilenstein wird das EU-Sortfaltspflichtengesetz, wenn es eines Tages kommt. Es rückt Umwelt-, Menschenrechts- und Sozialprobleme bei Zulieferern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Anders als das deutsche Lieferkettengesetz verpflichtet es nicht nur zur Betrachtung der direkten Geschäftspartner, sondern der ganzen Lieferkette. Das dürfte in der chinesischen Industrie sehr aufwändig werden.

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    • Volkswagen
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    News

    Italiens Regierung informiert Peking über BRI-Austritt

    Die italienische Regierung hat einem Medienbericht zufolge China offiziell über das Ende seiner Beteiligung an der Neuen Seidenstraße informiert. Rom habe demnach bereits zu Beginn der Woche Peking in einer Verbalnote den formellen Ausstieg aus der Belt and Road Initiative (BRI) bestätigt, berichtete die italienische Tageszeitung Corriere della Serra am Mittwoch. Beide Seiten wollten jedoch stattdessen die strategische Partnerschaft, die zwischen Italien und China seit mehr als zehn Jahren besteht – die aber nie vollständig umgesetzt wurde – so weit wie möglich neu beleben, hieß es in dem Bericht unter Berufung auf das Schreiben. Nach Außen gab es zunächst weder von italienischer noch chinesischer Seite eine Mitteilung dazu.

    Italien war 2019 die erste und bisher einzige G7-Nation, die sich der BRI formal angeschlossen hatte. Der damalige Ministerpräsident Giuseppe Conte und Chinas Staatschef Xi Jinping hatten dazu mit großem Brimborium ein Memorandum of Understanding (MoU) in der Villa Madama unterzeichnet. In der Realität blieb das MoU jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Kooperationsvereinbarung läuft im März 2024 aus. Rom musste also bis Ende des Jahres eine Entscheidung treffen.

    Für den EU-China-Gipfel, der am Donnerstag in Peking stattfindet, wird der formale Austritt von EU-Staat Italien nicht Thema sein. Dass Rom vorhatte, die BRI zu verlassen, war seit längerer Zeit klar. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni habe sich “in jeder Hinsicht für einen sanften Ausstieg aus der Seidenstraße entschieden”, sagte Journalistin und China-Expertin Giulia Pompili Table.Media. “Sie wollte vermeiden, dass am 10. Jahrestag des Starts des strategischen Projekts eine starke Anti-China-Haltung die Führung Pekings verärgern würde.” Politisch sei der Zeitpunkt aber dennoch interessant: Italien hatte bis zum 22. Dezember Zeit, den Austritt anzukündigen. Dass Rom den Schritt nur wenige Tage vor dem Gipfeltreffen vollzogen habe, kann Pompili zufolge auch als Botschaft der Unterstützung an die EU-Vertreter gesehen werden.ari

    • Neue Seidenstraße

    IW: Deutsche Firmen tun zu wenig

    In Politik und Wirtschaft ist im Umgang mit China viel von De-Risking die Rede. Doch passiert ist offenbar noch wenig. Nach Ansicht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unternehmen deutschen Firmen nicht genug, um ihre einseitigen Abhängigkeiten von China zu reduzieren. “Das De-Risking ist in Gang gekommen, aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Es passiert noch zu wenig, obwohl die Zeit drängt”, erklärte IW-Handelsexperte Jürgen Matthes am Mittwoch laut Nachrichtenagentur AFP. Viele Unternehmen setzten sogar auf mehr statt weniger Importe aus der Volksrepublik.

    Die Untersuchung des IW zeigt, dass von 400 befragten Unternehmen allein in Nordrhein-Westfalen 40 Prozent abhängig von Produkten aus China sind. Davon erwartet rund ein Drittel, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändert, 48 Prozent gehen sogar von einer wachsenden Bedeutung Chinas aus.

    Es sei eigentlich Aufgabe der Unternehmen, kritische Abhängigkeiten zu reduzieren, erklärte das IW gegenüber AFP. Wegen staatlicher Subventionen bleibe die chinesische Industrie jedoch ein guter und günstiger Handelspartner. Wollen die Firmen wettbewerbsfähig bleiben, müssten sie auf China als Partner setzen. “Hier liegt eine Art Marktversagen vor”, erklärte Matthes. Aus gesamtwirtschaftlicher und geostrategischer Sicht sei es dringend geboten, Abhängigkeiten zu verringern. 

    Wenn sich die Einstellung der Unternehmen dazu nicht zeitnah ändere, sollte die Politik weitere Anreize schaffen, um kritische Abhängigkeiten zu vermindern, forderte Matthes. flee

    • De-Risking
    • Deutschland
    • Handel
    • Technologie

    Auswärtiges Amt will deutsch-taiwanischen Austausch fördern

    Deutschland und Taiwan sollen nach Angaben des Bundesaußenministeriums auf zivilgesellschaftlicher Ebene in einen engeren Austausch gehen. Dazu plant das Deutsche Institut Taipei und die Taipei-Vertretung in Berlin eine neue deutsch-taiwanische Dialogplattform, wie das Auswärtige Amt am Mittwoch mitteilte. Ziel der Plattform sei es, “einen lebendigen zivilgesellschaftlichen Austausch zu fördern, gerade vor dem Hintergrund verstärkter bilateraler Wirtschaftskontakte.” Die Dialogplattform soll demnach zwölf Mitglieder pro Seite haben und sich jährlich im Wechsel in Deutschland und Taiwan treffen. Auf der deutschen Seite wird der Grünen-Europapolitiker Reinhard Bütikofer den Vorsitz übernehmen. Die Arbeit der Dialogplattform soll im kommenden Jahr beginnen. ari

    Jedes dritte verkaufte Auto fährt elektrisch

    Chinas Automarkt hat im November wieder zugelegt. Wie der Branchenverband PCA (China Passenger Car Association) mitteilte, seien im letzten Monat 2,06 Millionen Fahrzeuge an Kunden ausgeliefert worden. Das ist rund ein Viertel mehr als vor einem Jahr.

    Allerdings hatten vor einem Jahr Lockdowns in zahlreichen chinesischen Regionen dazu beigetragen, dass die Nachfrage der Pkw sank. Gegenüber dem Oktober verzeichnete der Verkauf im November ein Plus von einem Prozent.

    Elektroautos sind dabei weiter auf dem Vormarsch. Fast jedes dritte verkaufte Auto ist vollelektrisch oder mit Plug-in-Hybrid. Dies waren den Angaben zufolge knapp ein Drittel mehr als noch vor einem Jahr. flee

    • Elektromobilität
    • Handel
    • Technologie

    Prada will Geschäft in China verdoppeln

    Prada will sein Geschäft in China verdoppeln. Das erklärte Gianfranco D’Attis, der Vorstandsvorsitzende der italienischen Marke, am Mittwoch vor Reportern in Shanghai. “Wir haben viele Ambitionen in China”, so der ehemalige Dior-Manager, der im Januar das Ruder bei Prada übernommen hat. “Damit einher geht auch eine Erhöhung unserer Investitionen.”

    D’Attis nannte keinen genauen Zeitrahmen für sein Vorhaben, sagte aber, dass die erhöhten Investitionen nicht unbedingt einen großen Anstieg der Zahl der im Land eröffneten Geschäfte bedeuten würde. “Nicht nur die Anzahl der Läden ist für uns wichtig, sondern auch die Qualität der Läden, größere Läden mit mehr Kategorien, mit mehr lokalisierten Produkten, mit mehr Erlebnissen, mit mehr Gastfreundschaft, mehr Veranstaltungen.”

    Die Prada-Gruppe, zu deren Marken auch der klassische englische Schuhhersteller Church’s gehört, meldete im November für das dritte Quartal einen Umsatzanstieg von 10 Prozent und erklärte, die starken Umsätze in Asien und Europa hätten dazu beigetragen, die Schwäche in Nord- und Südamerika auszugleichen. China ist einer der wichtigsten Luxusmärkte der Welt. Nach Prognosen der Unternehmensberatung Bain wird die Volksrepublik bis zum Jahr 2030 fast 40 Prozent des weltweiten Luxusumsatzes ausmachen. rtr

    • Handel
    • Konsum
    • Luxusgüter

    Presseschau

    Chinas “Neue Seidenstraße”: Italien zieht sich zurück WIWO
    Die EU und China treffen sich in Peking zum Gipfel FAZ
    Europa will seine Beziehungen zu China neu ausloten DER STANDARD
    EU-China-Gipfel: “Für viele Industrien geht es ums Überleben” HANDELSBLATT
    Krieg in Nahost: Außenminister der USA und Chinas rufen zur Deeskalation auf DEUTSCHLANDFUNK
    China hopes Myanmar achieves rapid national reconciliation – Wang Yi REUTERS
    China says ally Venezuela, Guyana must resolve border disput TIMES OF INDIA
    Hongkongs Opposition vor Gericht: “Es geht hier um Macht” SPIEGEL
    EU will sich mit Rohstoffgesetz von China loseisen DER STANDARD
    China”s graphite export curbs a new cloud over U.S. EV supply chain AUTONEWS
    Bekannte Modefirmen sollen von uigurischer Zwangsarbeit profitieren ZEIT
    China says it “firmly opposes” UK sanctions on its companies TIMES OF INDIA
    China hopes Microsoft will play constructive role in China-US cooperation on AI CHANNEL NEWS ASIA
    Taiwan probes free China trips used to “influence” election THE HINDU
    Deutsche Unternehmen setzen in Asien verstärkt auf De-Risking HANDELSBLATT
    Maschinenbauer fordern gleiche Wettbewerbsbedingungen mit China N-TV
    China”s hidden debt spurs warnings of more Moody”s downgrades NIKKEI
    China: Größte Bank der Welt, Industrial and Commercial Bank of China, mit Problemen FINANZMARKTWELT
    China to set up coal production reserve to stabilise prices REUTERS
    Volkswagen in China: Größter Automarkt der Welt legt deutlich bei Neuanmeldungen zu WOLFSBURGER ALLGEMEINE
    China starts up world”s first fourth-generation nuclear reactor DECCAN HERALD
    China launches internet technology test satellite from sea barge SPACENEWS

    Heads

    Leonie Suna-Kiefer – die neue Kraft in der Stiftung Asienhaus 

    Das erste Mal hörte Leonie Suna-Kiefer die chinesische Sprache von Touristen in ihrer kleinen Heimatstadt am Bodensee. Damals noch ein Kind war sie bereits fasziniert von Mandarin. Nach dem Abitur reiste sie 2012 nach Thailand, Laos – und schließlich nach China. “Ich war eingeschüchtert, fasziniert und voller Neugierde dem Unbekannten gegenüber”, erinnert sie sich.

    Auch daran, dass ihr von deutschen Medien geprägtes China-Bild ganz und gar nicht mit dem übereinstimmte, was sie dort erlebte. “Mir wurde bewusst, dass ich mit einer gewissen Arroganz nach China gekommen war, um festzustellen, dass sich das Land ganz anders entwickelt hatte und aus technologischer Perspektive dabei war, an Deutschland vorbeizuziehen.” Statt Fahrräder waren nur Elektroroller auf den Straßen der chinesischen Millionenstädte zu sehen. 

    Zurück in Deutschland war das Interesse endgültig geweckt – “und ein gewisser Ehrgeiz, diese scheinbar unlernbare Sprache zu beherrschen.” In Köln studierte sie Regionalstudien China und schrieb ihre Masterarbeit zum chinesischen Sozialkreditsystem. “Mir war es wichtig, einen neuen Blickwinkel auf das SKS zu eröffnen, um aufzuzeigen, wie in chinesischen Medien über das SKS berichtet wird und welche Rolle das System im Alltag der Menschen tatsächlich spielt.”

    Ein weiterer Schwerpunkt waren die Entwicklungen im Bereich der chinesischen Klimapolitik, die Suna-Kiefer bis heute aufmerksam verfolgt. Ein Jahr verbrachte sie während ihrer Studienzeit in Chengdu an der Sichuan Universität. “In besonderer Erinnerung bleiben die Teehäuser, das unvergleichlich betäubend scharfe Sichuan Essen und die offene und lebensfrohe Mentalität der Menschen”, erzählt sie.  

    Dialograum für globalpolitische Probleme 

    Was sie später mit ihrem Studium machen wird, schien zumindest allen anderen stets klar zu sein. “In der Wirtschaft wird China immer wichtiger, da findest du bestimmt was!”, erzählt sie, hieß es damals. Dabei hatte die junge Frau einen ganz anderen Wunsch. Sie wollte Brücken zwischen den Zivilgesellschaften Chinas und Deutschlands schlagen.

    Seit Dezember letzten Jahres sitzt sie dafür an genau der richtigen Stelle: als China-Programm-Managerin in der Stiftung Asienhaus, einer Organisation, die sich nach eigenen Angaben für die Verwirklichung der Menschenrechte, für die Stärkung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, sowie für soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt einsetzt. “Diese Art der Arbeit im China-Kontext war für mich wie das Finden der goldenen Nadel im Heuhaufen.” Mit Blick auf den Klimawandel betont sie, dass die großen Probleme unserer Zeit nur gemeinsam gelöst werden können. Dafür sei das Pflegen und Eröffnen von Dialogräumen unerlässlich. 

    Wenn Suna-Kiefer auf ihr erstes Jahr im China-Programm zurückblickt, kommt es ihr vor, als sei es blitzschnell vorbeigezogen. Es gab auch einiges zu tun: Newsletter schreiben, Veranstaltungen organisieren, Publikationen verfassen, Netzwerkarbeit und einen Kurs leiten bei der Einsteigerakademie China, ein Angebot des Bildungsnetzwerks China für Jugendliche.

    Außerdem arbeitet sie mit ihrer Kollegin Joanna Klabisch an einem aktuellen Projekt mit dem Titel “Die Klimakrise, Global China und zivilgesellschaftliche Advocacy in Asien”. Dabei entstehen Plattformen für Vertreter aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Über die Diskussionsplattformen soll ein Austausch über den Einfluss chinesischer Investitionen auf die Klimakrise in anderen asiatischen Ländern stattfinden.  

    “Gerade ist eine sehr polarisierte Zeit für die Arbeit im China-Kontext”, betont Suna-Kiefer. “Es zeichnet sich eine immer weitere Verhärtung der politischen Fronten zwischen China und dem sogenannten ‘Westen’ ab. Das betrifft auch unsere Arbeit.” Nach der extremen Abschottung während der Corona-Pandemie müsse auf allen Ebenen Beziehungsarbeit betrieben werden. Aktuell sieht Suna-Kiefer sich mit veränderten Arbeits- und Dialogmöglichkeiten in und mit China konfrontiert und mit Rahmenbedingungen, die immer enger werden. Suna-Kiefer: “Die Arbeit ist herausfordernd, aber wir tun alles dafür, weiterhin auf zivilgesellschaftlicher Ebene mit China zusammenzuarbeiten.” Svenja Napp 

    Translation missing.

    Personalien

    Laura Bonsaver ist neue Associate Director of Mentorships bei der britischen Nichtregierungsorganisation Young China Watchers.

    Vincent Lian ist seit November Marketing Communications Specialist für Greater China bei der norwegischen Klassifikationsgesellschaft DNV. Er war zuvor Marketing Consultant bei La Décoration in Shanghai.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Dessert

    McDonalds China nimmt einmal mehr die kaufkräftige Kundenschicht junger “Haustiereltern” ins Visier. Nachdem die US-Fastfoodkette bereits 2021 ein sofort vergriffenes Katzenbett in Form einer Burger-Box herausgebracht hatte, folgte nun ein Katzen-Carrier, der einer Take-Away-Papiertüte nachempfunden ist. Die in drei Designs erhältliche Handtasche, die auch als Katzenbett fungieren soll, ist auf 500.000 Stück limitiert und nur in Kombination eines teuren Combo Meals erhältlich. Auf Social Media-Seiten gingen die Katzen im Sack umgehend viral. Der Hashtag “McDonald’s Katzenbett” erreichte allein auf Weibo 160 Millionen Aufrufe.

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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