Table.Briefing: China

Norbert Röttgen im Interview + EU-Firmen zögern bei Innovation + Lu Shaye

Liebe Leserin, lieber Leser,

CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen glaubt nicht an China als brauchbaren Vermittler im Krieg gegen die Ukraine. Im Gegenteil: Im Interview mit Table.Media warnt er geradezu, dass die Europäer diese Forderung nach einem Einwirken auf Moskau bereuen könnten: “Ein Land, das wir als Systemrivalen verstehen, soll Bestandteil der Sicherheit in Europa werden? Das hielte ich für grundfalsch und gefährlich.” Europa könne kein Interesse daran haben, dass sich eine Ordnung durchsetze, in der der Mächtigste bestimmt, sagt Röttgen im Gespräch mit Felix Lee und Michael Radunski. “Denn das ist, was China will.” All das sei zudem unvereinbar mit den Prinzipien einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

Ein Beispiel dafür, dass Peking diesen Weg geht, liefert Chinas Topdiplomat in Paris. Lu Shaye, der als eine Blaupause des angestachelten und übereifrigen Wolfkriegers in Europa gilt, irritiert mit einer Aussage zur Souveränität der Staaten, die Teil der ehemaligen Sowjetunion waren. Konkret ging es bei dem Interview im französischen Fernsehen um die Ukraine. Lu erklärte auf Nachfrage dann jedoch, dass Länder der ehemaligen Sowjetunion “keinen tatsächlichen Status im internationalen Recht” hätten, weil “es kein internationales Abkommen gibt, das ihren souveränen Status festschreibt”.

Für die baltischen EU-Länder, ebenfalls Ex-Sowjet-Staaten, war das ein Beweis dafür, dass Peking in einer möglichen Mittler-Rolle im Krieg gegen die Ukraine nicht über den Weg zu trauen ist. Die Aussagen Lus sollen auch beim EU-Außenministerrat heute in Brüssel angesprochen werden.

Wie die europäischen Firmen in China mit Forschung und Entwicklung vor Ort umgehen, hat sich Frank Sieren angesehen. Die EU-Handelskammer und Merics hatten dazu europäische Unternehmen befragt. Die Studie zeigt: Zwar spricht die reine Größe des chinesischen Marktes für gut ein Drittel der befragten Unternehmen dafür, das Thema R&D in China auszubauen – mangelnder Schutz von geistigem Eigentum wirkt aber offenbar als Bremse.

Am Dienstag, 25. April, findet unsere Veranstaltung China-Strategie 2023 statt. Von 10 bis 13.30 Uhr beschäftigen sich 29 Expertinnen und Experten, Wirtschaftsvertreterinnen und Wirtschaftsvertreter sowie Politikerinnen und Politiker mit dem künftigen Umgang Deutschlands mit der selbstbewussten Großmacht in Fernost. Die Digitalveranstaltung will den Stand der Diskussion abbilden und etwas Klarheit in die Debatte bringen. Das ist gerade jetzt wichtig, wo die Weichen für die Neujustierung des Verhältnisses zu China gestellt werden.

Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die neue Woche.

Ihre
Amelie Richter
Bild von Amelie  Richter

Interview

“China hat andere Interessen als Frieden in der Ukraine”

Norbert Röttgen im Interview mit China.Table.

Herr Röttgen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will, dass China für Frieden in der Ukraine sorgt. Wird China tatsächlich eine solche Rolle spielen können? 

Nein, das glaube ich nicht. 

Warum nicht?

Für China gibt es andere, wichtigere Interessen als Frieden in der Ukraine. Ich frage mich aber auch, ob diejenigen Politiker in Europa wirklich wissen, wonach sie rufen, wenn sie China einladen, ein Teil unserer europäischen Sicherheitsarchitektur zu werden. Ein Land, das wir als Systemrivalen verstehen, soll Bestandteil der Sicherheit in Europa werden? Das hielte ich für grundfalsch und gefährlich.

Aber Peking hat sogar ein Papier für eine politische Lösung in der Ukraine vorgelegt.

Das stimmt. Aber China hält sich nicht einmal an den ersten Punkt dieses Papiers, der die Souveränität von Staaten betont. Sonst hätte man den russischen Angriffskrieg klar verurteilen müssen. Dieses Papier ist kein Friedenspapier, sondern Ausdruck chinesischer Interessen.

Die da wären?

Chinas machtpolitische Interessen bestehen darin, die Situation für sich auszunutzen. Das heißt: Für Peking ist es eine Genugtuung, erstens, dass Russland im Verhältnis zu China so schwach wie noch niemals in seiner Geschichte ist. Davon profitiert China ökonomisch enorm, weil es sehr billig Öl und Gas von Russland kaufen kann. Zweitens möchte China sich öffentlich als Friedensvermittler präsentieren und sich so in einem vorteilhaften Kontrast zu den USA porträtieren. Und drittens will China die Europäer untereinander und vor allen Dingen Europa und die USA auseinander dividieren. Das – und nicht Frieden in Europa – ist die chinesische Interessenlage. 

Aber uns Europäern gelingt es seit mehr als einem Jahr nicht, für Frieden zu sorgen. Was spricht dagegen, sich Hilfe von außerhalb zu holen? 

China ist eine repressive Diktatur mit dem Anspruch von globaler Macht und dem Ziel, die internationale Ordnung fundamental zu verändern. Wir Europäer können kein Interesse daran haben, dass die internationale Ordnung, basierend auf dem Prinzip des Rechts, die China immer wieder aktiv unterläuft und schädigt, ersetzt wird durch eine Ordnung, in der der Mächtigste bestimmt. Denn das ist, was China will. All das ist unvereinbar mit den Prinzipien einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

“Kein Anlass zu glauben, dass China uns einen Gefallen tun wird”

Nur haben wir Europäer derzeit keinerlei Einfluss auf Putin. China schon. 

Stimmt, aber zu glauben, dass wir diesen Einfluss in unserem Sinne nutzen könnten und uns darum jetzt besonders gut mit Xi Jinping stellen müssten, halte ich für naiv. Erstens braucht es niemanden aus Europa, um Xi zu erklären, wie er sich gegenüber Russland verhalten soll. Der chinesische Präsident weiß genau, was er tut. Zweitens, gibt es keinerlei Anlass zu glauben, dass China uns in der aktuellen Weltlage irgendwelche Gefallen tun würde. Und drittens, das ist die wohl gefährlichste Naivität, sollten wir nicht glauben, dass wir die Lösung unserer Probleme outsourcen könnten. Die Realität ist, dass die Frage, wie es in der Ukraine weitergeht und ob es zum Frieden kommt, eine militärische Vorbedingung hat, die auch nicht abzutreten ist. 

Was meinen Sie damit konkret? 

Wenn Russland militärisch die Oberhand gewinnt, wird das für Europa auf Jahrzehnte Konsequenzen haben. Europa wäre dann wieder geteilt. Wenn hingegen die Ukraine sich militärisch durchsetzt, eröffnet das politische Möglichkeiten. Alles andere ist eine Verweigerung der Realität. 

Glauben Sie im Umkehrschluss, dass China Waffen an Russland liefert?

Nein. Solange Russland nicht massiv unter militärischen Druck gerät, glaube ich das nicht, weil es die internationale Reputation und die Rolle, die China für sich sucht, völlig konterkarieren würde.

Welche Rolle sucht China?

Peking will sich als Vermittler, als Konfliktbeileger darstellen – nicht als Waffenlieferant. Das funktioniert derzeit auch ganz gut und wirkt in viele Länder hinein. 

War es denn richtig, was die deutsche Außenministerin in China gemacht hat: klare Worte bis hin zum offenen Schlagabtausch?

Frau Baerbock hatte ja vor allem eine Aufgabe: Nämlich klarzumachen, dass die deutsche Position bei Frau von der Leyen liegt und nicht bei Emmanuel Macron. Ein Krieg um Taiwan würde auch Europa angehen und hätte massive Folgen für unser Verhältnis zu China. Insofern war es unvermeidbar, dass sie sehr deutlich werden musste. Ansonsten wäre die Verwirrung über Europa international noch größer geworden.

Röttgen plädierte schon zu Zeiten von Kanzlerin Merkel für einen kritischen Blick auf China.

Doch nicht nur Europa hat das Problem, nicht mit einer Stimme zu sprechen. Die Ampel-Koalition verspricht seit Monaten eine China-Strategie. Aus den Grün-geführten Ministerien sind immerhin schon Vorschläge durchgesickert. Das Kanzleramt unter Olaf Scholz hingegen mauert. Warum tut sich die SPD so schwer mit einer klaren Haltung gegenüber China? 

Dass die Grünen dauernd vom Kanzleramt und der SPD zurückgepfiffen werden, ist nicht überraschend. Im Kanzleramt sieht man vor allem die innenpolitisch unbequemen Folgen einer neuen Chinapolitik. Was mich hingegen wundert, ist, wie viel die Grünen bereit sind zu schlucken. Sie könnten doch eigentlich viel selbstbewusster ihre Positionen formulieren. Gerade in der Außenpolitik, wo es überall hakt.

In Europa hat man sich doch auf die Kategorisierung geeinigt, China als systemischem Rivalen zu betrachten, in Wirtschaftsfragen als Wettbewerber, und in der Klimapolitik sowie anderen Bereichen will man weiter auf Partnerschaft setzen. 

Aber was heißt das genau? Ein De-Coupling, also eine völlige Entkopplung von China, fordert niemand ernsthaft. Sich auf etwas zu verständigen, dass man etwas nicht macht, was ohnehin gar keiner vorschlägt, ist nicht so schwierig. Aber wenn man jetzt von De-Risking spricht, also die Risiken im Umgang mit China zu reduzieren, stellt sich die Frage: Was sind die konkreten Maßnahmen? Genau darin gibt es nämlich einen grundsätzlichen Dissens. Der Kanzler steht im Kern für die Kontinuität einer merkantilistischen Chinapolitik und will auf bilaterale Beziehungen zu anderen Ländern setzen, um auf diese Weise zu einer Diversifizierung zu kommen. Die Grünen hingegen wollen eine grundsätzliche Neubewertung des Umgangs mit China.

“Unsere Sicherheit hat einen Preis”

Und wo steht die Union?

Für eine grundlegende Neubewertung, weil sich China unter Xi Jinping ganz massiv verändert hat. 

Die politische Gemengelage ist interessant: Kanzler Scholz führt im Grunde das fort, was 16 Jahre unter Kanzlerin Merkel, also unter Ihrer Partei, im Umgang mit China galt. Und jetzt scheinen Sie sehr viel stärker der Position der Grünen nahezustehen. 

Meine Kritik an China und der deutschen Chinapolitik habe ich schon formuliert, als Angela Merkel noch Kanzlerin war. Sie ist also nicht neu. In Ihrer Beobachtung stimme ich Ihnen jedoch zu. Die Grünen bleiben bei Ihrer Haltung, die sich bisher aber leider nicht so recht in Regierungshandeln umsetzt. 

Weniger Geschäftsbeziehungen mit China würde steigende Kosten bedeuten, etwa wenn wir Arzneimittel nicht länger aus China beziehen, sondern die Produktion wieder zurück nach Europa holen. Ist die deutsche Bevölkerung bereit, diese höheren Kosten zu tragen? 

Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen einer vernünftigen Politik, die die Dinge schrittweise erklärt, ihre Zustimmung geben. Dafür ist Politik da. Und darum liegt es in der Verantwortung einer Regierung, für diese Ziele zu kämpfen und nicht wie ein Angsthase dazusitzen und zu fragen: Oh, was kostet uns das? Hinzukommt, dass die Menschen durch die Pandemie und den Krieg die Erfahrung gemacht haben, was es bedeutet, abhängig zu sein. Unsere Sicherheit und Unabhängigkeit sind sehr hohe Güter, die es zu schützen gilt. Das hat einen Preis.

“Bei Volkswagen sehe ich kaum Möglichkeiten”

87 Prozent der Photovoltaikanlagen kommen aus China, ein Großteil der Windturbinen und Batterien für E-Autos ebenso. Wir wollen die Energiewende, sind jedoch abhängig von chinesischer Technologie. Ein Dilemma? 

Wir wären im Dilemma, wenn in einem halben Jahr Krieg um Taiwan ausbräche, und wir keine Entscheidungsmöglichkeiten mehr hätten. Das wäre eine Katastrophe. Noch befinden wir uns aber nicht in dieser Situation, sondern in einer Phase, in der wir noch über Abwägungen und Kosten reden können. Um uns unabhängiger von China zu machen, brauchen wir Zeit. Es ist klar, dass das nicht abrupt geht. Darum müssen wir jetzt sorgfältig unsere größten Sicherheitsrisiken definieren. Und wenn wir in bestimmten Gebieten feststellen, dass die Abhängigkeit ein großes Sicherheitsrisiko darstellt, müssen wir handeln und diese Abhängigkeit reduzieren.

Ihre Fraktion im Bundestag hat vergangene Woche ein eigenes Strategiepapier zu China vorgelegt. Nun machen Sie es ganz konkret: Welche Abhängigkeiten von China müssen wir jetzt angehen? 

Zunächst einmal müssen wir verhindern, dass neue Abhängigkeiten geschaffen werden. Darum braucht es beim Ausbau des 5G-Netzes einen Kurswechsel. Der ist auch möglich. Wenn es bei dem Gesetzentwurf der alten Regierung geblieben wäre, hätten Huawei und ZTE, die allesamt massiv von Peking subventioniert werden und unter Kontrolle der KPCh stehen, alle Ausschreibungen gewonnen. Wir hätten hier in Deutschland ein chinesisches 5G bekommen. Wir haben im Bundestag dafür gekämpft, dass das Gesetz im Sinne der Sicherheit unserer Netze geändert wird und klare Anforderungen an die Vertrauenswürdigkeit von Anbietern formuliert, die zu einem Ausschluss führen können. Seit dem Regierungswechsel wurde das Gesetz praktisch nicht angewendet, bis das Bundesinnenministerium vor einem Monat eine 180-Grad-Wende angekündigt hat. Ich begrüße das sehr. Daran, dass dieser Kurswechsel allein in Berlin und im Kanzleramt ersonnen wurde, habe ich allerdings meine Zweifel. 

Was aber ist mit VW und BASF? Die sagen: Wir können gar nicht mehr raus aus China. Das würde den Ruin bedeuten. Deswegen investieren sie noch mehr Milliarden in die Volksrepublik. 

Die jüngste 10-Milliarden-Investition von BASF, die größte Investition ihrer Unternehmensgeschichte, hätte nicht sein müssen. Das ist ein zusätzliches Risiko. Aber vor allem bei Volkswagen sehe ich kaum Möglichkeiten, wie man aus der Abhängigkeit rauskommen will. Der Konzern macht über 50 Prozent seines Gewinns in China. Man darf sich da nichts vormachen: Kommt es zum Krieg um Taiwan, dann wird das unsere Autoindustrie bis ins Mark treffen. Schon deshalb sollten wir nicht so tun, als ginge Taiwan uns nichts an, sondern alles daran setzen, einen Krieg zu verhindern. 

Das klingt nach einer Bankrotterklärung.

Es hilft nicht, die Augen vor der Realität zu schließen. Und es ist ja auch nichts alles schlecht: Der ganze Mittelstand, der das Rückgrat unserer Wirtschaft ist, hat den Perspektivwechsel eingeleitet. Dort wird bereits gehandelt. Diese Firmen wollen in China bleiben, aber sie diversifizieren ihr Engagement und reduzieren es, wo das nötig ist. Was von Regierungsseite unverzichtbar dazugehört, ist eine neue Wachstumsstrategie, die Wachstum erreicht und damit Wohlstand generiert, ohne politische Abhängigkeiten einzugehen. Man kann keine Chinapolitik machen ohne eine veritable europäische Wirtschafts- und Wachstumspolitik. Das ist die eigentliche strategische Aufgabe und der Kern einer neuen Chinapolitik.  

Norbert Röttgen ist seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zwischen 2014 und 2021 war er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

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Analyse

Botschafter in Frankreich verärgert mit Aussage zu Ex-Sowjet-Staaten

Gilt als radikaler Wolfskrieger: Chinas Botschafter in Frankreich, Lu Shaye.

Frankreich, die Ukraine und die baltischen Staaten haben sich bestürzt über Äußerungen des chinesischen Botschafters in Paris gezeigt. Lu Shaye hatte in einem Fernsehinterview die Souveränität ehemaliger Sowjetstaaten wie der Ukraine und den baltischen Ländern infrage gestellt. Die französische Regierung bekundete am Sonntag ihre “volle Solidarität” mit allen betroffenen Staaten, die “nach Jahrzehnten der Unterdrückung” ihre Unabhängigkeit erlangt hätten.

China müsse klären, ob die Äußerungen Lus die offizielle Position widerspiegelten oder nicht. “Was die Ukraine betrifft, so wurde sie 1991 innerhalb ihrer Grenzen, einschließlich der Krim, von der gesamten internationalen Gemeinschaft, einschließlich China, international anerkannt”, sagte ein Sprecher des französischen Außenministeriums.

Die Aussagen des chinesischen Botschafters sollen auch im Rat der EU-Außenminister am heutigen Montag angesprochen werden, erklärte Lettlands Außenminister Edgars Rinkēvičs. Er erwarte “eine starke und einheitliche Reaktion der EU”, schrieb Rinkēvičs auf Twitter. Sein estnischer Amtskollege Margus Tsahkna kritisierte, es handele sich um “eine Fehlinterpretation der Geschichte“. Lus Aussagen seien inakzeptabel, schrieb der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf Twitter. Die EU könne nur annehmen, dass diese nicht die offizielle Politik Chinas darstellten.

Lu: Ehemalige Sowjet-Länder haben keinen souveränen Status

In einem am Freitag vom französischen Fernsehsender LCI ausgestrahlten Interview hatte Lu erklärt, dass die Krim historisch gesehen zu Russland gehöre und der Ukraine vom ehemaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow angeboten worden sei.

Auf die Frage, ob die Krim zur Ukraine gehöre, sagte der Diplomat, es hänge alles davon ab, wie man dieses Problem betrachte. Einer Intervention des Moderators, dass die von Russland seit 2014 besetzte Schwarzmeer-Halbinsel völkerrechtlich ein Teil der Ukraine sei, entgegnete Lu: “Diese Länder der ehemaligen Sowjetunion haben keinen tatsächlichen Status im internationalen Recht, weil es kein internationales Abkommen gibt, das ihren souveränen Status festschreibt.”

Zunächst keine Reaktion Pekings auf Lu-Aussagen

Das chinesische Außenministerium reagierte zunächst nicht auf die Äußerungen des Diplomaten. Der chinesische Topdiplomat gilt als einer der extremsten “Wolf Warrior”. Bisher hielt sich Peking stets zurück, zuviel Unterstützung für das Gebaren des Botschafters zu zeigen – öffentlich Einhalt wurde Lu aber auch nicht geboten.

Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie die Ukraine, die früher zur Sowjetunion gehörten, reagierten in der gleichen Weise wie Frankreich. “Es ist seltsam, eine absurde Version der ‘Geschichte der Krim’ von einem Vertreter eines Landes zu hören, das seine tausendjährige Geschichte sehr genau kennt”, schrieb Mychajlo Podoljak, ein hochrangiger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, auf Twitter. “Wenn Sie ein wichtiger politischer Akteur sein wollen, sollten Sie nicht die Propaganda russischer Außenseiter nachplappern.”

Baltische EU-Länder bestellen chinesische Botschafter ein

Die baltischen Staaten sind seit Jahren Mitglieder der EU und der Nato – sie reagierten bereits formal. Wegen der “völlig inakzeptablen” Bemerkungen habe er für Montag den Geschäftsträger der chinesischen Botschaft in Riga einbestellt, teilte Lettlands Außenminister Rinkēvičs am Samstagabend auf Twitter mit. Dieser Schritt sei mit Litauen und Estland abgestimmt. “Wir erwarten von chinesischer Seite eine Erklärung und eine vollständige Rücknahme dieser Aussage”, so Rinkēvičs

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis schrieb auf Twitter über einen Mitschnitt des Interviews:  “Sollte sich immer noch jemand fragen, warum die baltischen Staaten China nicht vertrauen, ‘Frieden in der Ukraine zu vermitteln‘ – hier ist ein chinesischer Botschafter, der argumentiert, dass die Krim russisch ist und die Grenzen unserer Länder keine rechtliche Grundlage haben.”

Estland, Lettland und Litauen waren im Zweiten Weltkrieg abwechselnd von der Sowjetunion und Deutschland besetzt. Nach Kriegsende wurden die drei kleinen Ostseestaaten im Nordosten Europas gegen ihren Willen jahrzehntelang zu Sowjetrepubliken. Erst 1991 erhielten sie ihre Unabhängigkeit.

Lu gilt als radikaler Wolfskrieger

Lu Shaye ist kein unbeschriebenes Blatt, wenn es um skandalträchtige Aussagen geht. Er teilte regelmäßig auf Twitter gegen französische Journalisten, Thinktanks und China-Experten aus. Unter anderem hatte das Presseteam der chinesischen Botschaft den französischen Akademiker Antoine Bondaz als “kleinen Schläger” und “verrückte Hyäne” bezeichnen lassen. Eine folgende Einbestellung durch das französische Außenministerium ignorierte Lu.

Zu den Weißblatt-Protesten kommentierte er, diese seien von ausländischen Kräften ausgenutzt worden. Im Anschluss des Besuchs von Nancy Pelosi in Taiwan verkündete Lu gleich zweimal, dass die von den USA und ihrer eigenen Regierung fehlgeleiteten Taiwaner nach einer Eroberung erst einmal umerzogen werden müssten.

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Europäische Firmen scheuen sich noch vor lokaler Innovation

Mit dieser Pressekonferenz ging eine wichtige Epoche der europäisch-chinesischen Beziehungen zu Ende: Denn es war die letzte von Jörg Wuttke, nach zehn Jahren im Amt als Chef der EU-Handelskammer in China: “Hiermit ist die Show beendet, vielen Dank”, lautete sein letzter Satz zur Vorstellung der Studie “China’s Innovation Ecosystem – The localisation dilemma” am Freitag in Peking.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Studie hat eine Schwäche. Die 107 beteiligten Unternehmen haben ihre Antworten Ende November gegeben – in den letzten Zügen der Restriktionen der Covid-Pandemie, als es noch nicht abzusehen war, dass sie bald komplett abgeschafft werden. Da beim Thema Innovation jedoch langfristig gedacht werden muss, gibt die Studie dennoch einen wertvollen Einblick in die Innovationsstrategie europäischer Firmen in China.

Erstellt wurde die Studie von dem Berliner China-Thinktank Merics mit Unterstützung der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Duisburg Essen. Finanziert wurde sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, deren Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zuletzt mit ihrem Besuch in Taiwan für Verärgerung in Peking gesorgt hatte.

Marktgröße wichtiger als Bedenken zu geistigem Eigentum

Die wichtigsten positiven Faktoren, die laut der an der Studie teilnehmenden Unternehmen für eine tiefere Lokalisierung der Forschung und Entwicklung (Research & Development, kurz R&D) vor Ort in China sprechen, sind die Größe des chinesischen Marktes, 61 Prozent der befragten Firmen nennen diesen Grund. Auf Platz zwei liegt demnach die große Nachfrage (47 Prozent). 39 Prozent der Befragten nannte zudem die hohe Geschwindigkeit, mit der Ergebnisse aus der Forschung und Entwicklung kommerzialisiert werden. Diese Faktoren hätten ein “extrem dynamisches Umfeld” geschaffen, so die Autoren der Studie.

Die Nachteile lägen allerdings auch auf der Hand. Als wichtigster Punkt, der gegen eine Lokalisierung der Forschung und Entwicklung spricht, wird der schlechte Schutz für geistiges Eigentum genannt. 34 Prozent der befragten europäischen Unternehmen nannten dies als Grund. Das ungleiche “playing field” für ausländische Unternehmen im Vergleich zu chinesischen sahen 32 Prozent als problematisch. Auch die limitierte oder nicht existente staatliche Unterstützung spricht gegen eine höhere Lokalisierung, wie 24 Prozent der Befragten angaben.

Was beim Vergleich der Vor- und Nachteile auffällt: Der größte Nachteil, mangelnder Schutz des geistigen Eigentums, wird nur von etwa halb so vielen Firmen erwähnt wie der wichtigste Vorteil, nämlich die Größe des Marktes in China.

Mehrheit bekommt nicht dieselben Subventionen

Das wichtigste Ergebnis der Studie zeigt jedoch etwas anderes auf: Die Lokalisierung von R&D in der Volksrepublik steht noch ganz am Anfang. Nur 28 Prozent der befragten Firmen geben mehr als fünf Prozent ihrer Gewinne für Forschung und Entwicklung in China aus. Und 20 Prozent der Unternehmen der Studie zufolge sogar weniger als ein Prozent. 24 Prozent gaben an, gar keine R&D vor Ort zu betreiben.

Gleichzeitig geben jedoch auch 77 Prozent der Firmen an, dass sie von Steuererleichterungen profitieren, wenn sie in China forschen und entwickeln. Die meisten Nachlässe bei den Steuern kommen den befragten Unternehmen zufolge von lokalen Behörden. Das gaben 30 Prozent an. Bei den Provinzbehörden (elf Prozent) und der Zentralregierung gibt es demnach aber bei weitem weniger Nachlässe.

40 Prozent der Befragten betonen, dass sie die gleichen Subventionen bekommen wie ihre lokalen Wettbewerber – bei 47 Prozent der befragten Unternehmen ist das nach eigene Angaben jedoch nicht so. Rund neun Prozent dieser Gruppe gaben an, gar keinen Zugang zu den chinesischen Subventionen zu haben.

Corona-Pandemie als größte Hürde

Die Autoren der Studie wollten zudem wissen, was die europäischen Firmen bisher daran gehindert hat, mehr Forschung und Entwicklung nach China zu verlagern. 88 Prozent der Befragten erklärten demnach, die Covid-Pandemie habe ihre R&D-Strategie “stark negativ” oder “negativ” beeinflusst. Die Einstellung in der EU zu China hat mehr als jeden zweiten zögern lassen. Der Ukraine-Krieg hat 45 Prozent davon abgehalten, mehr in China zu forschen und zu entwickeln. Andere Faktoren wie der “US Chips Act” (14 Prozent) oder der politische Streit zwischen China und den USA (26 Prozent) spielen demnach keine so große Rolle.

Die meisten R&D-Partner für europäische Firmen sind mit rund 39 Prozent chinesische Privatunternehmen, gefolgt mit rund 37 Prozent von staatlichen Universitätsforschungszentren. Mit lokalen Staatsunternehmen arbeiten 16 Prozent der EU-Firmen zusammen.  

Studie empfiehlt Taskforce für geistiges Eigentum

Die Autoren der Studie fordern eine “kritische Analyse” der eigenen “Technologieposition hinsichtlich der Wettbewerber.” Für manche biete “Chinas R&D Ökosystem mehr Chancen als Risiken”. Diejenigen sollten strikte “interne Sicherheitsprotokolle” führen und strenge Verträge zum geistigen Eigentum abschließen.

Vor allem kleine und mittlere Betriebe sollten demnach noch vorsichtiger sein. Da sie über weniger Technologien verfügen, sind sie der Studie zufolge größeren Risiken ausgesetzt, wenn die Technologie kopiert wird. Der Schutz des geistigen Eigentums “werde immer wichtiger” und es reiche nicht mehr, “den chinesischen Wettbewerbern eine oder zwei Generationen voraus zu sein.”

Da man den geopolitischen Risiken nicht entfliehen könne, sei es wichtiger denn je, sich mit der EU-Kammer, aber auch mit der Wissenschaft und Thinktanks auszutauschen, rät die Studie. Zudem sollten die Unternehmen dringend eine Taskforce für geistiges Eigentum gründen.

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News

Borrell fordert Militärpräsenz der EU in der Taiwanstraße

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich für Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Taiwanstraße ausgesprochen. In einem Gastbeitrag in der französischen Sonntagszeitung Journal du Dimanche schrieb Borrell, Europa müsse beim Thema Taiwan, “das uns wirtschaftlich, kommerziell und technologisch betrifft, sehr präsent sein”.

Die EU erkenne zwar klar die Ein-China-Politik Pekings an. Diese dürfe aber auf keinen Fall an Bedingungen geknüpft sein oder mit Gewalt durchgesetzt werden, führt der EU-Chefdiplomat weiter aus. “Deshalb fordere ich die europäischen Marinen auf, in der Taiwanstraße zu patrouillieren.” Damit könne Europa sein Engagement für die Freiheit der Schifffahrt in diesem äußerst wichtigen Seegebiet unter Beweis stellen.

Auch zu Pekings ausbleibender Kritik der russischen Invasion in der Ukraine äußerte sich Borrell in seinem Gastbeitrag. Man habe den Chinesen immer wieder gesagt, dass es nicht in ihrem eigenen Interesse sein könne, Russland zu unterstützen, erklärte Borrell – “zumal Sie mit Ihrer Unterstützung nur die Polarisierung des internationalen Systems verstärken, die Sie angeblich bekämpfen wollen.”

Chinas Außenminister Qin Gang hatte am Freitag auf einer Veranstaltung bekräftigt, dass beide Seiten der Taiwanstraße zu China gehören. Es sei Chinas Recht, dort seine Souveränität zu wahren. “In letzter Zeit gab es eine absurde Rhetorik, die China beschuldigte, den Status quo zu stören und den Frieden und die Stabilität an der Taiwanstraße zu stören”, so Qin. “Die Logik ist absurd und die Schlussfolgerung gefährlich.” fpe/rtr

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Peking weist Aussagen von Südkoreas Präsidenten zurück

China hat Aussagen des südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk-yeol über Taiwan als “falsch” bezeichnet und eigenen Angaben zufolge Beschwerde deswegen eingelegt. Vize-Außenminister Sun Weidong habe dem südkoreanischen Botschafter eine “ernste Stellungnahme” übermittelt, erklärte das Außenministerium in Peking. Yoon hatte die Spannungen zwischen China und Taiwan zuvor in einem Interview als “globale Angelegenheit” bezeichnet

Yoon hatte darin zudem gesagt, die Spannungen zwischen China und Taiwan seien die Folge von “Versuchen, den Status Quo gewaltsam zu ändern”. Laut dem chinesischen Außenministerium teilte Vize-Außenminister Sun dem südkoreanischen Botschafter bei einem Treffen am Donnerstag mit, die Kommentare seien “völlig inakzeptabel”. Seoul solle sich an die “Ein-China-Politik halten” und bei “Aussagen und Handlungen, die Taiwan betreffen, vorsichtig sein”. rtr/ari

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Kiel will Neujustierung im Umgang mit China

Schleswig-Holstein möchte seine China-Politik neu justieren und insgesamt strenger ausrichten. Das berichtete die Nachrichtenagentur DPA. Der Landtag will sich demnach in seiner Mai-Sitzung politisch klarer von der Volksrepublik distanzieren. Das gehe aus einem Antrag der Koalitionsfraktionen CDU und Grüne hervor. Ein Hintergrund für den Vorstoß seien die umstrittenen Übernahme-Pläne der staatlichen chinesischen Reederei Cosco für Teile des Hamburger Hafens.

Der schwarz-grüne Antrag plädiert für multilaterale Handelsbeziehungen, um einseitige Abhängigkeiten künftig auszuschließen. Von elementarer Bedeutung werde dabei sein, die kritische Infrastruktur vor chinesischem Einfluss zu schützen. “Dies gilt auch für Beteiligungen von unter 25 Prozent, um beispielsweise den Zugriff auf wichtige Informationen zu verhindern”, heißt es in dem Papier. Eine Neuausrichtung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit China müsse dabei auch die Menschenrechte, etwa mit Blick auf die Situation der Uiguren, berücksichtigen.

Gleichzeitig betonen die Parteien, dass China aller Voraussicht nach ein wichtiger Handelspartner bleiben werde. “Auch die weltweite Herausforderung des Klimawandels wird nur zusammen mit dem größten CO2-Emittenten China zu bewältigen sein und nicht ohne ihn”, heißt es in dem Papier. Seit März führt die Landeshauptstadt Kiel Gespräche über eine Städtepartnerschaft mit der Hafenstadt Qingdao in der ostchinesischen Provinz Shandong. Das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel warnte Mitte April, dass China “eine lange Tradition des Missbrauchs von Städtepartnerschaften” habe. Vor allem auch im militärischen Bereich nutze Peking solche Partnerschaften, um wichtige Informationen abzufischen. fpe

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Presseschau

Chinas Botschafter in Frankreich empört Baltenstaaten: Ex-Sowjetstaaten nicht souverän ZDF
Macron plant Friedensgipfel zum Ukraine-Krieg mit China FR
Grünen-Außenpolitiker Reinhard Bütikofer: “Europa tickt in der China-Frage überwiegend anders als Macron” IDOWA
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell für Entsendung europäischer Kriegsschiffe nach Taiwan SPIEGEL
Wegen Spannungen mit China: Taiwan entwickelt neues Kampfboot T-ONLINE
War of words: Australia can expect a hostile response from China to strategic defence review THEGUARDIAN
WA Premier Mark McGowan raised cases of detained Australians during China trip ABC
China lodges complaint over South Korean president’s ‘erroneous’ Taiwan remarks REUTERS
New York Times: Deutsche Konzerne arbeiten gegen die USA und stützen China BERLINER-ZEITUNG
Europas Autohersteller in China vor Problemen ORF
Even Chinese companies are moving supply chains out China to avoid geopolitical risks BUSINESSINSIDER
Kenia und Chinas Investitionen – Wie raus aus den Schulden? TAGESSCHAU
Schleswig-Holstein richtet China-Kurs neu aus KN-ONLINE
UN-Cybercrime-Konvention: EU streitet mit China und Russland über Datenschutz HEISE
ING sues China’s biggest bank over copper trading losses FT
Wärmepumpen: Und wieder hängt alles an China ZEIT
Zwischen den Systemen: Wie Wolfsburg chinesisch wurde FAZ

Heads

Marina Rudyak – mehr strategische Empathie

Marina Rudyak zu Chinas Papier zur Ukraine
Marina Rudyak: “Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt, und es ernst nehmen.”

“Wissen ist Macht”, sagt Marina Rudyak. Dass sich das Machtgefüge zwischen China und Europa derzeit so drastisch verschiebt, hat ihr zufolge auch damit zu tun, dass China Europa seit 150 Jahren genau beobachtet. Den meisten Europäern hingegen ist China so fern und fremd wie eh und je. “Wie kann es sein”, fragt Rudyak, “dass wir es uns leisten, so wenig über das Land zu wissen, das Deutschlands größter Handelspartner und strategischer Rivale ist?”

In einem Artikel fordert die Sinologin der Universität Heidelberg deshalb mehr strategische Empathie und China-Kompetenz. Im Gespräch merkt sie jedoch sofort an: Empathie sei hierbei allerdings nicht mit Sympathie zu verwechseln. Vielmehr gehe es darum zu verstehen, was den anderen antreibt, welche Geschichte, Ideologien und Weltbilder seine Entscheidungen prägen. Nur dann seien informierte und gute Entscheidungen möglich. Das größte und doch einfach zu vermeidende Risiko sei es, zu glauben, dass man schon genug wisse. 

Xi Jinping lesen und verstehen

Für Rudyak heißt das: “Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt, und es ernst nehmen.” Dafür brauche es in Deutschland von fast allem mehr. Mehr Sprachkenntnisse. Mehr Fachkompetenz. Mehr strategisches Übersetzen. Denn, nur ein Bruchteil der frei zugänglichen chinesischen Dokumente, ist übersetzt. Zudem sind offizielle chinesische Übersetzungen meist Propagandadokumente: Darin werden die gleichen Begriffe verwendet, die oft jedoch etwas Anderes meinen.

Deswegen hat Rudyak mit vier anderen Sinologinnen und Sinologen das “Decoding China Dictionary” begründet. Es erläutert, wie die Kernbegriffe der internationalen Beziehungen – wie Menschenrechte, Demokratie oder Multilateralismus – in Europa und der Kommunistischen Partei Chinas unterschiedlich verstanden werden.

Zwischen Russland, Deutschland – und China

Dass Rudyak das Auseinandersetzen mit dem Denken der anderen für so wichtig hält, hat mit ihrer Vita zu tun. Sie ist in Moskau geboren und ist, so sagt sie selbst, ein typisches Kind der Sowjetunion: der Vater ukrainisch-jüdisch, die Mutter aus Taschkent mit belarussischen, georgischen und russischen Wurzeln. 1991, Rudyak ist gerade mal zehn Jahre alt, kommt die Familie nach Heidelberg, wo ihr Vater eine Gastprofessur hat – und bleibt. Später kommt mit China beruflich eine weitere Kultur hinzu.

Rudyak bleibt dem politischen Diskus in Russland verbunden, weshalb ihr – wie vielen anderen ihrer Generation, die einen sowjetischen Migrationshintergrund haben – schon 2008 ein Überfall Russlands auf die Ukraine als ein wahrscheinliches Szenario erscheint.

Doch eine Parallele zu China und Taiwan sieht sie nicht. Vielmehr warnt Rudyak davor, China mit Russland gleichzusetzen. “Der Vergleich verleitet leicht dazu, sich gar nicht erst mit China zu beschäftigen.” Die Konsequenzen, China und seine Politik nicht richtig zu verstehen, seien jedoch schon jetzt gravierend.

Von den USA lernen

Die promovierte Sinologin arbeitet derzeit als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg und vertritt aktuell die Professur für Gesellschaft und Wirtschaft Chinas an der Universität Göttingen. Sie kritisiert, dass China in der deutschen Schul- und universitären Landschaft trotz seiner Bedeutung nach wie vor ein Randthema ist. Schlimmer noch, je schwieriger das Verhältnis zu China werde, desto weniger wolle man sich in Deutschland damit auseinandersetzen. “Es fehlt der strategische Umgang, wie in den USA. Dort stürzt man sich umso mehr darauf, je mehr China als Rivale wahrgenommen wird.”

Auch in der Politik könnte man von den USA lernen. In den Vereinigten Staaten ist es üblich, dass Wissenschaftler:innen für einige Jahre in die Politik gehen –  und umgekehrt. Von solchen “Drehtüren” könne Rudyak zufolge auch die deutsche Politik profitieren. Denn – mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes – sei China-Expertise im deutschen Politikbetrieb rar.

Politik aktiv mitgestalten

Rudyak selbst arbeitete nach ihrem Magisterabschluss an der Universität Heidelberg zunächst mehrere Jahre als wirtschaftspolitische Beraterin für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Peking in einem Programm zur regionalen wirtschaftlichen Kooperation und Integration. 2014 ging sie zurück nach Heidelberg, um eine Doktorarbeit zur chinesischen Entwicklungshilfepolitik zu schreiben. Ihr Plan: Schnell promovieren und zurück zur GIZ. Rudyak entscheid sich dann aber doch, an der Universität zu bleiben. “So spannend die Arbeit bei der GIZ war, ich hatte keine Zeit zum Lesen. Und ich will erforschen, verstehen und erklären” sagt sie.

Deswegen macht sie beides: Neben der universitären Forschung und Lehre berät Rudyak deutsche und europäische Politik, Behörden und Nichtregierungsorganisationen, vor allem zu Chinas Entwicklungspolitik. Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges beschäftigt sich Rudyak zudem intensiv mit den China-Russland-Beziehungen. “Wenn man zu den wenigen in Deutschland gehört, die beide Sprachen lesen können, dann ist das eine Verantwortung”, sagt Rudyak. Michael Radunski

Marina Rudyak ist Panelisti auf der Table.Media-Veranstaltung China-Strategie 2023.

  • Marina Rudyak

Personalien

Mattias Lentz ist zum neuen stellvertretenden Leiter der EU-Delegation in China ernannt worden. Lentz ist derzeit schwedischer Botschafter im Iran. Zuvor war er unter anderem Senior Advisor für China im schwedischen Außenministerium und Leiter der Abteilung für Politik, Presse und Information in den EU-Delegationen auf den Philippinen und in China.

Sujiro Seam wurde zudem als neuer EU-Botschafter beim Staatenbund ASEAN nominiert. Seam ist derzeit EU-Botschafter für die Pazifikregion in Fidschi. Zuvor war er Botschafter Frankreichs auf Fidschi.

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Zur Sprache

Frisbee-Babes

飞盘媛 – fēipányuán – Frisbee-Babes

Wenn die Temperaturen steigen, heißt es in chinesischen Metropolen auch in diesem Jahr wieder: Vorsicht vor flach fliegenden Kunststoffscheiben. Gemeint sind ausnahmsweise nicht die Deckel der allgegenwärtigen Waimai-Verpackungen (外卖 wàimài = Außerhauslieferungen), sondern: Frisbee-Scheiben.

Denn seit 2022 hat die Frisbee in China ordentlich Aufwind und ist unter dem chinesischen Namen 飞盘 fēipán (wörtlich “Flugteller”, 玩飞盘 wán fēipán “Frisbee spielen”) unter jungen Leuten zum hippen Trendsport avanciert. Ob am Wochenende im Park oder in der Mittagspause zwischen den Hochglanzfassaden im Financial District, wer in China derzeit in sein will, geht raus und wirft mit ordentlich Schneid lässig ein paar Runden Scheiben. Beliebt ist die Disk-Disziplin nicht zuletzt deshalb, weil sie auch in gemischten Teams prima funktioniert. Muskelkraft spielt bei der Sportart, die ursprünglich aus den USA stammt, nämlich keine große Rolle.

Sobald es wärmer wird, kapern Chinas Scheiben-Hipster also die urbanen Fußballfelder der Nation und funktionieren den Kunstrasen zur Kampfarena für Ultimate Frisbee um, der Wettkampfvariante des Sports, auf Chinesisch 极限飞盘 jíxiàn fēipán. Und wo in China Neues sprießt, da sind bekanntlich auch neue Sprachblüten nicht weit. Und so hat der Plastikdisk-Boom mal wieder einen Neologismus-Schneeball ins Rollen gebracht.

Im Falle des “Flugtellers” hat die Fangemeinde in diesem Kontext den Begriff des “Frisbee-Babes” geprägt, auf Chinesisch 飞盘媛 fēipányuán. Das Zeichen 媛 – gesprochen entweder yuàn (4. Ton) oder umgangssprachlich meist yuán (2. Ton) – bedeutet “schöne Frau”. Es ist daher auch ein beliebter Bestandteil weiblicher Vornamen.

Ursprünglich verbinden Chinesen mit diesem Hanzi berühmte und kultivierte Schönheiten aus gutem Hause. Nicht so aber im Falle der Frisbee-Feger. Als feipanyuan werden stattdessen spöttisch junge Damen bezeichnet, die das Spielfeld zum Laufsteg umfunktionieren, um in bauchfreiem Top und enger Yoga-Pants fotowirksam ihre Traumfigur in Szene zu setzen (秀身材 xiù shēncái). Die Frisbee taugt dabei vor allem als Requisite, der Sport wird zur Nebensache (wenn er überhaupt praktiziert wird). Stattdessen steht Scheiben-Schaulaufen auf dem Programm, um danach auf WeChat, Xiaohongshu, Douyin und Co. Klicks, Likes und Views abzusahnen – oder noch auf dem Sportplatz die Blicke und Pfiffe der Kicker auf dem Nachbarfeld. Echte Frisbee-Girls können darüber natürlich nur den Kopf schütteln.

Natürlich geht Püppchenposen nicht nur mit Plastikscheibchen. Und so entlarvt Chinas Netzgemeinde ein ganzes Universum an Beauty-Poserinnen, die die neuesten Trends ohne Talent oder Ehrgeiz nur für die Kamera zelebrieren, statt sich wirklich auf das Erlebnis einzulassen. So frotzelt Chinas Internet nicht nur über Fitness-Babes (健身媛 jiànshēnyuán) und Yoga-Babes (瑜伽媛 yújiāyuán), Badminton-Babes (羽毛媛 yǔmáoyuán) oder  Schießsport-Babes (射击媛 shèjīyuán – wahlweise mit Knarre oder Bogen), Autofan-Babes (车友媛 chēyǒuyuán) und Bergsteiger-Babes (爬山媛 páshānyuán), sondern auch über Teetrinker-Babes (茶媛 cháyuán) und Buddhismus-Babes (佛媛 fóyuán).

Die Liste der Stichel-Neologismen ließe sich noch beliebig fortsetzen. Auch deshalb, weil in China ein neues Outdoorsportfieber (户外运动 hùwài yùndòng “Outdoorsport”) entbrannt ist. Lange haftete Freiluftaktivitäten das Label der Langweile und ruhelosen Rentnerroutine an. Doch wer bei Freizeit im Freien im Reich der Mitte nur an Gehsteigpoker (打牌 dǎpái) und Straßenschach (下棋 xiàqí), Vogelgassi (遛鸟 liùniǎo) und Mutti-Mahjong (打麻将 dǎ májiàng), Gruppentanzgroove (跳广场舞 tiào guǎngchǎngwǔ) und Freiluft-Fitnessgeräte (户外健身器材 hùwài jiànshēn qìcái) denkt, ist eindeutig von gestern. Chinas Jugend hat Outdoorluft geschnuppert. Neben Frisbee trenden deshalb noch zahlreiche weitere Freiluftsportarten und -beschäftigungen wie Skatboarding (滑板 huábǎn) und Stand-up-Paddling (桨板 jiǎngbǎn), Camping (露营 lùyíng) und Surfing (冲浪 chōnglàng), Baseball (棒球 bàngqiú, wörtlich “Stockball”), Rugby (橄榄球 gǎnlǎnqiú, wörtlich “Olivenball”) und Klettern (攀岩 pānyán).

Bleibt nur die Frage, wie man eigentlich das männliche Pendant zum Frisbee-Babe nennt, also den Frisbee-Boy? Schließlich gibt es ja auch Herren, die mehr Präsenz als Einsatz zeigen und lieber posen und posten statt Schweißperlen zu schwitzen. Bisher hat sich lexikalisch leider kein männliches Gegenstück zur “Scheibenschnitte” durchgesetzt, obwohl in chinesischen Onlineforen durchaus Vorschläge kursieren, zum Beispiel die飞盘夹 fēipánjiā “Frisbee-Klammer” (eigentlich ein Clip, mit dem man die Sportscheibe an Gürtel oder Tasche befestigen kann). Kreative Ideen sind also willkommen. Ein guter Anlass ja vielleicht auch, prompt den Büro- oder Couchsessel zu räumen und dem Outdoor-Ruf zu folgen. Die besten Ideen kommen ja bekanntlich noch immer bei Bewegung an der frischen Luft.

Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen glaubt nicht an China als brauchbaren Vermittler im Krieg gegen die Ukraine. Im Gegenteil: Im Interview mit Table.Media warnt er geradezu, dass die Europäer diese Forderung nach einem Einwirken auf Moskau bereuen könnten: “Ein Land, das wir als Systemrivalen verstehen, soll Bestandteil der Sicherheit in Europa werden? Das hielte ich für grundfalsch und gefährlich.” Europa könne kein Interesse daran haben, dass sich eine Ordnung durchsetze, in der der Mächtigste bestimmt, sagt Röttgen im Gespräch mit Felix Lee und Michael Radunski. “Denn das ist, was China will.” All das sei zudem unvereinbar mit den Prinzipien einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

    Ein Beispiel dafür, dass Peking diesen Weg geht, liefert Chinas Topdiplomat in Paris. Lu Shaye, der als eine Blaupause des angestachelten und übereifrigen Wolfkriegers in Europa gilt, irritiert mit einer Aussage zur Souveränität der Staaten, die Teil der ehemaligen Sowjetunion waren. Konkret ging es bei dem Interview im französischen Fernsehen um die Ukraine. Lu erklärte auf Nachfrage dann jedoch, dass Länder der ehemaligen Sowjetunion “keinen tatsächlichen Status im internationalen Recht” hätten, weil “es kein internationales Abkommen gibt, das ihren souveränen Status festschreibt”.

    Für die baltischen EU-Länder, ebenfalls Ex-Sowjet-Staaten, war das ein Beweis dafür, dass Peking in einer möglichen Mittler-Rolle im Krieg gegen die Ukraine nicht über den Weg zu trauen ist. Die Aussagen Lus sollen auch beim EU-Außenministerrat heute in Brüssel angesprochen werden.

    Wie die europäischen Firmen in China mit Forschung und Entwicklung vor Ort umgehen, hat sich Frank Sieren angesehen. Die EU-Handelskammer und Merics hatten dazu europäische Unternehmen befragt. Die Studie zeigt: Zwar spricht die reine Größe des chinesischen Marktes für gut ein Drittel der befragten Unternehmen dafür, das Thema R&D in China auszubauen – mangelnder Schutz von geistigem Eigentum wirkt aber offenbar als Bremse.

    Am Dienstag, 25. April, findet unsere Veranstaltung China-Strategie 2023 statt. Von 10 bis 13.30 Uhr beschäftigen sich 29 Expertinnen und Experten, Wirtschaftsvertreterinnen und Wirtschaftsvertreter sowie Politikerinnen und Politiker mit dem künftigen Umgang Deutschlands mit der selbstbewussten Großmacht in Fernost. Die Digitalveranstaltung will den Stand der Diskussion abbilden und etwas Klarheit in die Debatte bringen. Das ist gerade jetzt wichtig, wo die Weichen für die Neujustierung des Verhältnisses zu China gestellt werden.

    Wir wünschen Ihnen einen guten Start in die neue Woche.

    Ihre
    Amelie Richter
    Bild von Amelie  Richter

    Interview

    “China hat andere Interessen als Frieden in der Ukraine”

    Norbert Röttgen im Interview mit China.Table.

    Herr Röttgen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will, dass China für Frieden in der Ukraine sorgt. Wird China tatsächlich eine solche Rolle spielen können? 

    Nein, das glaube ich nicht. 

    Warum nicht?

    Für China gibt es andere, wichtigere Interessen als Frieden in der Ukraine. Ich frage mich aber auch, ob diejenigen Politiker in Europa wirklich wissen, wonach sie rufen, wenn sie China einladen, ein Teil unserer europäischen Sicherheitsarchitektur zu werden. Ein Land, das wir als Systemrivalen verstehen, soll Bestandteil der Sicherheit in Europa werden? Das hielte ich für grundfalsch und gefährlich.

    Aber Peking hat sogar ein Papier für eine politische Lösung in der Ukraine vorgelegt.

    Das stimmt. Aber China hält sich nicht einmal an den ersten Punkt dieses Papiers, der die Souveränität von Staaten betont. Sonst hätte man den russischen Angriffskrieg klar verurteilen müssen. Dieses Papier ist kein Friedenspapier, sondern Ausdruck chinesischer Interessen.

    Die da wären?

    Chinas machtpolitische Interessen bestehen darin, die Situation für sich auszunutzen. Das heißt: Für Peking ist es eine Genugtuung, erstens, dass Russland im Verhältnis zu China so schwach wie noch niemals in seiner Geschichte ist. Davon profitiert China ökonomisch enorm, weil es sehr billig Öl und Gas von Russland kaufen kann. Zweitens möchte China sich öffentlich als Friedensvermittler präsentieren und sich so in einem vorteilhaften Kontrast zu den USA porträtieren. Und drittens will China die Europäer untereinander und vor allen Dingen Europa und die USA auseinander dividieren. Das – und nicht Frieden in Europa – ist die chinesische Interessenlage. 

    Aber uns Europäern gelingt es seit mehr als einem Jahr nicht, für Frieden zu sorgen. Was spricht dagegen, sich Hilfe von außerhalb zu holen? 

    China ist eine repressive Diktatur mit dem Anspruch von globaler Macht und dem Ziel, die internationale Ordnung fundamental zu verändern. Wir Europäer können kein Interesse daran haben, dass die internationale Ordnung, basierend auf dem Prinzip des Rechts, die China immer wieder aktiv unterläuft und schädigt, ersetzt wird durch eine Ordnung, in der der Mächtigste bestimmt. Denn das ist, was China will. All das ist unvereinbar mit den Prinzipien einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

    “Kein Anlass zu glauben, dass China uns einen Gefallen tun wird”

    Nur haben wir Europäer derzeit keinerlei Einfluss auf Putin. China schon. 

    Stimmt, aber zu glauben, dass wir diesen Einfluss in unserem Sinne nutzen könnten und uns darum jetzt besonders gut mit Xi Jinping stellen müssten, halte ich für naiv. Erstens braucht es niemanden aus Europa, um Xi zu erklären, wie er sich gegenüber Russland verhalten soll. Der chinesische Präsident weiß genau, was er tut. Zweitens, gibt es keinerlei Anlass zu glauben, dass China uns in der aktuellen Weltlage irgendwelche Gefallen tun würde. Und drittens, das ist die wohl gefährlichste Naivität, sollten wir nicht glauben, dass wir die Lösung unserer Probleme outsourcen könnten. Die Realität ist, dass die Frage, wie es in der Ukraine weitergeht und ob es zum Frieden kommt, eine militärische Vorbedingung hat, die auch nicht abzutreten ist. 

    Was meinen Sie damit konkret? 

    Wenn Russland militärisch die Oberhand gewinnt, wird das für Europa auf Jahrzehnte Konsequenzen haben. Europa wäre dann wieder geteilt. Wenn hingegen die Ukraine sich militärisch durchsetzt, eröffnet das politische Möglichkeiten. Alles andere ist eine Verweigerung der Realität. 

    Glauben Sie im Umkehrschluss, dass China Waffen an Russland liefert?

    Nein. Solange Russland nicht massiv unter militärischen Druck gerät, glaube ich das nicht, weil es die internationale Reputation und die Rolle, die China für sich sucht, völlig konterkarieren würde.

    Welche Rolle sucht China?

    Peking will sich als Vermittler, als Konfliktbeileger darstellen – nicht als Waffenlieferant. Das funktioniert derzeit auch ganz gut und wirkt in viele Länder hinein. 

    War es denn richtig, was die deutsche Außenministerin in China gemacht hat: klare Worte bis hin zum offenen Schlagabtausch?

    Frau Baerbock hatte ja vor allem eine Aufgabe: Nämlich klarzumachen, dass die deutsche Position bei Frau von der Leyen liegt und nicht bei Emmanuel Macron. Ein Krieg um Taiwan würde auch Europa angehen und hätte massive Folgen für unser Verhältnis zu China. Insofern war es unvermeidbar, dass sie sehr deutlich werden musste. Ansonsten wäre die Verwirrung über Europa international noch größer geworden.

    Röttgen plädierte schon zu Zeiten von Kanzlerin Merkel für einen kritischen Blick auf China.

    Doch nicht nur Europa hat das Problem, nicht mit einer Stimme zu sprechen. Die Ampel-Koalition verspricht seit Monaten eine China-Strategie. Aus den Grün-geführten Ministerien sind immerhin schon Vorschläge durchgesickert. Das Kanzleramt unter Olaf Scholz hingegen mauert. Warum tut sich die SPD so schwer mit einer klaren Haltung gegenüber China? 

    Dass die Grünen dauernd vom Kanzleramt und der SPD zurückgepfiffen werden, ist nicht überraschend. Im Kanzleramt sieht man vor allem die innenpolitisch unbequemen Folgen einer neuen Chinapolitik. Was mich hingegen wundert, ist, wie viel die Grünen bereit sind zu schlucken. Sie könnten doch eigentlich viel selbstbewusster ihre Positionen formulieren. Gerade in der Außenpolitik, wo es überall hakt.

    In Europa hat man sich doch auf die Kategorisierung geeinigt, China als systemischem Rivalen zu betrachten, in Wirtschaftsfragen als Wettbewerber, und in der Klimapolitik sowie anderen Bereichen will man weiter auf Partnerschaft setzen. 

    Aber was heißt das genau? Ein De-Coupling, also eine völlige Entkopplung von China, fordert niemand ernsthaft. Sich auf etwas zu verständigen, dass man etwas nicht macht, was ohnehin gar keiner vorschlägt, ist nicht so schwierig. Aber wenn man jetzt von De-Risking spricht, also die Risiken im Umgang mit China zu reduzieren, stellt sich die Frage: Was sind die konkreten Maßnahmen? Genau darin gibt es nämlich einen grundsätzlichen Dissens. Der Kanzler steht im Kern für die Kontinuität einer merkantilistischen Chinapolitik und will auf bilaterale Beziehungen zu anderen Ländern setzen, um auf diese Weise zu einer Diversifizierung zu kommen. Die Grünen hingegen wollen eine grundsätzliche Neubewertung des Umgangs mit China.

    “Unsere Sicherheit hat einen Preis”

    Und wo steht die Union?

    Für eine grundlegende Neubewertung, weil sich China unter Xi Jinping ganz massiv verändert hat. 

    Die politische Gemengelage ist interessant: Kanzler Scholz führt im Grunde das fort, was 16 Jahre unter Kanzlerin Merkel, also unter Ihrer Partei, im Umgang mit China galt. Und jetzt scheinen Sie sehr viel stärker der Position der Grünen nahezustehen. 

    Meine Kritik an China und der deutschen Chinapolitik habe ich schon formuliert, als Angela Merkel noch Kanzlerin war. Sie ist also nicht neu. In Ihrer Beobachtung stimme ich Ihnen jedoch zu. Die Grünen bleiben bei Ihrer Haltung, die sich bisher aber leider nicht so recht in Regierungshandeln umsetzt. 

    Weniger Geschäftsbeziehungen mit China würde steigende Kosten bedeuten, etwa wenn wir Arzneimittel nicht länger aus China beziehen, sondern die Produktion wieder zurück nach Europa holen. Ist die deutsche Bevölkerung bereit, diese höheren Kosten zu tragen? 

    Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen einer vernünftigen Politik, die die Dinge schrittweise erklärt, ihre Zustimmung geben. Dafür ist Politik da. Und darum liegt es in der Verantwortung einer Regierung, für diese Ziele zu kämpfen und nicht wie ein Angsthase dazusitzen und zu fragen: Oh, was kostet uns das? Hinzukommt, dass die Menschen durch die Pandemie und den Krieg die Erfahrung gemacht haben, was es bedeutet, abhängig zu sein. Unsere Sicherheit und Unabhängigkeit sind sehr hohe Güter, die es zu schützen gilt. Das hat einen Preis.

    “Bei Volkswagen sehe ich kaum Möglichkeiten”

    87 Prozent der Photovoltaikanlagen kommen aus China, ein Großteil der Windturbinen und Batterien für E-Autos ebenso. Wir wollen die Energiewende, sind jedoch abhängig von chinesischer Technologie. Ein Dilemma? 

    Wir wären im Dilemma, wenn in einem halben Jahr Krieg um Taiwan ausbräche, und wir keine Entscheidungsmöglichkeiten mehr hätten. Das wäre eine Katastrophe. Noch befinden wir uns aber nicht in dieser Situation, sondern in einer Phase, in der wir noch über Abwägungen und Kosten reden können. Um uns unabhängiger von China zu machen, brauchen wir Zeit. Es ist klar, dass das nicht abrupt geht. Darum müssen wir jetzt sorgfältig unsere größten Sicherheitsrisiken definieren. Und wenn wir in bestimmten Gebieten feststellen, dass die Abhängigkeit ein großes Sicherheitsrisiko darstellt, müssen wir handeln und diese Abhängigkeit reduzieren.

    Ihre Fraktion im Bundestag hat vergangene Woche ein eigenes Strategiepapier zu China vorgelegt. Nun machen Sie es ganz konkret: Welche Abhängigkeiten von China müssen wir jetzt angehen? 

    Zunächst einmal müssen wir verhindern, dass neue Abhängigkeiten geschaffen werden. Darum braucht es beim Ausbau des 5G-Netzes einen Kurswechsel. Der ist auch möglich. Wenn es bei dem Gesetzentwurf der alten Regierung geblieben wäre, hätten Huawei und ZTE, die allesamt massiv von Peking subventioniert werden und unter Kontrolle der KPCh stehen, alle Ausschreibungen gewonnen. Wir hätten hier in Deutschland ein chinesisches 5G bekommen. Wir haben im Bundestag dafür gekämpft, dass das Gesetz im Sinne der Sicherheit unserer Netze geändert wird und klare Anforderungen an die Vertrauenswürdigkeit von Anbietern formuliert, die zu einem Ausschluss führen können. Seit dem Regierungswechsel wurde das Gesetz praktisch nicht angewendet, bis das Bundesinnenministerium vor einem Monat eine 180-Grad-Wende angekündigt hat. Ich begrüße das sehr. Daran, dass dieser Kurswechsel allein in Berlin und im Kanzleramt ersonnen wurde, habe ich allerdings meine Zweifel. 

    Was aber ist mit VW und BASF? Die sagen: Wir können gar nicht mehr raus aus China. Das würde den Ruin bedeuten. Deswegen investieren sie noch mehr Milliarden in die Volksrepublik. 

    Die jüngste 10-Milliarden-Investition von BASF, die größte Investition ihrer Unternehmensgeschichte, hätte nicht sein müssen. Das ist ein zusätzliches Risiko. Aber vor allem bei Volkswagen sehe ich kaum Möglichkeiten, wie man aus der Abhängigkeit rauskommen will. Der Konzern macht über 50 Prozent seines Gewinns in China. Man darf sich da nichts vormachen: Kommt es zum Krieg um Taiwan, dann wird das unsere Autoindustrie bis ins Mark treffen. Schon deshalb sollten wir nicht so tun, als ginge Taiwan uns nichts an, sondern alles daran setzen, einen Krieg zu verhindern. 

    Das klingt nach einer Bankrotterklärung.

    Es hilft nicht, die Augen vor der Realität zu schließen. Und es ist ja auch nichts alles schlecht: Der ganze Mittelstand, der das Rückgrat unserer Wirtschaft ist, hat den Perspektivwechsel eingeleitet. Dort wird bereits gehandelt. Diese Firmen wollen in China bleiben, aber sie diversifizieren ihr Engagement und reduzieren es, wo das nötig ist. Was von Regierungsseite unverzichtbar dazugehört, ist eine neue Wachstumsstrategie, die Wachstum erreicht und damit Wohlstand generiert, ohne politische Abhängigkeiten einzugehen. Man kann keine Chinapolitik machen ohne eine veritable europäische Wirtschafts- und Wachstumspolitik. Das ist die eigentliche strategische Aufgabe und der Kern einer neuen Chinapolitik.  

    Norbert Röttgen ist seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zwischen 2014 und 2021 war er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

    • Autoindustrie

    Analyse

    Botschafter in Frankreich verärgert mit Aussage zu Ex-Sowjet-Staaten

    Gilt als radikaler Wolfskrieger: Chinas Botschafter in Frankreich, Lu Shaye.

    Frankreich, die Ukraine und die baltischen Staaten haben sich bestürzt über Äußerungen des chinesischen Botschafters in Paris gezeigt. Lu Shaye hatte in einem Fernsehinterview die Souveränität ehemaliger Sowjetstaaten wie der Ukraine und den baltischen Ländern infrage gestellt. Die französische Regierung bekundete am Sonntag ihre “volle Solidarität” mit allen betroffenen Staaten, die “nach Jahrzehnten der Unterdrückung” ihre Unabhängigkeit erlangt hätten.

    China müsse klären, ob die Äußerungen Lus die offizielle Position widerspiegelten oder nicht. “Was die Ukraine betrifft, so wurde sie 1991 innerhalb ihrer Grenzen, einschließlich der Krim, von der gesamten internationalen Gemeinschaft, einschließlich China, international anerkannt”, sagte ein Sprecher des französischen Außenministeriums.

    Die Aussagen des chinesischen Botschafters sollen auch im Rat der EU-Außenminister am heutigen Montag angesprochen werden, erklärte Lettlands Außenminister Edgars Rinkēvičs. Er erwarte “eine starke und einheitliche Reaktion der EU”, schrieb Rinkēvičs auf Twitter. Sein estnischer Amtskollege Margus Tsahkna kritisierte, es handele sich um “eine Fehlinterpretation der Geschichte“. Lus Aussagen seien inakzeptabel, schrieb der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf Twitter. Die EU könne nur annehmen, dass diese nicht die offizielle Politik Chinas darstellten.

    Lu: Ehemalige Sowjet-Länder haben keinen souveränen Status

    In einem am Freitag vom französischen Fernsehsender LCI ausgestrahlten Interview hatte Lu erklärt, dass die Krim historisch gesehen zu Russland gehöre und der Ukraine vom ehemaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow angeboten worden sei.

    Auf die Frage, ob die Krim zur Ukraine gehöre, sagte der Diplomat, es hänge alles davon ab, wie man dieses Problem betrachte. Einer Intervention des Moderators, dass die von Russland seit 2014 besetzte Schwarzmeer-Halbinsel völkerrechtlich ein Teil der Ukraine sei, entgegnete Lu: “Diese Länder der ehemaligen Sowjetunion haben keinen tatsächlichen Status im internationalen Recht, weil es kein internationales Abkommen gibt, das ihren souveränen Status festschreibt.”

    Zunächst keine Reaktion Pekings auf Lu-Aussagen

    Das chinesische Außenministerium reagierte zunächst nicht auf die Äußerungen des Diplomaten. Der chinesische Topdiplomat gilt als einer der extremsten “Wolf Warrior”. Bisher hielt sich Peking stets zurück, zuviel Unterstützung für das Gebaren des Botschafters zu zeigen – öffentlich Einhalt wurde Lu aber auch nicht geboten.

    Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie die Ukraine, die früher zur Sowjetunion gehörten, reagierten in der gleichen Weise wie Frankreich. “Es ist seltsam, eine absurde Version der ‘Geschichte der Krim’ von einem Vertreter eines Landes zu hören, das seine tausendjährige Geschichte sehr genau kennt”, schrieb Mychajlo Podoljak, ein hochrangiger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, auf Twitter. “Wenn Sie ein wichtiger politischer Akteur sein wollen, sollten Sie nicht die Propaganda russischer Außenseiter nachplappern.”

    Baltische EU-Länder bestellen chinesische Botschafter ein

    Die baltischen Staaten sind seit Jahren Mitglieder der EU und der Nato – sie reagierten bereits formal. Wegen der “völlig inakzeptablen” Bemerkungen habe er für Montag den Geschäftsträger der chinesischen Botschaft in Riga einbestellt, teilte Lettlands Außenminister Rinkēvičs am Samstagabend auf Twitter mit. Dieser Schritt sei mit Litauen und Estland abgestimmt. “Wir erwarten von chinesischer Seite eine Erklärung und eine vollständige Rücknahme dieser Aussage”, so Rinkēvičs

    Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis schrieb auf Twitter über einen Mitschnitt des Interviews:  “Sollte sich immer noch jemand fragen, warum die baltischen Staaten China nicht vertrauen, ‘Frieden in der Ukraine zu vermitteln‘ – hier ist ein chinesischer Botschafter, der argumentiert, dass die Krim russisch ist und die Grenzen unserer Länder keine rechtliche Grundlage haben.”

    Estland, Lettland und Litauen waren im Zweiten Weltkrieg abwechselnd von der Sowjetunion und Deutschland besetzt. Nach Kriegsende wurden die drei kleinen Ostseestaaten im Nordosten Europas gegen ihren Willen jahrzehntelang zu Sowjetrepubliken. Erst 1991 erhielten sie ihre Unabhängigkeit.

    Lu gilt als radikaler Wolfskrieger

    Lu Shaye ist kein unbeschriebenes Blatt, wenn es um skandalträchtige Aussagen geht. Er teilte regelmäßig auf Twitter gegen französische Journalisten, Thinktanks und China-Experten aus. Unter anderem hatte das Presseteam der chinesischen Botschaft den französischen Akademiker Antoine Bondaz als “kleinen Schläger” und “verrückte Hyäne” bezeichnen lassen. Eine folgende Einbestellung durch das französische Außenministerium ignorierte Lu.

    Zu den Weißblatt-Protesten kommentierte er, diese seien von ausländischen Kräften ausgenutzt worden. Im Anschluss des Besuchs von Nancy Pelosi in Taiwan verkündete Lu gleich zweimal, dass die von den USA und ihrer eigenen Regierung fehlgeleiteten Taiwaner nach einer Eroberung erst einmal umerzogen werden müssten.

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    Europäische Firmen scheuen sich noch vor lokaler Innovation

    Mit dieser Pressekonferenz ging eine wichtige Epoche der europäisch-chinesischen Beziehungen zu Ende: Denn es war die letzte von Jörg Wuttke, nach zehn Jahren im Amt als Chef der EU-Handelskammer in China: “Hiermit ist die Show beendet, vielen Dank”, lautete sein letzter Satz zur Vorstellung der Studie “China’s Innovation Ecosystem – The localisation dilemma” am Freitag in Peking.

    Um es gleich vorwegzunehmen: Die Studie hat eine Schwäche. Die 107 beteiligten Unternehmen haben ihre Antworten Ende November gegeben – in den letzten Zügen der Restriktionen der Covid-Pandemie, als es noch nicht abzusehen war, dass sie bald komplett abgeschafft werden. Da beim Thema Innovation jedoch langfristig gedacht werden muss, gibt die Studie dennoch einen wertvollen Einblick in die Innovationsstrategie europäischer Firmen in China.

    Erstellt wurde die Studie von dem Berliner China-Thinktank Merics mit Unterstützung der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Duisburg Essen. Finanziert wurde sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, deren Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zuletzt mit ihrem Besuch in Taiwan für Verärgerung in Peking gesorgt hatte.

    Marktgröße wichtiger als Bedenken zu geistigem Eigentum

    Die wichtigsten positiven Faktoren, die laut der an der Studie teilnehmenden Unternehmen für eine tiefere Lokalisierung der Forschung und Entwicklung (Research & Development, kurz R&D) vor Ort in China sprechen, sind die Größe des chinesischen Marktes, 61 Prozent der befragten Firmen nennen diesen Grund. Auf Platz zwei liegt demnach die große Nachfrage (47 Prozent). 39 Prozent der Befragten nannte zudem die hohe Geschwindigkeit, mit der Ergebnisse aus der Forschung und Entwicklung kommerzialisiert werden. Diese Faktoren hätten ein “extrem dynamisches Umfeld” geschaffen, so die Autoren der Studie.

    Die Nachteile lägen allerdings auch auf der Hand. Als wichtigster Punkt, der gegen eine Lokalisierung der Forschung und Entwicklung spricht, wird der schlechte Schutz für geistiges Eigentum genannt. 34 Prozent der befragten europäischen Unternehmen nannten dies als Grund. Das ungleiche “playing field” für ausländische Unternehmen im Vergleich zu chinesischen sahen 32 Prozent als problematisch. Auch die limitierte oder nicht existente staatliche Unterstützung spricht gegen eine höhere Lokalisierung, wie 24 Prozent der Befragten angaben.

    Was beim Vergleich der Vor- und Nachteile auffällt: Der größte Nachteil, mangelnder Schutz des geistigen Eigentums, wird nur von etwa halb so vielen Firmen erwähnt wie der wichtigste Vorteil, nämlich die Größe des Marktes in China.

    Mehrheit bekommt nicht dieselben Subventionen

    Das wichtigste Ergebnis der Studie zeigt jedoch etwas anderes auf: Die Lokalisierung von R&D in der Volksrepublik steht noch ganz am Anfang. Nur 28 Prozent der befragten Firmen geben mehr als fünf Prozent ihrer Gewinne für Forschung und Entwicklung in China aus. Und 20 Prozent der Unternehmen der Studie zufolge sogar weniger als ein Prozent. 24 Prozent gaben an, gar keine R&D vor Ort zu betreiben.

    Gleichzeitig geben jedoch auch 77 Prozent der Firmen an, dass sie von Steuererleichterungen profitieren, wenn sie in China forschen und entwickeln. Die meisten Nachlässe bei den Steuern kommen den befragten Unternehmen zufolge von lokalen Behörden. Das gaben 30 Prozent an. Bei den Provinzbehörden (elf Prozent) und der Zentralregierung gibt es demnach aber bei weitem weniger Nachlässe.

    40 Prozent der Befragten betonen, dass sie die gleichen Subventionen bekommen wie ihre lokalen Wettbewerber – bei 47 Prozent der befragten Unternehmen ist das nach eigene Angaben jedoch nicht so. Rund neun Prozent dieser Gruppe gaben an, gar keinen Zugang zu den chinesischen Subventionen zu haben.

    Corona-Pandemie als größte Hürde

    Die Autoren der Studie wollten zudem wissen, was die europäischen Firmen bisher daran gehindert hat, mehr Forschung und Entwicklung nach China zu verlagern. 88 Prozent der Befragten erklärten demnach, die Covid-Pandemie habe ihre R&D-Strategie “stark negativ” oder “negativ” beeinflusst. Die Einstellung in der EU zu China hat mehr als jeden zweiten zögern lassen. Der Ukraine-Krieg hat 45 Prozent davon abgehalten, mehr in China zu forschen und zu entwickeln. Andere Faktoren wie der “US Chips Act” (14 Prozent) oder der politische Streit zwischen China und den USA (26 Prozent) spielen demnach keine so große Rolle.

    Die meisten R&D-Partner für europäische Firmen sind mit rund 39 Prozent chinesische Privatunternehmen, gefolgt mit rund 37 Prozent von staatlichen Universitätsforschungszentren. Mit lokalen Staatsunternehmen arbeiten 16 Prozent der EU-Firmen zusammen.  

    Studie empfiehlt Taskforce für geistiges Eigentum

    Die Autoren der Studie fordern eine “kritische Analyse” der eigenen “Technologieposition hinsichtlich der Wettbewerber.” Für manche biete “Chinas R&D Ökosystem mehr Chancen als Risiken”. Diejenigen sollten strikte “interne Sicherheitsprotokolle” führen und strenge Verträge zum geistigen Eigentum abschließen.

    Vor allem kleine und mittlere Betriebe sollten demnach noch vorsichtiger sein. Da sie über weniger Technologien verfügen, sind sie der Studie zufolge größeren Risiken ausgesetzt, wenn die Technologie kopiert wird. Der Schutz des geistigen Eigentums “werde immer wichtiger” und es reiche nicht mehr, “den chinesischen Wettbewerbern eine oder zwei Generationen voraus zu sein.”

    Da man den geopolitischen Risiken nicht entfliehen könne, sei es wichtiger denn je, sich mit der EU-Kammer, aber auch mit der Wissenschaft und Thinktanks auszutauschen, rät die Studie. Zudem sollten die Unternehmen dringend eine Taskforce für geistiges Eigentum gründen.

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    News

    Borrell fordert Militärpräsenz der EU in der Taiwanstraße

    Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich für Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Taiwanstraße ausgesprochen. In einem Gastbeitrag in der französischen Sonntagszeitung Journal du Dimanche schrieb Borrell, Europa müsse beim Thema Taiwan, “das uns wirtschaftlich, kommerziell und technologisch betrifft, sehr präsent sein”.

    Die EU erkenne zwar klar die Ein-China-Politik Pekings an. Diese dürfe aber auf keinen Fall an Bedingungen geknüpft sein oder mit Gewalt durchgesetzt werden, führt der EU-Chefdiplomat weiter aus. “Deshalb fordere ich die europäischen Marinen auf, in der Taiwanstraße zu patrouillieren.” Damit könne Europa sein Engagement für die Freiheit der Schifffahrt in diesem äußerst wichtigen Seegebiet unter Beweis stellen.

    Auch zu Pekings ausbleibender Kritik der russischen Invasion in der Ukraine äußerte sich Borrell in seinem Gastbeitrag. Man habe den Chinesen immer wieder gesagt, dass es nicht in ihrem eigenen Interesse sein könne, Russland zu unterstützen, erklärte Borrell – “zumal Sie mit Ihrer Unterstützung nur die Polarisierung des internationalen Systems verstärken, die Sie angeblich bekämpfen wollen.”

    Chinas Außenminister Qin Gang hatte am Freitag auf einer Veranstaltung bekräftigt, dass beide Seiten der Taiwanstraße zu China gehören. Es sei Chinas Recht, dort seine Souveränität zu wahren. “In letzter Zeit gab es eine absurde Rhetorik, die China beschuldigte, den Status quo zu stören und den Frieden und die Stabilität an der Taiwanstraße zu stören”, so Qin. “Die Logik ist absurd und die Schlussfolgerung gefährlich.” fpe/rtr

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    Peking weist Aussagen von Südkoreas Präsidenten zurück

    China hat Aussagen des südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk-yeol über Taiwan als “falsch” bezeichnet und eigenen Angaben zufolge Beschwerde deswegen eingelegt. Vize-Außenminister Sun Weidong habe dem südkoreanischen Botschafter eine “ernste Stellungnahme” übermittelt, erklärte das Außenministerium in Peking. Yoon hatte die Spannungen zwischen China und Taiwan zuvor in einem Interview als “globale Angelegenheit” bezeichnet

    Yoon hatte darin zudem gesagt, die Spannungen zwischen China und Taiwan seien die Folge von “Versuchen, den Status Quo gewaltsam zu ändern”. Laut dem chinesischen Außenministerium teilte Vize-Außenminister Sun dem südkoreanischen Botschafter bei einem Treffen am Donnerstag mit, die Kommentare seien “völlig inakzeptabel”. Seoul solle sich an die “Ein-China-Politik halten” und bei “Aussagen und Handlungen, die Taiwan betreffen, vorsichtig sein”. rtr/ari

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    Kiel will Neujustierung im Umgang mit China

    Schleswig-Holstein möchte seine China-Politik neu justieren und insgesamt strenger ausrichten. Das berichtete die Nachrichtenagentur DPA. Der Landtag will sich demnach in seiner Mai-Sitzung politisch klarer von der Volksrepublik distanzieren. Das gehe aus einem Antrag der Koalitionsfraktionen CDU und Grüne hervor. Ein Hintergrund für den Vorstoß seien die umstrittenen Übernahme-Pläne der staatlichen chinesischen Reederei Cosco für Teile des Hamburger Hafens.

    Der schwarz-grüne Antrag plädiert für multilaterale Handelsbeziehungen, um einseitige Abhängigkeiten künftig auszuschließen. Von elementarer Bedeutung werde dabei sein, die kritische Infrastruktur vor chinesischem Einfluss zu schützen. “Dies gilt auch für Beteiligungen von unter 25 Prozent, um beispielsweise den Zugriff auf wichtige Informationen zu verhindern”, heißt es in dem Papier. Eine Neuausrichtung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit China müsse dabei auch die Menschenrechte, etwa mit Blick auf die Situation der Uiguren, berücksichtigen.

    Gleichzeitig betonen die Parteien, dass China aller Voraussicht nach ein wichtiger Handelspartner bleiben werde. “Auch die weltweite Herausforderung des Klimawandels wird nur zusammen mit dem größten CO2-Emittenten China zu bewältigen sein und nicht ohne ihn”, heißt es in dem Papier. Seit März führt die Landeshauptstadt Kiel Gespräche über eine Städtepartnerschaft mit der Hafenstadt Qingdao in der ostchinesischen Provinz Shandong. Das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel warnte Mitte April, dass China “eine lange Tradition des Missbrauchs von Städtepartnerschaften” habe. Vor allem auch im militärischen Bereich nutze Peking solche Partnerschaften, um wichtige Informationen abzufischen. fpe

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    Presseschau

    Chinas Botschafter in Frankreich empört Baltenstaaten: Ex-Sowjetstaaten nicht souverän ZDF
    Macron plant Friedensgipfel zum Ukraine-Krieg mit China FR
    Grünen-Außenpolitiker Reinhard Bütikofer: “Europa tickt in der China-Frage überwiegend anders als Macron” IDOWA
    EU-Außenbeauftragter Josep Borrell für Entsendung europäischer Kriegsschiffe nach Taiwan SPIEGEL
    Wegen Spannungen mit China: Taiwan entwickelt neues Kampfboot T-ONLINE
    War of words: Australia can expect a hostile response from China to strategic defence review THEGUARDIAN
    WA Premier Mark McGowan raised cases of detained Australians during China trip ABC
    China lodges complaint over South Korean president’s ‘erroneous’ Taiwan remarks REUTERS
    New York Times: Deutsche Konzerne arbeiten gegen die USA und stützen China BERLINER-ZEITUNG
    Europas Autohersteller in China vor Problemen ORF
    Even Chinese companies are moving supply chains out China to avoid geopolitical risks BUSINESSINSIDER
    Kenia und Chinas Investitionen – Wie raus aus den Schulden? TAGESSCHAU
    Schleswig-Holstein richtet China-Kurs neu aus KN-ONLINE
    UN-Cybercrime-Konvention: EU streitet mit China und Russland über Datenschutz HEISE
    ING sues China’s biggest bank over copper trading losses FT
    Wärmepumpen: Und wieder hängt alles an China ZEIT
    Zwischen den Systemen: Wie Wolfsburg chinesisch wurde FAZ

    Heads

    Marina Rudyak – mehr strategische Empathie

    Marina Rudyak zu Chinas Papier zur Ukraine
    Marina Rudyak: “Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt, und es ernst nehmen.”

    “Wissen ist Macht”, sagt Marina Rudyak. Dass sich das Machtgefüge zwischen China und Europa derzeit so drastisch verschiebt, hat ihr zufolge auch damit zu tun, dass China Europa seit 150 Jahren genau beobachtet. Den meisten Europäern hingegen ist China so fern und fremd wie eh und je. “Wie kann es sein”, fragt Rudyak, “dass wir es uns leisten, so wenig über das Land zu wissen, das Deutschlands größter Handelspartner und strategischer Rivale ist?”

    In einem Artikel fordert die Sinologin der Universität Heidelberg deshalb mehr strategische Empathie und China-Kompetenz. Im Gespräch merkt sie jedoch sofort an: Empathie sei hierbei allerdings nicht mit Sympathie zu verwechseln. Vielmehr gehe es darum zu verstehen, was den anderen antreibt, welche Geschichte, Ideologien und Weltbilder seine Entscheidungen prägen. Nur dann seien informierte und gute Entscheidungen möglich. Das größte und doch einfach zu vermeidende Risiko sei es, zu glauben, dass man schon genug wisse. 

    Xi Jinping lesen und verstehen

    Für Rudyak heißt das: “Wer Chinas Strategien unter Xi Jinping verstehen will, muss lesen, was die Partei sagt, und es ernst nehmen.” Dafür brauche es in Deutschland von fast allem mehr. Mehr Sprachkenntnisse. Mehr Fachkompetenz. Mehr strategisches Übersetzen. Denn, nur ein Bruchteil der frei zugänglichen chinesischen Dokumente, ist übersetzt. Zudem sind offizielle chinesische Übersetzungen meist Propagandadokumente: Darin werden die gleichen Begriffe verwendet, die oft jedoch etwas Anderes meinen.

    Deswegen hat Rudyak mit vier anderen Sinologinnen und Sinologen das “Decoding China Dictionary” begründet. Es erläutert, wie die Kernbegriffe der internationalen Beziehungen – wie Menschenrechte, Demokratie oder Multilateralismus – in Europa und der Kommunistischen Partei Chinas unterschiedlich verstanden werden.

    Zwischen Russland, Deutschland – und China

    Dass Rudyak das Auseinandersetzen mit dem Denken der anderen für so wichtig hält, hat mit ihrer Vita zu tun. Sie ist in Moskau geboren und ist, so sagt sie selbst, ein typisches Kind der Sowjetunion: der Vater ukrainisch-jüdisch, die Mutter aus Taschkent mit belarussischen, georgischen und russischen Wurzeln. 1991, Rudyak ist gerade mal zehn Jahre alt, kommt die Familie nach Heidelberg, wo ihr Vater eine Gastprofessur hat – und bleibt. Später kommt mit China beruflich eine weitere Kultur hinzu.

    Rudyak bleibt dem politischen Diskus in Russland verbunden, weshalb ihr – wie vielen anderen ihrer Generation, die einen sowjetischen Migrationshintergrund haben – schon 2008 ein Überfall Russlands auf die Ukraine als ein wahrscheinliches Szenario erscheint.

    Doch eine Parallele zu China und Taiwan sieht sie nicht. Vielmehr warnt Rudyak davor, China mit Russland gleichzusetzen. “Der Vergleich verleitet leicht dazu, sich gar nicht erst mit China zu beschäftigen.” Die Konsequenzen, China und seine Politik nicht richtig zu verstehen, seien jedoch schon jetzt gravierend.

    Von den USA lernen

    Die promovierte Sinologin arbeitet derzeit als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg und vertritt aktuell die Professur für Gesellschaft und Wirtschaft Chinas an der Universität Göttingen. Sie kritisiert, dass China in der deutschen Schul- und universitären Landschaft trotz seiner Bedeutung nach wie vor ein Randthema ist. Schlimmer noch, je schwieriger das Verhältnis zu China werde, desto weniger wolle man sich in Deutschland damit auseinandersetzen. “Es fehlt der strategische Umgang, wie in den USA. Dort stürzt man sich umso mehr darauf, je mehr China als Rivale wahrgenommen wird.”

    Auch in der Politik könnte man von den USA lernen. In den Vereinigten Staaten ist es üblich, dass Wissenschaftler:innen für einige Jahre in die Politik gehen –  und umgekehrt. Von solchen “Drehtüren” könne Rudyak zufolge auch die deutsche Politik profitieren. Denn – mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes – sei China-Expertise im deutschen Politikbetrieb rar.

    Politik aktiv mitgestalten

    Rudyak selbst arbeitete nach ihrem Magisterabschluss an der Universität Heidelberg zunächst mehrere Jahre als wirtschaftspolitische Beraterin für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Peking in einem Programm zur regionalen wirtschaftlichen Kooperation und Integration. 2014 ging sie zurück nach Heidelberg, um eine Doktorarbeit zur chinesischen Entwicklungshilfepolitik zu schreiben. Ihr Plan: Schnell promovieren und zurück zur GIZ. Rudyak entscheid sich dann aber doch, an der Universität zu bleiben. “So spannend die Arbeit bei der GIZ war, ich hatte keine Zeit zum Lesen. Und ich will erforschen, verstehen und erklären” sagt sie.

    Deswegen macht sie beides: Neben der universitären Forschung und Lehre berät Rudyak deutsche und europäische Politik, Behörden und Nichtregierungsorganisationen, vor allem zu Chinas Entwicklungspolitik. Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges beschäftigt sich Rudyak zudem intensiv mit den China-Russland-Beziehungen. “Wenn man zu den wenigen in Deutschland gehört, die beide Sprachen lesen können, dann ist das eine Verantwortung”, sagt Rudyak. Michael Radunski

    Marina Rudyak ist Panelisti auf der Table.Media-Veranstaltung China-Strategie 2023.

    • Marina Rudyak

    Personalien

    Mattias Lentz ist zum neuen stellvertretenden Leiter der EU-Delegation in China ernannt worden. Lentz ist derzeit schwedischer Botschafter im Iran. Zuvor war er unter anderem Senior Advisor für China im schwedischen Außenministerium und Leiter der Abteilung für Politik, Presse und Information in den EU-Delegationen auf den Philippinen und in China.

    Sujiro Seam wurde zudem als neuer EU-Botschafter beim Staatenbund ASEAN nominiert. Seam ist derzeit EU-Botschafter für die Pazifikregion in Fidschi. Zuvor war er Botschafter Frankreichs auf Fidschi.

    Ändert sich etwas in Ihrer Organisation? Schicken Sie doch einen Hinweis für unsere Personal-Rubrik an heads@table.media!

    Zur Sprache

    Frisbee-Babes

    飞盘媛 – fēipányuán – Frisbee-Babes

    Wenn die Temperaturen steigen, heißt es in chinesischen Metropolen auch in diesem Jahr wieder: Vorsicht vor flach fliegenden Kunststoffscheiben. Gemeint sind ausnahmsweise nicht die Deckel der allgegenwärtigen Waimai-Verpackungen (外卖 wàimài = Außerhauslieferungen), sondern: Frisbee-Scheiben.

    Denn seit 2022 hat die Frisbee in China ordentlich Aufwind und ist unter dem chinesischen Namen 飞盘 fēipán (wörtlich “Flugteller”, 玩飞盘 wán fēipán “Frisbee spielen”) unter jungen Leuten zum hippen Trendsport avanciert. Ob am Wochenende im Park oder in der Mittagspause zwischen den Hochglanzfassaden im Financial District, wer in China derzeit in sein will, geht raus und wirft mit ordentlich Schneid lässig ein paar Runden Scheiben. Beliebt ist die Disk-Disziplin nicht zuletzt deshalb, weil sie auch in gemischten Teams prima funktioniert. Muskelkraft spielt bei der Sportart, die ursprünglich aus den USA stammt, nämlich keine große Rolle.

    Sobald es wärmer wird, kapern Chinas Scheiben-Hipster also die urbanen Fußballfelder der Nation und funktionieren den Kunstrasen zur Kampfarena für Ultimate Frisbee um, der Wettkampfvariante des Sports, auf Chinesisch 极限飞盘 jíxiàn fēipán. Und wo in China Neues sprießt, da sind bekanntlich auch neue Sprachblüten nicht weit. Und so hat der Plastikdisk-Boom mal wieder einen Neologismus-Schneeball ins Rollen gebracht.

    Im Falle des “Flugtellers” hat die Fangemeinde in diesem Kontext den Begriff des “Frisbee-Babes” geprägt, auf Chinesisch 飞盘媛 fēipányuán. Das Zeichen 媛 – gesprochen entweder yuàn (4. Ton) oder umgangssprachlich meist yuán (2. Ton) – bedeutet “schöne Frau”. Es ist daher auch ein beliebter Bestandteil weiblicher Vornamen.

    Ursprünglich verbinden Chinesen mit diesem Hanzi berühmte und kultivierte Schönheiten aus gutem Hause. Nicht so aber im Falle der Frisbee-Feger. Als feipanyuan werden stattdessen spöttisch junge Damen bezeichnet, die das Spielfeld zum Laufsteg umfunktionieren, um in bauchfreiem Top und enger Yoga-Pants fotowirksam ihre Traumfigur in Szene zu setzen (秀身材 xiù shēncái). Die Frisbee taugt dabei vor allem als Requisite, der Sport wird zur Nebensache (wenn er überhaupt praktiziert wird). Stattdessen steht Scheiben-Schaulaufen auf dem Programm, um danach auf WeChat, Xiaohongshu, Douyin und Co. Klicks, Likes und Views abzusahnen – oder noch auf dem Sportplatz die Blicke und Pfiffe der Kicker auf dem Nachbarfeld. Echte Frisbee-Girls können darüber natürlich nur den Kopf schütteln.

    Natürlich geht Püppchenposen nicht nur mit Plastikscheibchen. Und so entlarvt Chinas Netzgemeinde ein ganzes Universum an Beauty-Poserinnen, die die neuesten Trends ohne Talent oder Ehrgeiz nur für die Kamera zelebrieren, statt sich wirklich auf das Erlebnis einzulassen. So frotzelt Chinas Internet nicht nur über Fitness-Babes (健身媛 jiànshēnyuán) und Yoga-Babes (瑜伽媛 yújiāyuán), Badminton-Babes (羽毛媛 yǔmáoyuán) oder  Schießsport-Babes (射击媛 shèjīyuán – wahlweise mit Knarre oder Bogen), Autofan-Babes (车友媛 chēyǒuyuán) und Bergsteiger-Babes (爬山媛 páshānyuán), sondern auch über Teetrinker-Babes (茶媛 cháyuán) und Buddhismus-Babes (佛媛 fóyuán).

    Die Liste der Stichel-Neologismen ließe sich noch beliebig fortsetzen. Auch deshalb, weil in China ein neues Outdoorsportfieber (户外运动 hùwài yùndòng “Outdoorsport”) entbrannt ist. Lange haftete Freiluftaktivitäten das Label der Langweile und ruhelosen Rentnerroutine an. Doch wer bei Freizeit im Freien im Reich der Mitte nur an Gehsteigpoker (打牌 dǎpái) und Straßenschach (下棋 xiàqí), Vogelgassi (遛鸟 liùniǎo) und Mutti-Mahjong (打麻将 dǎ májiàng), Gruppentanzgroove (跳广场舞 tiào guǎngchǎngwǔ) und Freiluft-Fitnessgeräte (户外健身器材 hùwài jiànshēn qìcái) denkt, ist eindeutig von gestern. Chinas Jugend hat Outdoorluft geschnuppert. Neben Frisbee trenden deshalb noch zahlreiche weitere Freiluftsportarten und -beschäftigungen wie Skatboarding (滑板 huábǎn) und Stand-up-Paddling (桨板 jiǎngbǎn), Camping (露营 lùyíng) und Surfing (冲浪 chōnglàng), Baseball (棒球 bàngqiú, wörtlich “Stockball”), Rugby (橄榄球 gǎnlǎnqiú, wörtlich “Olivenball”) und Klettern (攀岩 pānyán).

    Bleibt nur die Frage, wie man eigentlich das männliche Pendant zum Frisbee-Babe nennt, also den Frisbee-Boy? Schließlich gibt es ja auch Herren, die mehr Präsenz als Einsatz zeigen und lieber posen und posten statt Schweißperlen zu schwitzen. Bisher hat sich lexikalisch leider kein männliches Gegenstück zur “Scheibenschnitte” durchgesetzt, obwohl in chinesischen Onlineforen durchaus Vorschläge kursieren, zum Beispiel die飞盘夹 fēipánjiā “Frisbee-Klammer” (eigentlich ein Clip, mit dem man die Sportscheibe an Gürtel oder Tasche befestigen kann). Kreative Ideen sind also willkommen. Ein guter Anlass ja vielleicht auch, prompt den Büro- oder Couchsessel zu räumen und dem Outdoor-Ruf zu folgen. Die besten Ideen kommen ja bekanntlich noch immer bei Bewegung an der frischen Luft.

    Verena Menzel betreibt in Peking die Online-Sprachschule New Chinese.

    China.Table Redaktion

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