Table.Briefing: China

US-Journalist Jeremy Goldkorn im Interview + Pekings Narrativ für die COP28

Liebe Leserin, lieber Leser,

eine tiefgehende, faktenbasierte und möglichst ausgewogene Berichterstattung über die Volksrepublik in den USA – das war das Ziel von “The China Project”. Es ist gescheitert. Vor wenigen Wochen musste Chefredakteur Jeremy Goldkorn das Aus verkünden. Zuvor hatten beide politischen Seiten die Plattform ins Kreuzfeuer genommen. Kritiker aus den USA und aus China erhoben schwere Anschuldigungen gegen das ehrgeizige Projekt. Im Interview mit Fabian Peltsch spricht Goldkorn über seine Erfahrungen, die China-feindliche Atmosphäre in den USA und darüber, warum er mit dem Gedanken spielt, sich ganz von dem Thema abzuwenden. Offenbar kostet es zu viel Kraft, einen differenzierten Blick zu bewahren.

Ein differenzierter Blick dürfte auch der Einstufung Chinas als Entwicklungsland guttun. Denn auf diesem Status beharrt der größte Treibhausemittent der Welt hartnäckig – insbesondere, wenn es um Klimafinanzierung geht. Denn Industrieländer müssen für den globalen Klimaschutz zahlen, während Entwicklungsländer sogar Anspruch auf Hilfen haben. Doch auf der laufenden Klimakonferenz COP28 wird es für China nicht so einfach sein, dieses Narrativ aufrechtzuerhalten, schreibt Christiane Kühl. Nicht nur die traditionellen Industrieländer, auch kleine verletzliche Inselstaaten fordern schon länger, dass Schwellenländer wie China mehr tun müssten.

Einen guten Wochenstart wünscht Ihnen

Ihre
Carolyn Braun
Bild von Carolyn  Braun

Analyse

 “Die Atmosphäre in den USA ist reflexartig China-feindlich”

Jeremy Goldkorn hat “The China Project” entwickelt und war bis zur Einstellung im November dessen Chefredakteur.

Das Ende von “The China Project” wird von vielen als großer Verlust für eine ausgewogene China-Berichterstattung im englischsprachigen Raum gewertet. Wie schätzen Sie die Gefahren einer zunehmend unterkomplexen Berichterstattung über die Volksrepublik für den öffentlichen Diskurs ein?

In gewisser Weise gibt es in den globalen Medien mehr tiefgehende Berichterstattung über China als noch vor zehn Jahren: Medienhäuser wie die New York Times, das Wall Street Journal und die Financial Times verfügen alle über große China-Teams, und China steht häufig ganz oben auf den Homepages. Andererseits ist es für ausländische Journalisten sehr schwierig, in China zu arbeiten, und nur wenige tun dies derzeit. Journalisten werden ständig überwacht und schikaniert, während die chinesische Regierung gleichzeitig immer mehr Online-Informationsquellen blockiert.

Empfinden Sie die derzeitige Berichterstattung der großen Medienhäuser über China denn als ausgewogen genug?

Ein Großteil der China-Berichterstattung folgt nur aktuellen Themen, die den durchschnittlichen westlichen Leser ansprechen, und die Geschichten ähneln sich bei den verschiedenen Medienhäusern sehr. In den USA folgen die Inhalte zumeist konventionellen Weisheiten von Washington D.C. und der Wall Street, und das wird auch nicht groß infrage gestellt. Wir wollten es mit “The China Project” anders machen. Wir wollten nuancierter berichten und ein breiteres Spektrum von Standpunkten präsentieren – sowohl solche, die China gegenüber sehr hart sind, als auch solche, die dem Land wohlgesonnen gegenüberstehen.

Obwohl Sie versucht haben, fair zu berichten, gerieten Sie von beiden Seiten ins politische Kreuzfeuer. Waren Sie überrascht, von Falken wie dem US-Republikaner Marco Rubio als zu China-freundlich angegriffen und gleichzeitig von der chinesischen Regierung blockiert zu werden?

Ich war eigentlich zunächst einmal überrascht, dass wir in China nicht früher als 2018 blockiert wurden. Was ich nicht erwartet hatte, war der bösartige Angriff, den wir im Frühjahr 2022 erlebten. Es begann mit einem Beitrag eines nationalistischen Bloggers auf Wechat über einen Bericht, den wir über die Reaktionen der chinesischen Netzgemeinde auf den Ukraine-Krieg verfasst hatten. Dann folgten eine Reihe von Berichten in den staatlichen Medien, in denen behauptet wurde, wir würden absichtlich versuchen, China schlecht aussehen zu lassen. In einigen Kommentaren hieß es, wir wollten einen Regimewechsel erzwingen und würden vom US-Militär finanziert.

Marco Rubio beschuldigte ihr Team, Agenten der chinesischen Regierung zu sein.

Die Sache mit Marco Rubio kam aus heiterem Himmel. Wir hatten eine ehemalige Arbeitnehmerin, die eine sogenannte “Whistleblower-Beschwerde” gegen uns eingereicht hat. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Es schien mir so realitätsfern und so weit weg von jeglicher legitimer Kritik an uns, dass wir irgendwie von der Kommunistischen Partei kontrolliert oder bezahlt würden. Im Nachhinein hätte ich nicht überrascht sein sollen. Die Atmosphäre in den Vereinigten Staaten ist im Moment so reflexartig China-feindlich. Es ist buchstäblich das Einzige, worauf sich die beiden großen Parteien in diesem Land einigen können: die Vorstellung, dass wir gegenüber China hart durchgreifen müssen. Selbst Lokalpolitiker in Orten wie Tennessee führen Kampagnen mit Slogans über den “Kampf gegen China”. Als ob es keine Probleme gäbe, die die Menschen dort wirklich betreffen, wie Schlaglöcher in den Straßen oder die Opioid-Abhängigkeit.

War das der Grund, warum Sie am Ende mit “The China Project” aufgeben mussten?

Wir waren ein investitionsgetriebenes Online-Unternehmen. Wir erwarteten einen Batzen Geld, eine bestimmte Investition, und nichts ließ uns glauben, dass diese infrage stand. Aber die betreffende Person änderte plötzlich ihre Meinung. Der Investor verlor wohl die Lust am Risiko, denn wir schienen nun politisch zu riskant zu sein, um sich bei uns zu engagieren. Es ging alles sehr schnell, und wir mussten leider feststellen, dass wir ohne dieses Geld Schulden anhäufen würden, die wir nicht zurückzahlen könnten, etwa Gehälter und Honorare für Freiberufler.

In Ihrer Abschiedsnotiz nannten Sie auch hohe Prozesskosten als Grund für das Ende. Welche Art von Rechtsstreitigkeiten mussten Sie führen?

Der Whistleblower-Bericht enthielt einige sehr schwerwiegende Anschuldigungen gegen uns. Er wurde von einer in Washington D.C. recht bekannten Anwaltskanzlei erstellt, die von einem ehemaligen CIA-Mann geleitet wird. Wir waren also ziemlich verängstigt und mussten ebenfalls einen Anwalt einschalten. Wir konnten schwerer Verbrechen beschuldigt werden, wie zum Beispiel der Tätigkeit als Agenten einer ausländischen Macht. Diese Anschuldigungen hätten wiederum zu Anklagen als Gefährder der nationalen Sicherheit führen können.

Aber schlimmer für uns als Unternehmen war, dass potenzielle Investoren verschreckt wurden: Wer will schon in ein Projekt investieren, das möglicherweise Ärger mit der Regierung bekommen kann? Das schwebte über unseren Köpfen, und ich denke, das hat letztendlich dazu geführt, dass besagter Investor nicht investiert hat.

Wie haben Sie die vielen Nachrichten aufgenommen, die Sie von Lesern erhalten haben, nachdem Sie das Ende von “The China Project” bekannt gegeben hatten?

Es war ein bisschen so, als wären wir Teilnehmer unserer eigenen Beerdigung. Die meisten Leute sagten nette Dinge und Worte der Unterstützung. Das war sehr erfreulich. Trotz der netten Botschaften ist es für uns jedoch nicht realistisch, als Unternehmen weiterzumachen. Wenn es weniger politische Feindseligkeit zwischen China und den USA gäbe, wäre es einfacher für uns gewesen, Geld und Abonnenten zu bekommen. Bessere Beziehungen zwischen China und dem Rest der Welt hätten wohl ebenfalls geholfen.

Wissen Sie schon, welche Projekte und Formate weiterleben werden und in welcher Form?

Ich denke, der Sinica-Podcast mit Kaiser Kuo wird einen Weg finden, weitergeführt zu werden. Ich hoffe auch, dass einige unserer Redakteure und Journalisten weiterhin über China schreiben werden. Es gibt eine Generation von Freiberuflern, die wir mit aufgebaut haben. Einige von ihnen haben bereits neue Stellen in anderen Medienhäusern gefunden. Ich selbst hatte noch nicht die Gelegenheit, mir genau zu überlegen, wie es für mich weitergeht. Um ehrlich zu sein, brauchte ich sowieso eine Pause.

Werden Sie weiterhin über China schreiben?

Vielleicht werde ich mich von diesem Thema abwenden. Man schreibt ständig über schreckliche Dinge in China und sieht sich gleichzeitig mit dieser geistlosen Feindseligkeit gegenüber dem Land auf der anderen Seite des Pazifiks konfrontiert. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich in der Mitte feststecke. Das ist anstrengend. Es bringt mich auf den Gedanken, dass ich vielleicht stattdessen über ein Land wie Bhutan oder Jamaika schreiben sollte.

Jeremy Goldkorn (chinesisch: 金玉米; Jīn Yùmǐ) wurde in Johannesburg geboren. 1995 zog er nach China, wo er die Plattform Danwei gründete, die sich mit chinesischen Medien, Märkten, Politik und Wirtschaft befasste und 2013 von der Financial Times übernommen wurde. Goldkorn entwickelte die Website “The China Project” und war bis zur Schließung im November 2023 Chefredakteur der auf tiefgehende Analysen spezialisierten Plattform. Seit 2015 lebt er in Nashville, Tennessee.

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COP28: China beharrt auf Entwicklungsstatus

Entwicklungsländer unter sich: Chinas Klimabeauftragter Xie Zhenhua führt COP28-Präsident Sultan Al Jaber durch den Pavillon der Volksrepublik auf der Klimakonferenz.

Ist China ein Entwicklungsland oder nicht? Schon auf der COP27 in Ägypten sorgte diese Frage für Zündstoff. Und auch auf der COP28 drängte sie sich von Beginn an in den Vordergrund. Denn es geht dabei um viel Geld: Industrieländer müssen für den globalen Klimaschutz zahlen, während Entwicklungsländer Anspruch auf Hilfen haben. Zum Auftakt der COP hat sich nun mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) erstmals ein Land zur internationalen Klimafinanzierung verpflichtet, das nicht zu den Annex-I-Staaten der Rahmenkonvention gehört – sprich: zu jenen Ländern, die 1992 bereits als Industrieländer galten. Sondern zu denen, die sich bis heute im Klimaschutz als Entwicklungsländer bezeichnen dürfen.

Die Zusage der VAE, 100 Millionen Euro für den neuen Loss and Damage Fund (LDF) beizusteuern, der für Schäden in armen Ländern zahlen soll, wirft ein Schlaglicht darauf, wie überholt die Kategorisierungen von 1992 sind. Die EU fordert beispielsweise Beiträge von “nicht-traditionellen” Geberländern, die seit 1992 reich geworden sind und jetzt mehr Verantwortung für die Klimafinanzierung übernehmen könnten: Saudi-Arabien, Südkorea – und allen voran China.

Traditionell im Camp der Entwicklungsländer

China aber beharrt trotz seiner rasanten Entwicklung auf der Position, ein Entwicklungsland zu sein. Das entspricht dem Selbstbild der Kommunistischen Partei. Und es ist finanziell günstig. Denn Entwicklungsländern stehen im Klimaschutz Privilegien zu, mit denen sie viel Geld sparen – nach dem Konzept der “gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung”. Dass China auf der Weltbühne trotzdem vom Rivalen USA als Partner auf Augenhöhe gesehen werden will, empfindet man in Peking nicht als Widerspruch.

Am Samstag verbrachten die Klimadelegationen beider Staaten Stunden miteinander, auch die beiden Klimabeauftragten Xie Zhenhua und John Kerry schalteten sich ein. Ihre Kooperation zählt als entscheidend für die Erfolge der COP. Er hoffe, man werde eine “korrekte Richtung für die Zukunft” finden, die möglichst viele Menschen einbeziehe, “sodass alle die Ergebnisse akzeptieren und damit zufrieden sein können”, sagte Xie am Samstag bei einer Pressekonferenz.

Einer der größten Knackpunkte der COP28 ist eine gemeinsame Linie über Reduktion und Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Eine Pflicht zum fossilen Ausstieg lehnte Xie schon vor der Konferenz als “unrealistisch” für China ab, vor allem die Kohle gilt dort als zentral für die Energiesicherheit. Für die geplante Verdreifachung erneuerbarer Energien ist China dagegen offen, denn auf diesem Feld ist das Land ohnehin bereits stark.

Peking setzt auf freiwillige Zahlungen statt Pflicht

Generell lehnt China internationale Verpflichtungen nach Möglichkeit ab. Daher galt es schon als Durchbruch, als Staatschef Xi Jinping 2021 erstmals ein Klimaziel ausrief: Scheitelpunkt der Emissionen vor 2030, Klimaneutralität ab 2060. Auf den COPs positioniert China sich stets als fester Teil der G77/China-Gruppe der Entwicklungsländer. Schon vor der COP28 haben Pekings Klimapolitiker ihre bekannte Haltung bekräftigt: Die Industrieländer müssten zahlen, jedes Land habe unterschiedliche Bedingungen und solle seinen eigenen Zeitplan zur Dekarbonisierung bekommen.

China will daher auch nicht in den Fonds für Klimaschutz in Entwicklungsländern einzahlen, sondern betont, freiwillig zur Klimafinanzierung beizutragen und Gelder nur über selbst verwaltete Kanäle zu vergeben. China hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua 43 Verträge zur Süd-Süd-Klimakooperation mit 38 Entwicklungsländern unterzeichnet und in mehr als 120 Ländern rund 2.000 Beamte und Fachkräfte für den Klimaschutz ausgebildet.

2022 richtete China zum Beispiel eine Videokonferenz der Brics-Staaten zum Klimawandel aus. Es will zudem das Infrastrukturprogramm Neue Seidenstraße stärker begrünen. Die von China geführte Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) etwa gab Ende September bekannt, ihre Klimafinanzierung bis 2030 auf mindestens sieben Milliarden US-Dollar jährlich zu verdreifachen. Bisher sind davon allerdings nur recht geringe Summen ausgezahlt worden.

China ist ein Land mit hohem mittleren Einkommen

In den ersten Tagen der COP28 äußerte Xie sich erwartbar: “China ist immer noch ein Entwicklungsland. Die Kontrolle der Emissionen von Methan und anderen Treibhausgasen ist nach wie vor mit riesigen Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden”, China sei “nach wie vor technologisch schwach; unsere Statistiken sind unklar und unsere Messdaten unzureichend”.

Doch Chinas Narrativ verfängt nicht mehr so leicht. Denn vom Pro-Kopf-Einkommen her ist die Volksrepublik nach den Kategorien der Weltbank längst ein Land mit “oberem mittlerem Einkommen”, ebenso wie etwa die Türkei, Brasilien, Argentinien und Mexiko. China liegt demnach sogar bereits an der Schwelle zum “hohen Einkommen”. Diese Grenze taxierte die Weltbank 2023 bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 13.845 US-Dollar. Chinas Pro-Kopf-Einkommen 2022 mit 12.720 US-Dollar also nur noch knapp darunter.

Auch in anderen internationalen Organisationen gilt China weiterhin als Entwicklungsland, etwa dem internationalen Währungsfonds IWF oder der Welthandelsorganisation WTO – die Entwicklungsländern ebenfalls Privilegien einräumt.

Weltgrößter Treibhausgas-Emittent

“China sieht mit jeder COP, dass es schwieriger wird, auf dem Status eines Entwicklungslandes zu beharren“, sagt Nis Grünberg, Experte für Chinas Klimapolitik vom Berliner Merics-Institut für Chinastudien, gegenüber Table.Media. “Doch Peking wird nicht freiwillig davon abrücken, solange es nicht muss. Als Argument dient zum Beispiel das niedrige Pro-Kopf-Einkommen armer Provinzen wie Gansu.” Mit diesem Argument fordern China und auch Indien sogar umgekehrt, selbst Ansprüche auf Gelder aus dem Loss and Damage Fund zu haben.

Die Volksrepublik ist heute mit großem Abstand der aktuell größte Emittent von Treibhausgasen und liegt beim Pro-Kopf-Ausstoß etwa gleichauf mit Deutschland. Doch die Gruppe von Ländern um China und Saudi-Arabien laut Reuters auf der COP28 immer wieder die historische Verantwortung der ab 1850 in die Industrialisierung eingestiegenen Staaten des globalen Nordens ein, unter dem Stichwort “Gerechtigkeit”.

Streitpunkt Klimafinanzierung

Die Klimafinanzierung wird also ein heikles Thema sein, ebenso wie der Ausstieg aus den Fossilen, wenn die Konferenz nun in die entscheidende Phase geht. China werde auf die Verantwortung der Industrieländer zeigen, sagt Grünberg. “Auch wird es auf Multilateralismus beharren, wonach alles auf Konsens beruhen müsse.” Doch ein Selbstläufer wird die Debatte für Peking nicht. Schon vor einem Jahr kritisierten etwa verletzliche Inselstaaten, dass China und andere Schwellenländer mehr tun müssten.

Teresa Ribera, Umweltministerin Spaniens und Verhandlungsführerin des EU-Rats, erklärte es auf der Konferenz gegenüber Table.Media so: “Die Länder der G77 wissen sehr wohl, dass China, die Emirate oder Saudi-Arabien nicht dasselbe sind wie Ruanda, Kuba oder die Philippinen.” Und so ist es nicht überraschend dass Xie auf der Pressekonferenz betonte, die COP28 sei die schwierigste seiner Karriere: “Es gibt so viele Streitfragen zu klären.”

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News

Peking und Manila weisen sich nach Schiffs-Kollision gegenseitig die Schuld zu

Die Philippinen und China geben sich gegenseitig die Schuld an der Kollision ihrer Schiffe im Südchinesischen Meer. So beschuldigte die philippinische Küstenwache China, Wasserwerfer abgefeuert und Versorgungsschiffe sowie ein Schiff der Küstenwache gerammt zu haben. Die chinesische Küstenwache hingegen erklärte, das philippinische Boot habe ihres absichtlich gerammt. Der Vorfall verschärft die Spannungen zwischen Manila und Peking weiter.

Zu dem Vorfall am Sonntag erklärte die chinesische Küstenwache, zwei philippinische Schiffe seien trotz wiederholter Warnungen “ohne Genehmigung der chinesischen Regierung illegal in die an das Ren’ai-Riff auf den Nansha-Inseln angrenzenden Gewässer eingedrungen”. China beansprucht für sich fast das gesamte Südchinesische Meer, durch das jährlich ein Handelsvolumen von mehr als drei Billionen US-Dollar über den Schiffsverkehr abgewickelt wird.

Am Samstag hatten die Philippinen China “illegale und aggressive Handlungen” vorgeworfen, weil es ein von der Regierung betriebenes ziviles Fischereifahrzeug mit Wasserwerfern beschossen habe, was Peking als legitime “Kontrollmaßnahmen” bezeichnete. Der Sprecher der chinesischen Küstenwache, Gan Yu, forderte die Philippinen auf, ihre “provokativen Handlungen” zu unterlassen, und erklärte, China werde in seinen Gewässern weiterhin “Aktivitäten zur Rechtsdurchsetzung” durchführen. rtr/cyb

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Niedrige Beteiligung an Hongkonger Kommunalwahl

Bei den Kommunalwahlen in Hongkong ist die Wahlbeteiligung ersten Angaben zufolge niedrig ausgefallen. Viele Einwohner der Metropole hatten als Zeichen des Protests die Wahl trotz massiver Wahlwerbung ignoriert. Die Abstimmung lief am Sonntag bis Mitternacht. Die Wahlbeteiligung wurde über mehrere Stunden nicht mitgeteilt. Laut South China Morning Post lag sie um 19.30 Uhr bei gut 24 Prozent.

Bei der Wahl hatte demnach ein Computer-Systemausfall in den rund 600 Wahllokalen zu Problemen geführt. Die Behörden mussten daraufhin die Stimmzettel manuell ausgeben. Die Wahlzeiten wurde um 90 Minuten verlängert. Regierungschef John Lee kündigte dem Bericht zufolge eine Taskforce an, die den Computer-Ausfall untersuchen soll.

Am Sonntag waren drei führende Vertreter einer pro-demokratischen Oppositionspartei festgenommen worden. Bei den verhafteten Personen handelt es sich laut Medienberichten um Chan Po-ying, Vorsitzende der oppositionellen Liga der Sozialdemokraten (LSD), und ihre zwei Stellvertreter Dickson Chow und Yu Wai-pan. Die genauen Gründe für ihre Verhaftung sind bisher noch unklar. Die LSD-Partei hatte zuvor angekündigt, mit einer Protestaktion im Hongkonger Geschäftsviertel Central gegen die Bezirkswahlen demonstrieren zu wollen.

Gewählt wurden die Bezirksräte in den 18 Hongkonger Stadtbezirken, die lange Zeit die einzigen überwiegend vom Volk gewählten Vertretungen in der chinesischen Sonderverwaltungszone waren. Peking hatte jedoch das Gesetz zur Nationalen Sicherheit erlassen, das den Hongkonger Behörden ein drakonisches Vorgehen gegen Demokratie-Aktivisten und andere Kritiker ermöglicht. Auch die Wahlgesetze wurden geändert, um alle Peking-kritischen Kandidaten schon im Vorfeld auszusieben. ari

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USA erweitern Xinjiang-Sanktionsliste

Die USA haben zwei chinesische Beamte wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren und andere ethnische Minderheiten in der Region Xinjiang mit Sanktionen belegt. Wie das Office of Foreign Assets Control – das Büro für die Kontrolle ausländischer Vermögenswerte – des US-Finanzministeriums am Freitag mitteilte, sind die Zielpersonen Gao Qi und Hu Lianhe. Gao ist ein ehemaliger Polizeichef der autonomen Präfektur Ili Kazakh im Norden Xinjiangs, Hu ein Leiter der Arbeitsabteilung der Einheitsfront. Unter anderem wird das US-Vermögen der Beamten eingefroren und ihnen die Einreise in die Vereinigten Staaten verboten.

Außerdem sind mit Cofco Sugar, Jingweida Technology und Xinya New Materials drei weitere Unternehmen auf der US-Importverbotsliste gelandet, berichtete die South China Morning Post. Damit erhöht sich die Zahl der Firmen auf der schwarzen Liste des “Uygur Forced Labour Prevention Act” auf 30. Die Sanktionen sind die jüngsten in einer Reihe von Maßnahmen der USA im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Die US-Beschränkungen betrafen bisher vor allem Baumwolle, Tomaten, Textilien und Polysilizium aus Xinjiang – ein wichtiges Material für die Herstellung von Solarzellen.

Ein Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington sagte, China verurteile die Sanktionen. Die Sanktionen griffen “in grober Weise in die inneren Angelegenheiten Chinas ein, verletzen in eklatanter Weise die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen und untergraben ernsthaft die Beziehungen zwischen China und den USA”. cyb

“Schwankender” Rückgang der Atemwegserkrankungen bei Kindern

Nach Angaben der chinesischen Gesundheitsbehörden ist ein “schwankender Abwärtstrend” bei Atemwegserkrankungen bei Kindern zu beobachten. Das berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Die Anzahl der Fälle in größeren medizinischen Einrichtungen im ganzen Land sei in letzter Zeit zurückgegangen, sagte ein Sprecher der Nationalen Gesundheitskommission am Sonntag in Peking.

Im vergangenen Monat hatte China der Weltgesundheitsorganisation mitgeteilt, Ursache für den Ausbruch von Atemwegserkrankungen bei Kindern könnten bekannte Krankheitserreger sein. Die zunehmenden Krankheitsfälle hatten die Sorge ausgelöst, ein neuartiges Virus könne die Ursache sein. Der Anstieg sei früher im Jahr als sonst gekommen, sei aber angesichts der Aufhebung der Covid-Beschränkungen nicht unerwartet, sagte die WHO nach einer Telefonkonferenz mit Verantwortlichen im Gesundheitssystem. cyb

  • Gesundheit

Presseschau

Südchinesisches Meer: Philippinen und China werfen sich gegenseitig absichtliche Kollision vor SPIEGEL
Klimagipfel COP28: Baerbock stellt China und Saudi-Arabien an den Pranger RP-ONLINE
China says fossil fuels deal “not perfect” but key to COP28 success REUTERS
Autozulieferer ZF will in China stark wachsen SÜDDEUTSCHE
E-Auto-Batterien aus China: “Wenn Ihr uns Druck macht, können wir das auch” MANAGER-MAGAZIN
China challenge is too much for Republican market fundamentalism FT
Chinas Wirtschaft rutscht tiefer in die Deflation WIWO
Größte Schattenbank Zhongzhi ist pleite: Hier droht die nächste Finanzkrise T-ONLINE
China versenkt tonnenschweres Rechenzentrum mit Kapazität von 6 Millionen PCs im Meer T3N
“Operation Maskenball” – Bayerische Ermittler decken chinesischen Schmugglerring auf SPIEGEL
Mögliche Spionage: Taiwan sichtet chinesischen Ballon vor eigener Küste MERKUR
China wegen Abschiebung von Nordkoreanern unter Druck DW
David Cameron urged to tell China to free Hong Kong publisher Jimmy Lai THE GUARDIAN
Diplomatie mit Pandas: Es hat sich ausgekuschelt TAZ

Heads

Anne Renzenbrink – Einsatz für Pressefreiheit in Asien 

Anne Renzenbrink ist im Rheinland aufgewachsen und hat in Heidelberg und Hongkong studiert. Seit 2016 ist sie Referentin bei Reporter ohne Grenzen.

Als Anne Renzenbrink 2012 ihre erste Festanstellung als Reporterin bei einer englischsprachigen Tageszeitung in Kambodscha annahm, war alles aufregend. Ein neues Zuhause, der erste richtige Job und mit Khmer eine neue Sprache. Aber vor allem auch: die Freude auf das Neue.

Eine Freude, die allerdings schnell einen Dämpfer bekam. Kurz nach Renzenbrinks Anstellung wurde in der Hauptstadt Phnom Penh ein kritischer Radiojournalist zu 20 Jahren Haft verurteilt. “Für mich stand damals fest, dass ich nicht nur journalistisch über Verletzungen der Pressefreiheit berichten möchte”, sagt sie. “Ich wollte mich als Aktivistin einsetzen und meine Berufskolleginnen und Kollegen unterstützen.” 

Seit 2016 ist sie deshalb als Referentin für Asien-Pazifik bei Reporter ohne Grenzen. Dabei hat sie vor allem China, Afghanistan, Hongkong, Myanmar, Vietnam und Kambodscha im Blick, wo sich die Lage der Pressefreiheit unter anderem durch die Ausbreitung des Autoritarismus massiv verschlechtert hat. 

“Kritik am Regime ist keine Kritik an 1,4 Milliarden Chinesen” 

Schon während des Politikstudiums in Heidelberg hat Renzenbrink sich für die gesellschaftlichen und politischen Strukturen asiatischer Länder interessiert. Das erste Auslandssemester ging nach Shanghai, nach dem Bachelor studierte sie Journalismus in Hongkong und flog später mit einem Stipendium als Medienbotschafterin zurück nach China. “Der Gedanke daran macht mich traurig, weil ich heute aufgrund meiner Arbeit nicht mehr so leicht ins Land reisen kann.”

China und seine Menschen hatten sie damals stark beeindruckt. “Anders als die Propaganda es behauptet, sind das chinesische Volk und die Kommunistische Partei keine Einheit und die Kritik am autoritären Regime in Peking ist keine Kritik an 1,4 Milliarden Menschen.” 

Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit als Referentin ist auch die internationale Medienstrategie Pekings. Renzenbrink untersucht, wie das chinesische Regime außerhalb der Ländergrenzen die Berichterstattung kontrolliert. “Im Rahmen einer langfristigen Strategie baut Peking dafür unter anderem eigene Auslandsmedien aus, investiert in Medien anderer Länder oder lädt internationale Journalistinnen und Journalisten zu Trainings nach China ein.” Auch in Deutschland ließen sich mittlerweile einige Beispiele chinesischer Einflussnahme finden, etwa die Zusammenarbeit deutscher und chinesischer Medien und Institutionen, gemeinsame Sendungen oder China-freundliche Beilagen in Zeitungen.  

Ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden

Pressefreiheit sei die Basis einer demokratischen Gesellschaft, betont Renzenbrink. “Es ist nicht immer leicht, die teils dramatischen Entwicklungen in Asien zu verfolgen und trotzdem Hoffnung zu bewahren.” Aber sie sieht auch, wie weltweit mutige Journalistinnen und Journalisten trotz schwierigster Bedingungen weiter recherchieren oder Schlupflöcher finden und der Zensur trotzen. “Auch die chinesische Öffentlichkeit sucht immer wieder nach Lösungen, um sich trotz der starken Zensur zu informieren und Informationen weiterzugeben, und liefert sich teils ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden.” Svenja Napp

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Personalien

Miao Deyu ist zum stellvertretenden Außenminister Chinas ernannt worden.

Zhu Hexin wird stellvertretender Gouverneur der People’s Bank of China und Leiter der staatlichen Devisenverwaltung.

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Zur Sprache

Rollen-Kollaps

人设崩塌 – rénshè bēngtā – Rollen-Kollaps

Everybody’s Darling oder kritischer Krittelkönig, Alles-im-Griff-Allrounder oder doch eher superentspannte Socke? In welches Charakterkostümchen schlüpfen Sie so, bevor es morgens ab ins Büro geht? Und: Haben Sie vielleicht auch schon einmal ungewollt einen “Persona-Plumps” hingelegt? Aber jetzt schön der Reihe nach.  

Die Seelenklempner dieser Welt haben es längst durchschaut: Im Alltag schlüpfen wir in soziale Rollen, sprich legen uns (meist eher unbewusst) eine “Persona” zu, wie es im Fachsprech der Analytischen Psychologie heißt. Laut Definition ist das eine nach außen hin gezeigte Einstellung, ein Image, eine Rolle, die der sozialen Anpassung dient und (hoffentlich in weiten Teilen) auch mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmt. 

Ein psychologischer Mechanismus, den die Chinesen neuerdings alltagssprachlich aufs Tapet bringen, in dem sie das Konzept frequent auf der Zunge jonglieren, nämlich in Gestalt der Trendvokabel 人设 rénshè. Dies ist die Kurzform von 人物设定 rénwù shèdìng, ein Wort, das ursprünglich aus der Kreativszene stammt und die Anlage einer Rolle/Figur bezeichnet, zum Beispiel in Filmen, Mangas oder literarischen Werken (人物 rénwù = Rolle, Figur, Charakter (in künstlerischen Werken), in anderen Kontexten auch: bekannte Persönlichkeit + 设定 shèdìng = anlegen, festlegen, definieren). Zu einer typischen Charakteranlage zählen etwa Eigenschaften wie das Gemüt, besondere Talente, die Optik, familiärer Hintergrund, “deng deng” (Chinesisch für “usw.”). 

Natürlich wird nicht nur auf Leinwänden, Bildschirmen und raschelnden Buch- oder Comicseiten geschauspielert, sondern hin und wieder auch im menschlichen Miteinander. Denn auch hier haben wir täglich mit “Charakteren” zu tun, legen uns selbst ein Wohlfühlimage zu und versuchen uns so zu geben, wie wir gerne wären. Doch anders als der Begriff des “Image”, den es so auch im Chinesischen gibt (形象 xíngxiàng), stößt uns das Modewort 人设 rénshè quasi direkt mit der Nase auf einen wunden Punkt, nämlich den Fake-Faktor dieses Alltagsschauspiels. “Renshe” betont also das Handwerkliche der Rollenanlage, stellt unser nach außen gezeigtes Image (对外人设 duìwài rénshè) als bewussten Kreationsprozess dar und hält uns somit den Spiegel vor. 

Dass sich bestimmte Charakterleibchen sogar im wahrsten Sinne des Wortes verkaufen lassen (卖人设 mài rénshè), weiß insbesondere die Entertainment-Branche für sich zu nutzen. Wer sich noch an den Boygroup-Boom der Neunzigerjahre erinnert, der weiß: Im Burschen-Ballett waren die Rollen auch stets klar verteilt. Da gab es zum Beispiel den Coolen, den Clown, den Sensiblen, den Erwachsenen und so weiter. Oder denken Sie nur an Sporty Spice, Ginger Spice, Posh Spice, Baby Spice und Scary Spice von den Spice Girls. Sie sehen, worauf ich hinaus will. 

Dieses Persona-Play punktet als Marketingtrick praktischerweise auch im Social-Media-Zeitalter prima und lässt die Fan- und Klickzahlen in die Höhe schnellen. Man weiß als Follower eben gerne, woran man bei seinem Idol (auf Chinesisch 爱豆 àidòu – wörtlich “Liebesbohne”) ist, und freut sich, wenn das PR-Team einen erfrischend neuen Charakter in die Manege des Showzirkus wirft. 

Doch Vorsicht ist geboten. Denn eine Persona ist ein zweischneidiges Schwert (人设是把双刃剑 rénshè shì bǎ shuāngrènjiàn). Blöd nämlich, wenn man sich durch etwas entlarvt, dass nicht zur sonst präsentierten sozialen Rolle passt (不符合人设 bù fúhé rénshè), sodass das Image-Kartenhaus jäh zusammenstürzt, sprich plötzlich eine eklatante Diskrepanz zwischen öffentlicher Charakteranlage und Privatperson sichtbar wird. Dann spricht der chinesische Alltagsslang vom Rollen-Kollaps (人设崩塌 rénshè bēngtā, von 崩塌 bēngtā – zusammenstürzen, einbrechen, zusammenfallen). Mancher, dem so ein Rollenrums durch die Karriere rauscht, wird von heute auf morgen zur Persona non grata erklärt. 

Doch auch im Job ist man nicht davor gefeit, dass allzu stümperhaft gefertigte Persona-Plagiate auffliegen. Nämlich genau dann, wenn man zu sehr aus der Bürorolle fällt. Schlimmstenfalls macht man sich durch einen blöden Fauxpas in der Firma so zum Deppen, dass man vor Scham am liebsten im Erdboden versinken möchte. 社死 shèsǐ nennt das der Chinese, “sozialen Tod” (kurz für 社会性死亡 shèhuìxìng sǐwáng). Die Englisch-Community hat hierfür in den letzten Jahren den sympathischen Neologismus “onosecond” kreiert. Wenn man es entzerrt, wird das Bild schnell klar: “O no!”-Second. Der Moment also, in dem einem klar wird, dass man sich gerade bis aufs Messer blamiert und sein Image ruiniert hat. 

Falls Sie im Joballtag übrigens noch nicht die richtige Rolle für sich gefunden haben, wird es Zeit, diese allmählich zu gestalten (建立人设 jiànlì rénshè – eine Persona konstruieren). Im chinesischen Netz zappelt praktischerweise ein ganzer Schwarm von prototypischen Charakter-Schablonen für das berufliche Miteinander. 

Hier ein kleines sprachliches Lexikon der beliebtesten Bürorollen: 

1. 靠谱王”人设 kàopǔwáng rénshè – König Zuverlässig 

Auf diesen Büro-Adel ist für Chef und Kollegen immer Verlass (靠谱 kàopǔ = zuverlässig, verlässlich + 王 wáng = König).

2. 专业大拿”人设 zhuānyè dàná rénshè – der Profi 

Dank seiner Expertise der fachliche Fels im Team, dem keine Aufgabe zu schwer ist (专业 zhuānyè = professionell, fachlich versiert + 大拿 dàná ugs. = großer Macher, großer Zampano). 

3. 正能量”人设 zhèngnéngliàng  rénshè – der Positive 

Hat immer ein paar ermunternde Worte auf den Lippen und lädt garantiert keinen Psychomüll bei Ihnen auf der Büroablage ab, Lieblingsslogan: “Wir schaffen das!” (正能量 zhèngnéngliàng = positive Energie / positive Vibes, im Gegensatz zu 负能量 fùnéngliàng = negative Energie / negative Vibes). 

4. 高冷”人设 gāolěng rénshè – der/die Unerreichbare 

Hält sich durch seine unterkühlte Art als Schutzmechanismus lästige Arbeit vom Hals, beteiligt sich nicht am Tratsch in der Kaffeeküche, signalisiert durch Schweigsamkeit und eine Dienst-ist-Dienst-und-Schnaps-ist-Schnaps-Mentalität: mit mir ist nicht gut Kirschen essen! (高冷 gāolěng = reserviert). 

5. 杠精”人设 gàngjīng rénshè – der Anti 

Hat immer etwas zu mäkeln beziehungsweise eine bessere Idee parat (杠精 gàngjīng = Quergeist, jemand der gerne und oft widerspricht / diskutiert).

6. 交际花”人设 jiāojìhuā rénshè – die Geselligkeitsgranate 

Im “socialn” begabter Networking-Held und charismatischer Charmebolzen, einfach ein “social butterfly” par excellence, der Gott und die Welt kennt und nie um ein Smalltalk-Thema verlegen ist (von 交际 jiāojì = gesellschaftlicher Umgang, sozialer Verkehr + 花 huā = Blume).  

7. 拖延症”人设 tuōyánzhèng rénshè – der Aufschieber 

Gemeint ist der klassische Deadline-Dehner (拖延症 tuōyánzhèng = Aufschieberitis, Prokrastination). 

8. 吃得开”人设 chīdekāi rénshè – Everybody’s Darling 

Kommt durch seine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit einfach überall gut an (吃得开 chīdekāi = beliebt, gefragt, populär).

9. 早睡”人设 zǎoshuì rénshè – der Frühschläfer 

Sieht es nicht ein, sich nach Feierabend noch von Arbeitsdingen belästigen zu lassen, spätabendliche Textnachrichten kontert er routinemäßig am nächsten Morgen lässig mit: 不好意思啊老板,很早就睡了 Bùhǎoyìsi a lǎobǎn, hěn zǎo jiù shuì le – “Sorry, Chef, ich war schon im Bett!” 

10. 佛系”人设 Fóxì rénshè – der Gelassene 

Der Kollege bekommt die Beförderung? Mit der Gehaltserhöhung hat es nicht geklappt? Schon wieder ist man für den anstrengenden Business-Trip eingeteilt? – All das lässt diesen Stoiker kalt. Ihn kann in seiner entspannten Gleichgültigkeit (scheinbar) nichts aus der Ruhe bringen, denn er nimmt die Dinge “buddhistisch” (佛系 Fóxì – der buddhistischen Schule angehören, ugs. für “alles gelassen nehmen”) Sein Motto: 随缘 suíyuán “Es kommt wie’s kommt.” 

Wenn Ihnen solche Bürorollenspiele jetzt zu lästig sind, dann lehnen Sie sich einfach im Bürosessel zurück, lassen den Dingen ihren Lauf und besinnen sich, wenn es sozial brenzlig wird, auf den bekannten Grundsatz: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich völlig ungeniert! Dann müssen Sie sich auch keine Sorgen machen um Persona-Plumpse und Charakter-Kollapse. In diesem Sinne: einen erbaulichen Start in die Woche. 

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

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China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    eine tiefgehende, faktenbasierte und möglichst ausgewogene Berichterstattung über die Volksrepublik in den USA – das war das Ziel von “The China Project”. Es ist gescheitert. Vor wenigen Wochen musste Chefredakteur Jeremy Goldkorn das Aus verkünden. Zuvor hatten beide politischen Seiten die Plattform ins Kreuzfeuer genommen. Kritiker aus den USA und aus China erhoben schwere Anschuldigungen gegen das ehrgeizige Projekt. Im Interview mit Fabian Peltsch spricht Goldkorn über seine Erfahrungen, die China-feindliche Atmosphäre in den USA und darüber, warum er mit dem Gedanken spielt, sich ganz von dem Thema abzuwenden. Offenbar kostet es zu viel Kraft, einen differenzierten Blick zu bewahren.

    Ein differenzierter Blick dürfte auch der Einstufung Chinas als Entwicklungsland guttun. Denn auf diesem Status beharrt der größte Treibhausemittent der Welt hartnäckig – insbesondere, wenn es um Klimafinanzierung geht. Denn Industrieländer müssen für den globalen Klimaschutz zahlen, während Entwicklungsländer sogar Anspruch auf Hilfen haben. Doch auf der laufenden Klimakonferenz COP28 wird es für China nicht so einfach sein, dieses Narrativ aufrechtzuerhalten, schreibt Christiane Kühl. Nicht nur die traditionellen Industrieländer, auch kleine verletzliche Inselstaaten fordern schon länger, dass Schwellenländer wie China mehr tun müssten.

    Einen guten Wochenstart wünscht Ihnen

    Ihre
    Carolyn Braun
    Bild von Carolyn  Braun

    Analyse

     “Die Atmosphäre in den USA ist reflexartig China-feindlich”

    Jeremy Goldkorn hat “The China Project” entwickelt und war bis zur Einstellung im November dessen Chefredakteur.

    Das Ende von “The China Project” wird von vielen als großer Verlust für eine ausgewogene China-Berichterstattung im englischsprachigen Raum gewertet. Wie schätzen Sie die Gefahren einer zunehmend unterkomplexen Berichterstattung über die Volksrepublik für den öffentlichen Diskurs ein?

    In gewisser Weise gibt es in den globalen Medien mehr tiefgehende Berichterstattung über China als noch vor zehn Jahren: Medienhäuser wie die New York Times, das Wall Street Journal und die Financial Times verfügen alle über große China-Teams, und China steht häufig ganz oben auf den Homepages. Andererseits ist es für ausländische Journalisten sehr schwierig, in China zu arbeiten, und nur wenige tun dies derzeit. Journalisten werden ständig überwacht und schikaniert, während die chinesische Regierung gleichzeitig immer mehr Online-Informationsquellen blockiert.

    Empfinden Sie die derzeitige Berichterstattung der großen Medienhäuser über China denn als ausgewogen genug?

    Ein Großteil der China-Berichterstattung folgt nur aktuellen Themen, die den durchschnittlichen westlichen Leser ansprechen, und die Geschichten ähneln sich bei den verschiedenen Medienhäusern sehr. In den USA folgen die Inhalte zumeist konventionellen Weisheiten von Washington D.C. und der Wall Street, und das wird auch nicht groß infrage gestellt. Wir wollten es mit “The China Project” anders machen. Wir wollten nuancierter berichten und ein breiteres Spektrum von Standpunkten präsentieren – sowohl solche, die China gegenüber sehr hart sind, als auch solche, die dem Land wohlgesonnen gegenüberstehen.

    Obwohl Sie versucht haben, fair zu berichten, gerieten Sie von beiden Seiten ins politische Kreuzfeuer. Waren Sie überrascht, von Falken wie dem US-Republikaner Marco Rubio als zu China-freundlich angegriffen und gleichzeitig von der chinesischen Regierung blockiert zu werden?

    Ich war eigentlich zunächst einmal überrascht, dass wir in China nicht früher als 2018 blockiert wurden. Was ich nicht erwartet hatte, war der bösartige Angriff, den wir im Frühjahr 2022 erlebten. Es begann mit einem Beitrag eines nationalistischen Bloggers auf Wechat über einen Bericht, den wir über die Reaktionen der chinesischen Netzgemeinde auf den Ukraine-Krieg verfasst hatten. Dann folgten eine Reihe von Berichten in den staatlichen Medien, in denen behauptet wurde, wir würden absichtlich versuchen, China schlecht aussehen zu lassen. In einigen Kommentaren hieß es, wir wollten einen Regimewechsel erzwingen und würden vom US-Militär finanziert.

    Marco Rubio beschuldigte ihr Team, Agenten der chinesischen Regierung zu sein.

    Die Sache mit Marco Rubio kam aus heiterem Himmel. Wir hatten eine ehemalige Arbeitnehmerin, die eine sogenannte “Whistleblower-Beschwerde” gegen uns eingereicht hat. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Es schien mir so realitätsfern und so weit weg von jeglicher legitimer Kritik an uns, dass wir irgendwie von der Kommunistischen Partei kontrolliert oder bezahlt würden. Im Nachhinein hätte ich nicht überrascht sein sollen. Die Atmosphäre in den Vereinigten Staaten ist im Moment so reflexartig China-feindlich. Es ist buchstäblich das Einzige, worauf sich die beiden großen Parteien in diesem Land einigen können: die Vorstellung, dass wir gegenüber China hart durchgreifen müssen. Selbst Lokalpolitiker in Orten wie Tennessee führen Kampagnen mit Slogans über den “Kampf gegen China”. Als ob es keine Probleme gäbe, die die Menschen dort wirklich betreffen, wie Schlaglöcher in den Straßen oder die Opioid-Abhängigkeit.

    War das der Grund, warum Sie am Ende mit “The China Project” aufgeben mussten?

    Wir waren ein investitionsgetriebenes Online-Unternehmen. Wir erwarteten einen Batzen Geld, eine bestimmte Investition, und nichts ließ uns glauben, dass diese infrage stand. Aber die betreffende Person änderte plötzlich ihre Meinung. Der Investor verlor wohl die Lust am Risiko, denn wir schienen nun politisch zu riskant zu sein, um sich bei uns zu engagieren. Es ging alles sehr schnell, und wir mussten leider feststellen, dass wir ohne dieses Geld Schulden anhäufen würden, die wir nicht zurückzahlen könnten, etwa Gehälter und Honorare für Freiberufler.

    In Ihrer Abschiedsnotiz nannten Sie auch hohe Prozesskosten als Grund für das Ende. Welche Art von Rechtsstreitigkeiten mussten Sie führen?

    Der Whistleblower-Bericht enthielt einige sehr schwerwiegende Anschuldigungen gegen uns. Er wurde von einer in Washington D.C. recht bekannten Anwaltskanzlei erstellt, die von einem ehemaligen CIA-Mann geleitet wird. Wir waren also ziemlich verängstigt und mussten ebenfalls einen Anwalt einschalten. Wir konnten schwerer Verbrechen beschuldigt werden, wie zum Beispiel der Tätigkeit als Agenten einer ausländischen Macht. Diese Anschuldigungen hätten wiederum zu Anklagen als Gefährder der nationalen Sicherheit führen können.

    Aber schlimmer für uns als Unternehmen war, dass potenzielle Investoren verschreckt wurden: Wer will schon in ein Projekt investieren, das möglicherweise Ärger mit der Regierung bekommen kann? Das schwebte über unseren Köpfen, und ich denke, das hat letztendlich dazu geführt, dass besagter Investor nicht investiert hat.

    Wie haben Sie die vielen Nachrichten aufgenommen, die Sie von Lesern erhalten haben, nachdem Sie das Ende von “The China Project” bekannt gegeben hatten?

    Es war ein bisschen so, als wären wir Teilnehmer unserer eigenen Beerdigung. Die meisten Leute sagten nette Dinge und Worte der Unterstützung. Das war sehr erfreulich. Trotz der netten Botschaften ist es für uns jedoch nicht realistisch, als Unternehmen weiterzumachen. Wenn es weniger politische Feindseligkeit zwischen China und den USA gäbe, wäre es einfacher für uns gewesen, Geld und Abonnenten zu bekommen. Bessere Beziehungen zwischen China und dem Rest der Welt hätten wohl ebenfalls geholfen.

    Wissen Sie schon, welche Projekte und Formate weiterleben werden und in welcher Form?

    Ich denke, der Sinica-Podcast mit Kaiser Kuo wird einen Weg finden, weitergeführt zu werden. Ich hoffe auch, dass einige unserer Redakteure und Journalisten weiterhin über China schreiben werden. Es gibt eine Generation von Freiberuflern, die wir mit aufgebaut haben. Einige von ihnen haben bereits neue Stellen in anderen Medienhäusern gefunden. Ich selbst hatte noch nicht die Gelegenheit, mir genau zu überlegen, wie es für mich weitergeht. Um ehrlich zu sein, brauchte ich sowieso eine Pause.

    Werden Sie weiterhin über China schreiben?

    Vielleicht werde ich mich von diesem Thema abwenden. Man schreibt ständig über schreckliche Dinge in China und sieht sich gleichzeitig mit dieser geistlosen Feindseligkeit gegenüber dem Land auf der anderen Seite des Pazifiks konfrontiert. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich in der Mitte feststecke. Das ist anstrengend. Es bringt mich auf den Gedanken, dass ich vielleicht stattdessen über ein Land wie Bhutan oder Jamaika schreiben sollte.

    Jeremy Goldkorn (chinesisch: 金玉米; Jīn Yùmǐ) wurde in Johannesburg geboren. 1995 zog er nach China, wo er die Plattform Danwei gründete, die sich mit chinesischen Medien, Märkten, Politik und Wirtschaft befasste und 2013 von der Financial Times übernommen wurde. Goldkorn entwickelte die Website “The China Project” und war bis zur Schließung im November 2023 Chefredakteur der auf tiefgehende Analysen spezialisierten Plattform. Seit 2015 lebt er in Nashville, Tennessee.

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    COP28: China beharrt auf Entwicklungsstatus

    Entwicklungsländer unter sich: Chinas Klimabeauftragter Xie Zhenhua führt COP28-Präsident Sultan Al Jaber durch den Pavillon der Volksrepublik auf der Klimakonferenz.

    Ist China ein Entwicklungsland oder nicht? Schon auf der COP27 in Ägypten sorgte diese Frage für Zündstoff. Und auch auf der COP28 drängte sie sich von Beginn an in den Vordergrund. Denn es geht dabei um viel Geld: Industrieländer müssen für den globalen Klimaschutz zahlen, während Entwicklungsländer Anspruch auf Hilfen haben. Zum Auftakt der COP hat sich nun mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) erstmals ein Land zur internationalen Klimafinanzierung verpflichtet, das nicht zu den Annex-I-Staaten der Rahmenkonvention gehört – sprich: zu jenen Ländern, die 1992 bereits als Industrieländer galten. Sondern zu denen, die sich bis heute im Klimaschutz als Entwicklungsländer bezeichnen dürfen.

    Die Zusage der VAE, 100 Millionen Euro für den neuen Loss and Damage Fund (LDF) beizusteuern, der für Schäden in armen Ländern zahlen soll, wirft ein Schlaglicht darauf, wie überholt die Kategorisierungen von 1992 sind. Die EU fordert beispielsweise Beiträge von “nicht-traditionellen” Geberländern, die seit 1992 reich geworden sind und jetzt mehr Verantwortung für die Klimafinanzierung übernehmen könnten: Saudi-Arabien, Südkorea – und allen voran China.

    Traditionell im Camp der Entwicklungsländer

    China aber beharrt trotz seiner rasanten Entwicklung auf der Position, ein Entwicklungsland zu sein. Das entspricht dem Selbstbild der Kommunistischen Partei. Und es ist finanziell günstig. Denn Entwicklungsländern stehen im Klimaschutz Privilegien zu, mit denen sie viel Geld sparen – nach dem Konzept der “gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung”. Dass China auf der Weltbühne trotzdem vom Rivalen USA als Partner auf Augenhöhe gesehen werden will, empfindet man in Peking nicht als Widerspruch.

    Am Samstag verbrachten die Klimadelegationen beider Staaten Stunden miteinander, auch die beiden Klimabeauftragten Xie Zhenhua und John Kerry schalteten sich ein. Ihre Kooperation zählt als entscheidend für die Erfolge der COP. Er hoffe, man werde eine “korrekte Richtung für die Zukunft” finden, die möglichst viele Menschen einbeziehe, “sodass alle die Ergebnisse akzeptieren und damit zufrieden sein können”, sagte Xie am Samstag bei einer Pressekonferenz.

    Einer der größten Knackpunkte der COP28 ist eine gemeinsame Linie über Reduktion und Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Eine Pflicht zum fossilen Ausstieg lehnte Xie schon vor der Konferenz als “unrealistisch” für China ab, vor allem die Kohle gilt dort als zentral für die Energiesicherheit. Für die geplante Verdreifachung erneuerbarer Energien ist China dagegen offen, denn auf diesem Feld ist das Land ohnehin bereits stark.

    Peking setzt auf freiwillige Zahlungen statt Pflicht

    Generell lehnt China internationale Verpflichtungen nach Möglichkeit ab. Daher galt es schon als Durchbruch, als Staatschef Xi Jinping 2021 erstmals ein Klimaziel ausrief: Scheitelpunkt der Emissionen vor 2030, Klimaneutralität ab 2060. Auf den COPs positioniert China sich stets als fester Teil der G77/China-Gruppe der Entwicklungsländer. Schon vor der COP28 haben Pekings Klimapolitiker ihre bekannte Haltung bekräftigt: Die Industrieländer müssten zahlen, jedes Land habe unterschiedliche Bedingungen und solle seinen eigenen Zeitplan zur Dekarbonisierung bekommen.

    China will daher auch nicht in den Fonds für Klimaschutz in Entwicklungsländern einzahlen, sondern betont, freiwillig zur Klimafinanzierung beizutragen und Gelder nur über selbst verwaltete Kanäle zu vergeben. China hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua 43 Verträge zur Süd-Süd-Klimakooperation mit 38 Entwicklungsländern unterzeichnet und in mehr als 120 Ländern rund 2.000 Beamte und Fachkräfte für den Klimaschutz ausgebildet.

    2022 richtete China zum Beispiel eine Videokonferenz der Brics-Staaten zum Klimawandel aus. Es will zudem das Infrastrukturprogramm Neue Seidenstraße stärker begrünen. Die von China geführte Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) etwa gab Ende September bekannt, ihre Klimafinanzierung bis 2030 auf mindestens sieben Milliarden US-Dollar jährlich zu verdreifachen. Bisher sind davon allerdings nur recht geringe Summen ausgezahlt worden.

    China ist ein Land mit hohem mittleren Einkommen

    In den ersten Tagen der COP28 äußerte Xie sich erwartbar: “China ist immer noch ein Entwicklungsland. Die Kontrolle der Emissionen von Methan und anderen Treibhausgasen ist nach wie vor mit riesigen Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden”, China sei “nach wie vor technologisch schwach; unsere Statistiken sind unklar und unsere Messdaten unzureichend”.

    Doch Chinas Narrativ verfängt nicht mehr so leicht. Denn vom Pro-Kopf-Einkommen her ist die Volksrepublik nach den Kategorien der Weltbank längst ein Land mit “oberem mittlerem Einkommen”, ebenso wie etwa die Türkei, Brasilien, Argentinien und Mexiko. China liegt demnach sogar bereits an der Schwelle zum “hohen Einkommen”. Diese Grenze taxierte die Weltbank 2023 bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 13.845 US-Dollar. Chinas Pro-Kopf-Einkommen 2022 mit 12.720 US-Dollar also nur noch knapp darunter.

    Auch in anderen internationalen Organisationen gilt China weiterhin als Entwicklungsland, etwa dem internationalen Währungsfonds IWF oder der Welthandelsorganisation WTO – die Entwicklungsländern ebenfalls Privilegien einräumt.

    Weltgrößter Treibhausgas-Emittent

    “China sieht mit jeder COP, dass es schwieriger wird, auf dem Status eines Entwicklungslandes zu beharren“, sagt Nis Grünberg, Experte für Chinas Klimapolitik vom Berliner Merics-Institut für Chinastudien, gegenüber Table.Media. “Doch Peking wird nicht freiwillig davon abrücken, solange es nicht muss. Als Argument dient zum Beispiel das niedrige Pro-Kopf-Einkommen armer Provinzen wie Gansu.” Mit diesem Argument fordern China und auch Indien sogar umgekehrt, selbst Ansprüche auf Gelder aus dem Loss and Damage Fund zu haben.

    Die Volksrepublik ist heute mit großem Abstand der aktuell größte Emittent von Treibhausgasen und liegt beim Pro-Kopf-Ausstoß etwa gleichauf mit Deutschland. Doch die Gruppe von Ländern um China und Saudi-Arabien laut Reuters auf der COP28 immer wieder die historische Verantwortung der ab 1850 in die Industrialisierung eingestiegenen Staaten des globalen Nordens ein, unter dem Stichwort “Gerechtigkeit”.

    Streitpunkt Klimafinanzierung

    Die Klimafinanzierung wird also ein heikles Thema sein, ebenso wie der Ausstieg aus den Fossilen, wenn die Konferenz nun in die entscheidende Phase geht. China werde auf die Verantwortung der Industrieländer zeigen, sagt Grünberg. “Auch wird es auf Multilateralismus beharren, wonach alles auf Konsens beruhen müsse.” Doch ein Selbstläufer wird die Debatte für Peking nicht. Schon vor einem Jahr kritisierten etwa verletzliche Inselstaaten, dass China und andere Schwellenländer mehr tun müssten.

    Teresa Ribera, Umweltministerin Spaniens und Verhandlungsführerin des EU-Rats, erklärte es auf der Konferenz gegenüber Table.Media so: “Die Länder der G77 wissen sehr wohl, dass China, die Emirate oder Saudi-Arabien nicht dasselbe sind wie Ruanda, Kuba oder die Philippinen.” Und so ist es nicht überraschend dass Xie auf der Pressekonferenz betonte, die COP28 sei die schwierigste seiner Karriere: “Es gibt so viele Streitfragen zu klären.”

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    Peking und Manila weisen sich nach Schiffs-Kollision gegenseitig die Schuld zu

    Die Philippinen und China geben sich gegenseitig die Schuld an der Kollision ihrer Schiffe im Südchinesischen Meer. So beschuldigte die philippinische Küstenwache China, Wasserwerfer abgefeuert und Versorgungsschiffe sowie ein Schiff der Küstenwache gerammt zu haben. Die chinesische Küstenwache hingegen erklärte, das philippinische Boot habe ihres absichtlich gerammt. Der Vorfall verschärft die Spannungen zwischen Manila und Peking weiter.

    Zu dem Vorfall am Sonntag erklärte die chinesische Küstenwache, zwei philippinische Schiffe seien trotz wiederholter Warnungen “ohne Genehmigung der chinesischen Regierung illegal in die an das Ren’ai-Riff auf den Nansha-Inseln angrenzenden Gewässer eingedrungen”. China beansprucht für sich fast das gesamte Südchinesische Meer, durch das jährlich ein Handelsvolumen von mehr als drei Billionen US-Dollar über den Schiffsverkehr abgewickelt wird.

    Am Samstag hatten die Philippinen China “illegale und aggressive Handlungen” vorgeworfen, weil es ein von der Regierung betriebenes ziviles Fischereifahrzeug mit Wasserwerfern beschossen habe, was Peking als legitime “Kontrollmaßnahmen” bezeichnete. Der Sprecher der chinesischen Küstenwache, Gan Yu, forderte die Philippinen auf, ihre “provokativen Handlungen” zu unterlassen, und erklärte, China werde in seinen Gewässern weiterhin “Aktivitäten zur Rechtsdurchsetzung” durchführen. rtr/cyb

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    Niedrige Beteiligung an Hongkonger Kommunalwahl

    Bei den Kommunalwahlen in Hongkong ist die Wahlbeteiligung ersten Angaben zufolge niedrig ausgefallen. Viele Einwohner der Metropole hatten als Zeichen des Protests die Wahl trotz massiver Wahlwerbung ignoriert. Die Abstimmung lief am Sonntag bis Mitternacht. Die Wahlbeteiligung wurde über mehrere Stunden nicht mitgeteilt. Laut South China Morning Post lag sie um 19.30 Uhr bei gut 24 Prozent.

    Bei der Wahl hatte demnach ein Computer-Systemausfall in den rund 600 Wahllokalen zu Problemen geführt. Die Behörden mussten daraufhin die Stimmzettel manuell ausgeben. Die Wahlzeiten wurde um 90 Minuten verlängert. Regierungschef John Lee kündigte dem Bericht zufolge eine Taskforce an, die den Computer-Ausfall untersuchen soll.

    Am Sonntag waren drei führende Vertreter einer pro-demokratischen Oppositionspartei festgenommen worden. Bei den verhafteten Personen handelt es sich laut Medienberichten um Chan Po-ying, Vorsitzende der oppositionellen Liga der Sozialdemokraten (LSD), und ihre zwei Stellvertreter Dickson Chow und Yu Wai-pan. Die genauen Gründe für ihre Verhaftung sind bisher noch unklar. Die LSD-Partei hatte zuvor angekündigt, mit einer Protestaktion im Hongkonger Geschäftsviertel Central gegen die Bezirkswahlen demonstrieren zu wollen.

    Gewählt wurden die Bezirksräte in den 18 Hongkonger Stadtbezirken, die lange Zeit die einzigen überwiegend vom Volk gewählten Vertretungen in der chinesischen Sonderverwaltungszone waren. Peking hatte jedoch das Gesetz zur Nationalen Sicherheit erlassen, das den Hongkonger Behörden ein drakonisches Vorgehen gegen Demokratie-Aktivisten und andere Kritiker ermöglicht. Auch die Wahlgesetze wurden geändert, um alle Peking-kritischen Kandidaten schon im Vorfeld auszusieben. ari

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    USA erweitern Xinjiang-Sanktionsliste

    Die USA haben zwei chinesische Beamte wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren und andere ethnische Minderheiten in der Region Xinjiang mit Sanktionen belegt. Wie das Office of Foreign Assets Control – das Büro für die Kontrolle ausländischer Vermögenswerte – des US-Finanzministeriums am Freitag mitteilte, sind die Zielpersonen Gao Qi und Hu Lianhe. Gao ist ein ehemaliger Polizeichef der autonomen Präfektur Ili Kazakh im Norden Xinjiangs, Hu ein Leiter der Arbeitsabteilung der Einheitsfront. Unter anderem wird das US-Vermögen der Beamten eingefroren und ihnen die Einreise in die Vereinigten Staaten verboten.

    Außerdem sind mit Cofco Sugar, Jingweida Technology und Xinya New Materials drei weitere Unternehmen auf der US-Importverbotsliste gelandet, berichtete die South China Morning Post. Damit erhöht sich die Zahl der Firmen auf der schwarzen Liste des “Uygur Forced Labour Prevention Act” auf 30. Die Sanktionen sind die jüngsten in einer Reihe von Maßnahmen der USA im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Die US-Beschränkungen betrafen bisher vor allem Baumwolle, Tomaten, Textilien und Polysilizium aus Xinjiang – ein wichtiges Material für die Herstellung von Solarzellen.

    Ein Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington sagte, China verurteile die Sanktionen. Die Sanktionen griffen “in grober Weise in die inneren Angelegenheiten Chinas ein, verletzen in eklatanter Weise die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen und untergraben ernsthaft die Beziehungen zwischen China und den USA”. cyb

    “Schwankender” Rückgang der Atemwegserkrankungen bei Kindern

    Nach Angaben der chinesischen Gesundheitsbehörden ist ein “schwankender Abwärtstrend” bei Atemwegserkrankungen bei Kindern zu beobachten. Das berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Die Anzahl der Fälle in größeren medizinischen Einrichtungen im ganzen Land sei in letzter Zeit zurückgegangen, sagte ein Sprecher der Nationalen Gesundheitskommission am Sonntag in Peking.

    Im vergangenen Monat hatte China der Weltgesundheitsorganisation mitgeteilt, Ursache für den Ausbruch von Atemwegserkrankungen bei Kindern könnten bekannte Krankheitserreger sein. Die zunehmenden Krankheitsfälle hatten die Sorge ausgelöst, ein neuartiges Virus könne die Ursache sein. Der Anstieg sei früher im Jahr als sonst gekommen, sei aber angesichts der Aufhebung der Covid-Beschränkungen nicht unerwartet, sagte die WHO nach einer Telefonkonferenz mit Verantwortlichen im Gesundheitssystem. cyb

    • Gesundheit

    Presseschau

    Südchinesisches Meer: Philippinen und China werfen sich gegenseitig absichtliche Kollision vor SPIEGEL
    Klimagipfel COP28: Baerbock stellt China und Saudi-Arabien an den Pranger RP-ONLINE
    China says fossil fuels deal “not perfect” but key to COP28 success REUTERS
    Autozulieferer ZF will in China stark wachsen SÜDDEUTSCHE
    E-Auto-Batterien aus China: “Wenn Ihr uns Druck macht, können wir das auch” MANAGER-MAGAZIN
    China challenge is too much for Republican market fundamentalism FT
    Chinas Wirtschaft rutscht tiefer in die Deflation WIWO
    Größte Schattenbank Zhongzhi ist pleite: Hier droht die nächste Finanzkrise T-ONLINE
    China versenkt tonnenschweres Rechenzentrum mit Kapazität von 6 Millionen PCs im Meer T3N
    “Operation Maskenball” – Bayerische Ermittler decken chinesischen Schmugglerring auf SPIEGEL
    Mögliche Spionage: Taiwan sichtet chinesischen Ballon vor eigener Küste MERKUR
    China wegen Abschiebung von Nordkoreanern unter Druck DW
    David Cameron urged to tell China to free Hong Kong publisher Jimmy Lai THE GUARDIAN
    Diplomatie mit Pandas: Es hat sich ausgekuschelt TAZ

    Heads

    Anne Renzenbrink – Einsatz für Pressefreiheit in Asien 

    Anne Renzenbrink ist im Rheinland aufgewachsen und hat in Heidelberg und Hongkong studiert. Seit 2016 ist sie Referentin bei Reporter ohne Grenzen.

    Als Anne Renzenbrink 2012 ihre erste Festanstellung als Reporterin bei einer englischsprachigen Tageszeitung in Kambodscha annahm, war alles aufregend. Ein neues Zuhause, der erste richtige Job und mit Khmer eine neue Sprache. Aber vor allem auch: die Freude auf das Neue.

    Eine Freude, die allerdings schnell einen Dämpfer bekam. Kurz nach Renzenbrinks Anstellung wurde in der Hauptstadt Phnom Penh ein kritischer Radiojournalist zu 20 Jahren Haft verurteilt. “Für mich stand damals fest, dass ich nicht nur journalistisch über Verletzungen der Pressefreiheit berichten möchte”, sagt sie. “Ich wollte mich als Aktivistin einsetzen und meine Berufskolleginnen und Kollegen unterstützen.” 

    Seit 2016 ist sie deshalb als Referentin für Asien-Pazifik bei Reporter ohne Grenzen. Dabei hat sie vor allem China, Afghanistan, Hongkong, Myanmar, Vietnam und Kambodscha im Blick, wo sich die Lage der Pressefreiheit unter anderem durch die Ausbreitung des Autoritarismus massiv verschlechtert hat. 

    “Kritik am Regime ist keine Kritik an 1,4 Milliarden Chinesen” 

    Schon während des Politikstudiums in Heidelberg hat Renzenbrink sich für die gesellschaftlichen und politischen Strukturen asiatischer Länder interessiert. Das erste Auslandssemester ging nach Shanghai, nach dem Bachelor studierte sie Journalismus in Hongkong und flog später mit einem Stipendium als Medienbotschafterin zurück nach China. “Der Gedanke daran macht mich traurig, weil ich heute aufgrund meiner Arbeit nicht mehr so leicht ins Land reisen kann.”

    China und seine Menschen hatten sie damals stark beeindruckt. “Anders als die Propaganda es behauptet, sind das chinesische Volk und die Kommunistische Partei keine Einheit und die Kritik am autoritären Regime in Peking ist keine Kritik an 1,4 Milliarden Menschen.” 

    Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit als Referentin ist auch die internationale Medienstrategie Pekings. Renzenbrink untersucht, wie das chinesische Regime außerhalb der Ländergrenzen die Berichterstattung kontrolliert. “Im Rahmen einer langfristigen Strategie baut Peking dafür unter anderem eigene Auslandsmedien aus, investiert in Medien anderer Länder oder lädt internationale Journalistinnen und Journalisten zu Trainings nach China ein.” Auch in Deutschland ließen sich mittlerweile einige Beispiele chinesischer Einflussnahme finden, etwa die Zusammenarbeit deutscher und chinesischer Medien und Institutionen, gemeinsame Sendungen oder China-freundliche Beilagen in Zeitungen.  

    Ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden

    Pressefreiheit sei die Basis einer demokratischen Gesellschaft, betont Renzenbrink. “Es ist nicht immer leicht, die teils dramatischen Entwicklungen in Asien zu verfolgen und trotzdem Hoffnung zu bewahren.” Aber sie sieht auch, wie weltweit mutige Journalistinnen und Journalisten trotz schwierigster Bedingungen weiter recherchieren oder Schlupflöcher finden und der Zensur trotzen. “Auch die chinesische Öffentlichkeit sucht immer wieder nach Lösungen, um sich trotz der starken Zensur zu informieren und Informationen weiterzugeben, und liefert sich teils ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden.” Svenja Napp

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    • Medienfreiheit

    Personalien

    Miao Deyu ist zum stellvertretenden Außenminister Chinas ernannt worden.

    Zhu Hexin wird stellvertretender Gouverneur der People’s Bank of China und Leiter der staatlichen Devisenverwaltung.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

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    Rollen-Kollaps

    人设崩塌 – rénshè bēngtā – Rollen-Kollaps

    Everybody’s Darling oder kritischer Krittelkönig, Alles-im-Griff-Allrounder oder doch eher superentspannte Socke? In welches Charakterkostümchen schlüpfen Sie so, bevor es morgens ab ins Büro geht? Und: Haben Sie vielleicht auch schon einmal ungewollt einen “Persona-Plumps” hingelegt? Aber jetzt schön der Reihe nach.  

    Die Seelenklempner dieser Welt haben es längst durchschaut: Im Alltag schlüpfen wir in soziale Rollen, sprich legen uns (meist eher unbewusst) eine “Persona” zu, wie es im Fachsprech der Analytischen Psychologie heißt. Laut Definition ist das eine nach außen hin gezeigte Einstellung, ein Image, eine Rolle, die der sozialen Anpassung dient und (hoffentlich in weiten Teilen) auch mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmt. 

    Ein psychologischer Mechanismus, den die Chinesen neuerdings alltagssprachlich aufs Tapet bringen, in dem sie das Konzept frequent auf der Zunge jonglieren, nämlich in Gestalt der Trendvokabel 人设 rénshè. Dies ist die Kurzform von 人物设定 rénwù shèdìng, ein Wort, das ursprünglich aus der Kreativszene stammt und die Anlage einer Rolle/Figur bezeichnet, zum Beispiel in Filmen, Mangas oder literarischen Werken (人物 rénwù = Rolle, Figur, Charakter (in künstlerischen Werken), in anderen Kontexten auch: bekannte Persönlichkeit + 设定 shèdìng = anlegen, festlegen, definieren). Zu einer typischen Charakteranlage zählen etwa Eigenschaften wie das Gemüt, besondere Talente, die Optik, familiärer Hintergrund, “deng deng” (Chinesisch für “usw.”). 

    Natürlich wird nicht nur auf Leinwänden, Bildschirmen und raschelnden Buch- oder Comicseiten geschauspielert, sondern hin und wieder auch im menschlichen Miteinander. Denn auch hier haben wir täglich mit “Charakteren” zu tun, legen uns selbst ein Wohlfühlimage zu und versuchen uns so zu geben, wie wir gerne wären. Doch anders als der Begriff des “Image”, den es so auch im Chinesischen gibt (形象 xíngxiàng), stößt uns das Modewort 人设 rénshè quasi direkt mit der Nase auf einen wunden Punkt, nämlich den Fake-Faktor dieses Alltagsschauspiels. “Renshe” betont also das Handwerkliche der Rollenanlage, stellt unser nach außen gezeigtes Image (对外人设 duìwài rénshè) als bewussten Kreationsprozess dar und hält uns somit den Spiegel vor. 

    Dass sich bestimmte Charakterleibchen sogar im wahrsten Sinne des Wortes verkaufen lassen (卖人设 mài rénshè), weiß insbesondere die Entertainment-Branche für sich zu nutzen. Wer sich noch an den Boygroup-Boom der Neunzigerjahre erinnert, der weiß: Im Burschen-Ballett waren die Rollen auch stets klar verteilt. Da gab es zum Beispiel den Coolen, den Clown, den Sensiblen, den Erwachsenen und so weiter. Oder denken Sie nur an Sporty Spice, Ginger Spice, Posh Spice, Baby Spice und Scary Spice von den Spice Girls. Sie sehen, worauf ich hinaus will. 

    Dieses Persona-Play punktet als Marketingtrick praktischerweise auch im Social-Media-Zeitalter prima und lässt die Fan- und Klickzahlen in die Höhe schnellen. Man weiß als Follower eben gerne, woran man bei seinem Idol (auf Chinesisch 爱豆 àidòu – wörtlich “Liebesbohne”) ist, und freut sich, wenn das PR-Team einen erfrischend neuen Charakter in die Manege des Showzirkus wirft. 

    Doch Vorsicht ist geboten. Denn eine Persona ist ein zweischneidiges Schwert (人设是把双刃剑 rénshè shì bǎ shuāngrènjiàn). Blöd nämlich, wenn man sich durch etwas entlarvt, dass nicht zur sonst präsentierten sozialen Rolle passt (不符合人设 bù fúhé rénshè), sodass das Image-Kartenhaus jäh zusammenstürzt, sprich plötzlich eine eklatante Diskrepanz zwischen öffentlicher Charakteranlage und Privatperson sichtbar wird. Dann spricht der chinesische Alltagsslang vom Rollen-Kollaps (人设崩塌 rénshè bēngtā, von 崩塌 bēngtā – zusammenstürzen, einbrechen, zusammenfallen). Mancher, dem so ein Rollenrums durch die Karriere rauscht, wird von heute auf morgen zur Persona non grata erklärt. 

    Doch auch im Job ist man nicht davor gefeit, dass allzu stümperhaft gefertigte Persona-Plagiate auffliegen. Nämlich genau dann, wenn man zu sehr aus der Bürorolle fällt. Schlimmstenfalls macht man sich durch einen blöden Fauxpas in der Firma so zum Deppen, dass man vor Scham am liebsten im Erdboden versinken möchte. 社死 shèsǐ nennt das der Chinese, “sozialen Tod” (kurz für 社会性死亡 shèhuìxìng sǐwáng). Die Englisch-Community hat hierfür in den letzten Jahren den sympathischen Neologismus “onosecond” kreiert. Wenn man es entzerrt, wird das Bild schnell klar: “O no!”-Second. Der Moment also, in dem einem klar wird, dass man sich gerade bis aufs Messer blamiert und sein Image ruiniert hat. 

    Falls Sie im Joballtag übrigens noch nicht die richtige Rolle für sich gefunden haben, wird es Zeit, diese allmählich zu gestalten (建立人设 jiànlì rénshè – eine Persona konstruieren). Im chinesischen Netz zappelt praktischerweise ein ganzer Schwarm von prototypischen Charakter-Schablonen für das berufliche Miteinander. 

    Hier ein kleines sprachliches Lexikon der beliebtesten Bürorollen: 

    1. 靠谱王”人设 kàopǔwáng rénshè – König Zuverlässig 

    Auf diesen Büro-Adel ist für Chef und Kollegen immer Verlass (靠谱 kàopǔ = zuverlässig, verlässlich + 王 wáng = König).

    2. 专业大拿”人设 zhuānyè dàná rénshè – der Profi 

    Dank seiner Expertise der fachliche Fels im Team, dem keine Aufgabe zu schwer ist (专业 zhuānyè = professionell, fachlich versiert + 大拿 dàná ugs. = großer Macher, großer Zampano). 

    3. 正能量”人设 zhèngnéngliàng  rénshè – der Positive 

    Hat immer ein paar ermunternde Worte auf den Lippen und lädt garantiert keinen Psychomüll bei Ihnen auf der Büroablage ab, Lieblingsslogan: “Wir schaffen das!” (正能量 zhèngnéngliàng = positive Energie / positive Vibes, im Gegensatz zu 负能量 fùnéngliàng = negative Energie / negative Vibes). 

    4. 高冷”人设 gāolěng rénshè – der/die Unerreichbare 

    Hält sich durch seine unterkühlte Art als Schutzmechanismus lästige Arbeit vom Hals, beteiligt sich nicht am Tratsch in der Kaffeeküche, signalisiert durch Schweigsamkeit und eine Dienst-ist-Dienst-und-Schnaps-ist-Schnaps-Mentalität: mit mir ist nicht gut Kirschen essen! (高冷 gāolěng = reserviert). 

    5. 杠精”人设 gàngjīng rénshè – der Anti 

    Hat immer etwas zu mäkeln beziehungsweise eine bessere Idee parat (杠精 gàngjīng = Quergeist, jemand der gerne und oft widerspricht / diskutiert).

    6. 交际花”人设 jiāojìhuā rénshè – die Geselligkeitsgranate 

    Im “socialn” begabter Networking-Held und charismatischer Charmebolzen, einfach ein “social butterfly” par excellence, der Gott und die Welt kennt und nie um ein Smalltalk-Thema verlegen ist (von 交际 jiāojì = gesellschaftlicher Umgang, sozialer Verkehr + 花 huā = Blume).  

    7. 拖延症”人设 tuōyánzhèng rénshè – der Aufschieber 

    Gemeint ist der klassische Deadline-Dehner (拖延症 tuōyánzhèng = Aufschieberitis, Prokrastination). 

    8. 吃得开”人设 chīdekāi rénshè – Everybody’s Darling 

    Kommt durch seine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit einfach überall gut an (吃得开 chīdekāi = beliebt, gefragt, populär).

    9. 早睡”人设 zǎoshuì rénshè – der Frühschläfer 

    Sieht es nicht ein, sich nach Feierabend noch von Arbeitsdingen belästigen zu lassen, spätabendliche Textnachrichten kontert er routinemäßig am nächsten Morgen lässig mit: 不好意思啊老板,很早就睡了 Bùhǎoyìsi a lǎobǎn, hěn zǎo jiù shuì le – “Sorry, Chef, ich war schon im Bett!” 

    10. 佛系”人设 Fóxì rénshè – der Gelassene 

    Der Kollege bekommt die Beförderung? Mit der Gehaltserhöhung hat es nicht geklappt? Schon wieder ist man für den anstrengenden Business-Trip eingeteilt? – All das lässt diesen Stoiker kalt. Ihn kann in seiner entspannten Gleichgültigkeit (scheinbar) nichts aus der Ruhe bringen, denn er nimmt die Dinge “buddhistisch” (佛系 Fóxì – der buddhistischen Schule angehören, ugs. für “alles gelassen nehmen”) Sein Motto: 随缘 suíyuán “Es kommt wie’s kommt.” 

    Wenn Ihnen solche Bürorollenspiele jetzt zu lästig sind, dann lehnen Sie sich einfach im Bürosessel zurück, lassen den Dingen ihren Lauf und besinnen sich, wenn es sozial brenzlig wird, auf den bekannten Grundsatz: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich völlig ungeniert! Dann müssen Sie sich auch keine Sorgen machen um Persona-Plumpse und Charakter-Kollapse. In diesem Sinne: einen erbaulichen Start in die Woche. 

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

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