natürlich war es kein Versehen. Es wäre ja auch kaum jemand auf die Idee gekommen, dass Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im US-Sender Fox ganz versehentlich die Bezeichnung “Diktator” für Chinas Staatschef Xi Jinping rausgerutscht sei. Letzte Zweifel hat sie am Mittwochabend ausgeräumt: “Ich habe mich da geäußert, wie ich mich geäußert habe. Das ist ein kommunistisches Einparteiensystem“, sagte die Ministerin in der Talkshow von Sandra Maischberger.
Peking hatte schon vorher empört reagiert und die Äußerungen als “absurd”, “unverantwortlich” und eine “schwere Verletzung der politischen Würde Chinas” zurückgewiesen. Die Wogen gingen auch deshalb so hoch, weil der Begriff im Chinesischen eine andere Bedeutung hat als im Deutschen, erläutert Fabian Peltsch. Im Chinesischen gibt es die Begriffe “renmin minzhu zhuanzheng” für die demokratische Diktatur des Volkes und “ducai zhe” für den Diktator, der sich über alle anderen erhebt – ein großer Unterschied. Allerdings: Spätestens seit seiner Aufhebung der Amtszeitbegrenzung wird Xi in kritischen Kreisen in der Volksrepublik ebenfalls als Diktator im zweiten und damit in unserem Sinne bezeichnet. Möglicherweise ein weiterer Grund dafür, so empfindlich zu reagieren.
Derweil wird den Chinaforschern Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer mangelnde Distanz zum chinesischen Parteistaat vorgeworfen. Das ist relevant, weil die beiden emeritierten Professoren seit Jahrzehnten den Ton in der deutschen China-Forschung mitbestimmen.
Viele ihrer Kollegen fragen sich, was die beiden bewegt hat, einen Meinungsbeitrag für die NZZ zur Situation in Xinjiang zu verfassen, der eine “Normalisierung” ausmacht und das baldige Ende der EU-Sanktionen gegen Funktionäre aus Xinjiang empfiehlt. China.Table hat bei den Autoren nachgefragt und eine Antwort erhalten, die es aus Sicht anderer Sinologen nicht besser macht und neue Fragen aufwirft.
Damit Sie auch mitreden können, finden Sie in der heutigen Ausgabe sowohl die Rechtfertgung des Duos, als auch die Reaktionen darauf.
Die Empörung kommt für viele Menschen im Westen überraschend: Weil der US-amerikanische Präsident Joe Biden und nun auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock den chinesischen Staatschef Xi Jinping einen Diktator nannten, wurden prompt die jeweiligen Botschafter der Länder in Peking einbestellt. Die Bezeichnung Xis als Diktator sei “absurd”, “unverantwortlich”, eine “schwere Verletzung der politischen Würde Chinas” und darüber hinaus auch “eine offene politische Provokation”. Das Oxford English Dictionary definiert den Begriff “Diktator” als “absoluten Herrscher eines Staates“. Also was ist Xi, wenn kein Diktator? Und warum reagiert ausgerechnet er darauf plötzlich so dünnhäutig? Schließlich steht bereits in Artikel 1 der chinesischen Verfassung, dass sich die Partei verpflichtet, “die demokratische Diktatur des Volkes zu wahren”.
“Der Begriff Diktator ist im Chinesischen etwas anders gelagert als im Deutschen”, erklärt Daniel Leese, Sinologie-Professor an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geschichte und Politik des
Modernen China. Im Chinesischen gibt es die Begriffe “renmin minzhu zhuanzheng” (人民民主专政) für die demokratische Diktatur des Volkes und “ducai zhe” (独裁者) für den Diktator, der sich über alle anderen erhebt. “Die Begriffe haben also unterschiedliche Ebenen. Ducai zhe ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert negativ besetzt im Sinne eines Tyrannen oder eines Despoten. Das würde in der Regel niemand als Selbstbezeichnung verwenden, während die Diktatur des Proletariats positiv besetzt ist aus KP-Sicht.”
Tatsächlich verbaten sich schon frühere chinesische Staatschefs, von westlichen Beobachtern als Diktatoren bezeichnet zu werden. “Sie denken, ich bin eine Diktatur?”, entgegnete etwa Jiang Zemin dem Journalisten Mike Wallace in gebrochenem Englisch während des berühmt gewordenen “60 Minutes”-Interviews aus dem Jahr 2000. Aus seiner Sicht sei die Bezeichnung “so absurd, als stamme sie aus den Geschichten von Tausendundeine Nacht”, lachte der damals 74-Jährige. Er sei nur ein Mitglied des Politbüros, und ohne die Zustimmung der anderen Mitglieder würde nichts beschlossen, wodurch er unmöglich ein Diktator sein könne.
“Die Frage der Dynamik zwischen Führer und Volk und Partei und Volk wurde in unterschiedlichen Phasen der Kommunistischen Partei unterschiedlich interpretiert”, sagt Leese. Mao hatte die Idee von der Diktatur des Volkes als theoretischen Eckpfeiler im politischen System der Volksrepublik verankert. Im marxistisch-leninistisch-stalinistisch-maoistischen Sinne ist eine Diktatur demokratisch, weil sie die Kommunisten ermächtigt, alles zu tun, was sie für notwendig halten, um dem “Volk” zu dienen – oder besser gesagt, dem Volk, auf das es ankommt: der Arbeiterklasse. Der Große Vorsitzende identifizierte sich dabei jedoch gleichzeitig und auch nur halb-ironisch mit Qin Shi Huang, dem ersten Kaiser, der Jahrhunderte lang in China als Musterbeispiel eines gewalttätigen Despoten galt. “Nach Maos Tod setzte sich der Konsens durch, dass sich keine Person über die anderen in der Partei erheben dürfe, es also keine Ein-Personen-Herrschaft in der Partei geben dürfe”, erklärt Leese den Schrecken, den Mao bei chinesischen Politikern wie Deng Xiaoping hinterlassen hatte.
Womit wir wieder bei Xi Jinping wären. Er hat die Einbettung in ein herrschendes Kollektiv, auf das Jiang Zemin verwies, zunehmend ausgehöhlt. Er hat die Begrenzung der Amtszeit zu seinen Gunsten aufgehoben. Innerhalb des Parteiapparats hat er Rivalen aus dem Weg geräumt. Seine “Xi-Jinping-Gedanken” wurden zum ideologischen Pflichtprogramm, und auch sonst fördert Xi einen Personenkult, den sich seine Vorgänger niemals getraut hätten. “Es gibt immer weniger Mitbestimmung des chinesischen Volkes, aber auch innerhalb der Partei, wie die Fälle um den verschwundenen chinesischen Außenminister und den Verteidigungsminister zeigen”, sagt Angela Stanzel, Forscherin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). “Das sind alles Anzeichen einer Diktatur. Deshalb hat die Bezeichnung auch ihre Berechtigung.”
Die Empörung darüber, Diktator genannt zu werden, hat auch damit zu tun, dass Xi kontrollieren möchte, welche Narrative über ihn auf der Weltbühne bestimmend sind – und das selbstbewusster denn je. Dass man sich in China nicht von außen über die eigenen Verhältnisse belehren lassen will, zieht sich als roter Faden durch seine gesamte bisherige Amtszeit. Xi Jinping will die Deutungshoheit behalten und dabei gleich auch Begriffe, etwa den der Demokratie, umwerten.
Ob sich die deutsche Außenministerin all dieser Dinge bewusst war, als sie bei Fox-News erklärte, Xi sei ebenso wie Putin ein Diktator? Sicher ist, dass sie damit in verschiedene Richtungen ganz bewusst ein Signal senden wollte. “Man kann natürlich kritisieren, dass die deutsche Außenministerin so etwas in einem öffentlichen Rahmen sagt und chinesische Empfindlichkeiten verletzt”, sagt Angela Stanzel. “Ich glaube aber, dass Baerbock vor allem ein Signal an die USA und die Verbündeten gesandt hat und nicht unbedingt an China, nämlich, dass wir die Bewertung von Xi als Führer eines autoritär auftretenden Staates teilen.”
“Der Elefant im Raum ist, dass es fast keinen Autokraten gibt, der sich selbst als Diktator bezeichnet”, erklärt Leese. In kritischen chinesischen Kreisen werde Xi Jinping jedoch spätestens seit seiner Aufhebung der Amtszeitbegrenzung durchaus auch als Ducai zhe bezeichnet, also als Diktator in unserem Sinne. “Ich denke, auch daher rührt ein Teil der derzeitigen Dünnhäutigkeit.”
Die vehemente Kritik an den Sinologen Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer lässt auch nach deren Rechtfertigung eines kontroversen Meinungsbeitrags zu ihrer Reise nach Xinjiang nicht nach. Das Duo zählt zu den Urvätern der deutschen Sinologie, die seit vielen Jahrzehnten den China-Diskurs in Deutschland mitprägen. Mit ihrem Text in der Dienstagsausgabe von China.Table wollten sie ihren Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) über die aktuelle Situation in Xinjiang aus der Vorwoche erklären.
Doch andere renommierte Sinologen geben den Zunftgrößen keine Ruhe. Die beiden emeritierten Professoren verstricken sich deren Einschätzung nach in zahlreiche Widersprüche. Beispielsweise hatten Heberer und Schmidt-Glintzer betont, dass ihr zentrales Erkenntnisinteresse für eine Reise nach Xinjiang nicht darin bestanden habe, “die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen”.
Allerdings hatten sie ihre Schlussfolgerung und Empfehlung, die EU-Sanktionen gegen chinesische Funktionäre aufzuheben, gerade darauf gestützt, dass die Menschenrechtslage jetzt besser sei. “Die Autoren räumen also ein, keinerlei neue Erkenntnisse über die Menschenrechtssituation gesammelt zu haben. Damit führen sie ihre Schlussfolgerung im NZZ-Artikel ad absurdum“, so der Xinjiang-Forscher Björn Alpermann.
Der Sinologe Sascha Klotzbücher vom Ostasiatischen Institut an der Universität Bratislava wirft den Autoren vor, einen “offensichtlichen Lobbying-Versuch in der NZZ” in ihrem Standpunkt “klammheimlich auf eine Forderung nach mehr Verständigung” zurechtstutzen zu wollen. Klotzbücher staunt zudem, dass Heberer und Schmidt-Glintzer erklärten, sie seien anfangs von der Auflösung zahlreicher Internierungslager für Uiguren überrascht gewesen.
Dabei hatten sie in ihrem NZZ-Beitrag explizit auf Adrian Zenz und dessen Forschung verwiesen, der längst zu ebenjenen Erkenntnissen gekommen war. “Wenn sie Zenz wirklich gelesen hätten, dann hätten sie nicht überrascht sein müssen”, sagt Klotzbücher, der dem Duo “bestätigendes Namedropping” vorwirft. Und auch Alpermann schlussfolgert: “Diese Überraschung kann man nur durch Unkenntnis der Berichterstattung aus Xinjiang erklären.”
Heberer und Schmidt-Glintzer hatten einige Aussagen in ihrem Ursprungsartikel damit gerechtfertigt, dass sie redaktionellen Zwängen seitens der NZZ ausgesetzt waren und ihre Argumente aus Platzmangel nicht unterfüttern konnten. Die Sinologin Marina Rudyak von der Universität Göttingen hat dafür wenig Verständnis. “Schließlich verwundert es mich doch, dass die Autoren die Verantwortung für die Kritik an ihrem Artikel der NZZ-Redaktion zuschieben. Mag sein, dass diese eine Zuspitzung wollte. Aber die beiden sind doch keine Anfänger, sondern gestandene Forscher. Dann zieht man eben zurück”, schreibt sie auf Linkedin.
Manche der China-Forschenden vermuten, dass Heberer und Schmidt-Glintzer nicht mit solch vehementer Kritik auf ihren NZZ-Beitrag gerechnet hatten. Nach eigenen Angaben gegenüber China.Table wollten sich die beiden emeritierten Professoren lediglich “auf die Suche nach Veränderungen in der Xinjiang-Politik zwischen den Jahren 2017 bis 2022 machen”. “Offenbar wird selbst diese eigentlich sinnvolle und notwendige Frage von einigen sofort emotionalisiert und stigmatisiert”, schrieb Heberer in der vergangenen Woche in einer E-Mail.
Dass die Frage sinnvoll ist, bezweifelt niemand der Kritiker. Die Emotionalität rührt vielmehr daher, dass sich alle Lager einig sind, dass Heberer und Schmidt-Glintzer der Disziplin einen Bärendienst erwiesen haben. “Die deutsche Sinologie versucht gerade zu erklären, dass sie sich nicht dadurch auszeichnet, dass sie der Kommunistischen Partei Chinas nachredet. Und dann dieser Artikel”, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla, Sinologin an der FU Berlin. Es sei “absolut widersprüchlich”, was die Autoren über Xinjiang geschrieben hatten, die “nun gleichzeitig sagen, dass sie keine verlässlichen Daten” zur Verfügung hatten.
Der Inhalt ihres Standpunktes, so vermutet Habich-Sobiegalla, sei möglicherweise aus dem großen Druck entstanden, der auf Heberer und Schmidt-Glintzer seit der vergangenen Woche laste. Das Duo will sich vorerst nicht weiter äußern, sondern verweist auf künftige Publikationen.
Der Kolumnist Alex Lo, der sich bei der South China Morning Post aus Hongkong um die Gegenrede kümmert, wenn Chinas Regierung außerhalb der Volksrepublik in die Kritik gerät, nutzte den Ausgangsbeitrag in der NZZ als Steilvorlage, um in einem Beitrag die Verwendung des “Genozid”-Begriffs im Zusammenhang mit Xinjiang zu diskreditieren. Der Begriff wird im Westen regelmäßig im Zusammenhang mit der Minderheiten-Politik in Xinjiang genutzt. Beispielsweise spricht die US-Regierung von einem Genozid an den Uiguren. Deutsche Forschende sagen eher “kultureller Genozid”.
Die Einschätzungen von Heberer und Schmidt-Glintzer erzeugen also genau jenen Eindruck, dem deutsche China-Forschende entgegenwirken wollen: dass sie der KP nachreden.Sowohl ihr Plädoyer für die Rücknahme der Sanktionen, als auch für die Intensivierung des Austauschs im gestrigen China.Table könnte diesen Eindruck jedoch erzeugen. “Auch deshalb., weil die beiden Autoren “Eine solide wissenschaftliche Grundlage, aus der man diese Forderungen ableiten könnte, haben sie allerdings nicht geliefert”, sagt Christian Göbel, ehemaliger Doktorand von Heberer und heute Lehrstuhlinhaber am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien.
Die Sinologin Anna Lisa Ahlers vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin hätte sich ohnehin gewünscht, dass Heberer und Schmidt-Glintzer mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten hätten. “Ich würde erwarten, dass sie die Eindrücke und Daten, die sie auf ihrer Reise gesammelt haben, in einem wissenschaftlichen Format veröffentlichen und von der Fachwelt diskutieren lassen, bevor ein Meinungsbeitrag zu diesem wichtigen Thema erscheint“, so Ahlers.
Ende der Woche beginnt vor dem Volksgerichtshof in Guangzhou der Prozess gegen die feministische Journalistin Sophia Huang Xueqin. Huang wurde vor zwei Jahren wegen “Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht” inhaftiert. Wie ihr Anwalt berichtet, soll der Prozess Freitag um 9:30 Uhr stattfinden. Mit ihr vor Gericht steht der Gewerkschaftsaktivist Wang Jianbing, der damals zur gleichen Zeit verhaftet wurde.
Huang unterstützte mit ihrer Berichterstattung die #MeToo-Bewegung in China. Sie hatte unter anderem Fälle von sexueller Belästigung in der Journalismus-Branche und an chinesischen Universitäten aufgedeckt. Die heute 34-Jährige nahm im Sommer 2019 außerdem in Hongkong an einer Demonstration gegen das geplante Auslieferungsgesetz teil. Nach ihrer Rückkehr nach Festlandchina wurden ihre Reisedokumente beschlagnahmt, was sie daran hinderte, im Herbst 2019 ein Jurastudium in Hongkong aufzunehmen.
Huang befindet sich derzeit im Guangzhou No. 1 Detention Center. Eine enge Freundin von ihr erklärte gegenüber Radio Free Asia, dass Wang in der Haft Schlafentzug und Unterernährung ausgesetzt worden sei. “Sie hat in kurzer Zeit an Gewicht verloren und seit mehr als fünf Monaten keine Menstruation mehr gehabt”, berichtete die Freundin. In den vergangenen zwei Jahren soll Huang zudem unter Kalziummangel, niedrigem Blutdruck und Blutzucker gelitten haben. Organisationen wie “Reporter ohne Grenzen” fordern seit längerem die Freilassung der Journalistin. fpe
Chinesische Spione sollen versucht haben, britische Beamte in wichtigen Positionen in Politik, Verteidigung und Wirtschaft anzuwerben, um sich so Zugang zu Staatsgeheimnissen zu verschaffen. Das erklärte die britische Regierung als Reaktion auf einen parlamentarischen Bericht, der im Juli veröffentlicht wurde.
Das “Intelligence and Security Committee” – der Ausschuss für Nachrichtendienste und Sicherheit – hatte in seinem Bericht erklärt, dass Peking erfolgreich in jeden Sektor der britischen Wirtschaft eingedrungen sei. Die Minister seien zu langsam gewesen, um dieser Bedrohung zu begegnen. China sei an einem “gesamtstaatlichen” Angriff auf Großbritannien beteiligt, der Ansatz der Regierung sei “völlig unzureichend” und werde von kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen dominiert, so das Fazit des Ausschusses nach seiner vierjährigen Untersuchung. Premier Rishi Sunak teilte dem Parlament mit, dass er den Bericht akzeptiere und anerkenne, dass sich die Regierung in diesem Bereich verbessern müsse.
Erst am Wochenende hatte die Verhaftung eines parlamentarischen Wissenschaftlers für Aufsehen gesorgt. Er wird verdächtigt, für China spioniert zu haben. Der junge Wissenschaftler bestreitet, ein Spion zu sein, seine Verhaftungen hat jedoch zu Forderungen britischer Abgeordneter nach einer härteren Gangart geführt. Das chinesische Außenministerium bezeichnete die Spionagevorwürfe als “völlig unbegründet”.
Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 führt derzeit nach eigener Aussage siebenmal so viele Ermittlungen zu chinesischen Aktivitäten durch wie im Jahr 2018. Die Regierung hat zudem eine Einheit eingerichtet, die Wahlen vor ausländischer Einmischung schützen soll. Im vergangenen Jahr hatte der MI5 Parlamentsmitglieder gewarnt, dass ein mutmaßlicher chinesischer Spion “in politische Einmischungsaktivitäten” in Großbritannien verwickelt sei.
Laut einem Zeitungsbericht dieser Woche warnte MI5 die Regierungspartei zudem, dass zwei potenzielle Kandidaten in Gesetzgebungsfunktionen chinesische Spione seien. Die Regierung erklärte, sie überprüfe Beamte regelmäßig und habe eine Software eingerichtet, die etwa dabei helfen soll, gefälschte Profile in sozialen Medien zu erkennen. rtr
Eine selbstfinanzierte wissenschaftliche Sondierungsreise führte vier deutsche Chinawissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen und mit jahrzehntelanger China-Erfahrung sowie einen Völkerrechtler im Mai 2023 auf Einladung der Xinjianger Akademie der Sozialwissenschaften in die Regionen Kashgar (mehr als 90 Prozent uigurisch besiedelt) und Urumqi. Das zentrale Erkenntnisinteresse bestand n i c h t darin, die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen. Das wäre unabhängig kaum möglich gewesen.
Vielmehr wollten wir erkunden, ob sich nach der Einsetzung einer neuen Führungsriege in Xinjiang Ende 2021 hinsichtlich der regionalen Politik mittlerweile etwas verändert hat und – sollte das der Fall sein – in welche Richtung diese Änderungen gehen. Dabei wurden die inhaltlichen Schwerpunkte von der Gruppe wie folgt gesetzt: (1) lokale und regionale Entwicklungspolitik und Entwicklungsinstrumente; (2) Beschäftigungs- und Sozialpolitik (inkl. Beschäftigungsmaßnahmen/Arbeitsvergütung/Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen); (3) staatliche Institutionenbildung/Rechtssystem; (4) Bildung, Kultur, Religion und Sprache.
In diesem Kontext wurden sowohl entsprechende Einrichtungen auf Vorschlag der Gruppe besucht und dort Diskussionen geführt, als auch Gespräche mit Vertreterinnen von Dörfern, Gemeinden und Kreisen, um das Gesehene vertiefen und einordnen zu können. In Urumqi wurden Gespräche mit WissenschaftlerInnen, Vertretern von Rechtsinstitutionen etc. geführt. Vorab fanden in Peking informelle, vertrauliche Gespräche mit WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen statt, darunter langjährigen Xinjiang-ForscherInnen.
Wichtig ist zunächst, dass Xinjiang keineswegs eine abgeschlossene Region (mehr) ist, sondern offen und problemlos besucht werden kann. Der Vorschlag zu dieser Reise kam von der Gruppe, die auch Orte, Einrichtungen und Gesprächspartner vorschlug. Da die Intention eine wissenschaftliche war, sollte eine wissenschaftliche Einrichtung als Partnerorganisation fungieren. Dies war die Akademie der Gesellschaftswissenschaften von Xinjiang. Dabei waren wir uns durchaus bewusst, dass es sich um eine staatliche Einrichtung handelt und die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung generell beschränkt waren.
Da die Reisedauer von beiden Seiten begrenzt war, schlugen wir den Bezirk Kashgar im Süden vor (eine der Kernregionen der uigurischen Bevölkerung) sowie die Hauptstadt Urumqi, wo wir vor allem mit
Rechtsinstitutionen und Wissenschaftlern über Fragen sprechen wollten, die bereits die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen aufgeworfen hatte. Zudem stellten wir Fragen nach dem
Verbleib der beiden international renommierten und auch in Deutschland bekannten uigurischen Wissenschaftlern Prof. Tashpolat Tiyip ( 塔 西 甫 拉 提 ・ 特 依 拜 ), Geograf und früherer
Präsident der Xinjiang Universität sowie Prof. Rahile Dawut (热依 拉·达吾提), weltweit führende Ethnologin im Bereich uigurischer Kultur.
Unser Vorschlag beinhaltete ferner: Reise wird von den Teilnehmern selbst finanziert; keine Beschränkungen der von uns vorgeschlagenen Einrichtungen, der von uns aufgeworfenen Fragen, der vorgeschlagenen Orte und Gesprächspartner. Zugleich waren wir uns aber der Tatsache bewusst, dass diese Reise zeitlich, örtlich und institutionell Beschränkungen unterliegen würde und dass wir daher letztlich nur einen Ausschnitt sehen würden.
Zunächst gingen wir davon aus, dass uns möglicherweise eine Situation erwarten würde, wie sie bis 2021 existierte: allgegenwärtige Kontrollen, überall Armee- und Polizeiposten, eine bedrückende Stimmung. Wir waren völlig überrascht, dass das alles nicht mehr existierte und offenbar “Normalität” zu herrschen schien.
Auch waren die Gesprächspartner relativ offen. Zur Vorbereitung wurden in Peking Gespräche mit verschiedenen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Xinjiang-Forschern geführt, selbst organisiert und auf informeller Basis. Diesen Gesprächspartnern wurde Vertraulichkeit zugesichert.
Der Beitrag in der NZZ, der zunächst 18.000 Zeichen umfasste, musste auf Wunsch des zuständigen Redakteurs zunächst auf 9.000 Zeichen gekürzt werden. Der Chefredakteur wollte dann letztlich nur 5.000 akzeptieren, möglichst “härtere Thesen”, sodass wir die Unterfütterung unserer Argumente weitgehend aufgeben mussten.
Erst nach längerer Diskussion haben wir uns dann entschlossen, auch den kurzen Beitrag zu veröffentlichen, um eine Diskussion anzustoßen. In den kommenden Monaten werden die Beteiligten ihre Erkenntnisse in ausführlichen Artikeln zu Papier bringen und gemeinsam veröffentlichen. Wir bitten daher alle Fragesteller um entsprechende Geduld. Auch werden wir bis dahin erst einmal nicht auf weitere Fragen eingehen und bitten dafür um Verständnis.
Dass es Veränderungen in Xinjiang mit der von uns festgestellten Tendenz gibt, haben unabhängig von uns andere Besucher der Region festgestellt. Uns ist natürlich bewusst, dass der gesamte Xinjiang-Diskurs in den westlichen Medien nicht von der allgemeinen Politik gegenüber China zu lösen ist, die insbesondere in den Vereinigten Staaten intensiv und kontrovers erörtert wird. Unser Beitrag ist daher auch in diesem weiteren Kontext zu verstehen, obwohl wir selbst uns ganz bewusst auf die oben dargestellten und sich auf die Verhältnisse in Xinjiang selbst beziehenden Fragen bezogen haben und uns darauf auch in unserer
geplanten Publikation konzentrieren werden.
Wie bereits am Ende des NZZ-Beitrages angedeutet, empfehlen wir die Intensivierung des Austauschs mit Xinjiang sowie weitere intensive Beschäftigung mit dieser Region wie mit China insgesamt.
Thomas Heberer hat die Seniorprofessur für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg. Bis 2013 hatte er dort den Lehrstuhl für Politik Ostasiens. Helwig Schmidt-Glintzer ist Direktor des China Centrums an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist dort auch Seniorprofessor. Beide Forscher sind Autoren zahlreicher Bücher.
natürlich war es kein Versehen. Es wäre ja auch kaum jemand auf die Idee gekommen, dass Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im US-Sender Fox ganz versehentlich die Bezeichnung “Diktator” für Chinas Staatschef Xi Jinping rausgerutscht sei. Letzte Zweifel hat sie am Mittwochabend ausgeräumt: “Ich habe mich da geäußert, wie ich mich geäußert habe. Das ist ein kommunistisches Einparteiensystem“, sagte die Ministerin in der Talkshow von Sandra Maischberger.
Peking hatte schon vorher empört reagiert und die Äußerungen als “absurd”, “unverantwortlich” und eine “schwere Verletzung der politischen Würde Chinas” zurückgewiesen. Die Wogen gingen auch deshalb so hoch, weil der Begriff im Chinesischen eine andere Bedeutung hat als im Deutschen, erläutert Fabian Peltsch. Im Chinesischen gibt es die Begriffe “renmin minzhu zhuanzheng” für die demokratische Diktatur des Volkes und “ducai zhe” für den Diktator, der sich über alle anderen erhebt – ein großer Unterschied. Allerdings: Spätestens seit seiner Aufhebung der Amtszeitbegrenzung wird Xi in kritischen Kreisen in der Volksrepublik ebenfalls als Diktator im zweiten und damit in unserem Sinne bezeichnet. Möglicherweise ein weiterer Grund dafür, so empfindlich zu reagieren.
Derweil wird den Chinaforschern Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer mangelnde Distanz zum chinesischen Parteistaat vorgeworfen. Das ist relevant, weil die beiden emeritierten Professoren seit Jahrzehnten den Ton in der deutschen China-Forschung mitbestimmen.
Viele ihrer Kollegen fragen sich, was die beiden bewegt hat, einen Meinungsbeitrag für die NZZ zur Situation in Xinjiang zu verfassen, der eine “Normalisierung” ausmacht und das baldige Ende der EU-Sanktionen gegen Funktionäre aus Xinjiang empfiehlt. China.Table hat bei den Autoren nachgefragt und eine Antwort erhalten, die es aus Sicht anderer Sinologen nicht besser macht und neue Fragen aufwirft.
Damit Sie auch mitreden können, finden Sie in der heutigen Ausgabe sowohl die Rechtfertgung des Duos, als auch die Reaktionen darauf.
Die Empörung kommt für viele Menschen im Westen überraschend: Weil der US-amerikanische Präsident Joe Biden und nun auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock den chinesischen Staatschef Xi Jinping einen Diktator nannten, wurden prompt die jeweiligen Botschafter der Länder in Peking einbestellt. Die Bezeichnung Xis als Diktator sei “absurd”, “unverantwortlich”, eine “schwere Verletzung der politischen Würde Chinas” und darüber hinaus auch “eine offene politische Provokation”. Das Oxford English Dictionary definiert den Begriff “Diktator” als “absoluten Herrscher eines Staates“. Also was ist Xi, wenn kein Diktator? Und warum reagiert ausgerechnet er darauf plötzlich so dünnhäutig? Schließlich steht bereits in Artikel 1 der chinesischen Verfassung, dass sich die Partei verpflichtet, “die demokratische Diktatur des Volkes zu wahren”.
“Der Begriff Diktator ist im Chinesischen etwas anders gelagert als im Deutschen”, erklärt Daniel Leese, Sinologie-Professor an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geschichte und Politik des
Modernen China. Im Chinesischen gibt es die Begriffe “renmin minzhu zhuanzheng” (人民民主专政) für die demokratische Diktatur des Volkes und “ducai zhe” (独裁者) für den Diktator, der sich über alle anderen erhebt. “Die Begriffe haben also unterschiedliche Ebenen. Ducai zhe ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert negativ besetzt im Sinne eines Tyrannen oder eines Despoten. Das würde in der Regel niemand als Selbstbezeichnung verwenden, während die Diktatur des Proletariats positiv besetzt ist aus KP-Sicht.”
Tatsächlich verbaten sich schon frühere chinesische Staatschefs, von westlichen Beobachtern als Diktatoren bezeichnet zu werden. “Sie denken, ich bin eine Diktatur?”, entgegnete etwa Jiang Zemin dem Journalisten Mike Wallace in gebrochenem Englisch während des berühmt gewordenen “60 Minutes”-Interviews aus dem Jahr 2000. Aus seiner Sicht sei die Bezeichnung “so absurd, als stamme sie aus den Geschichten von Tausendundeine Nacht”, lachte der damals 74-Jährige. Er sei nur ein Mitglied des Politbüros, und ohne die Zustimmung der anderen Mitglieder würde nichts beschlossen, wodurch er unmöglich ein Diktator sein könne.
“Die Frage der Dynamik zwischen Führer und Volk und Partei und Volk wurde in unterschiedlichen Phasen der Kommunistischen Partei unterschiedlich interpretiert”, sagt Leese. Mao hatte die Idee von der Diktatur des Volkes als theoretischen Eckpfeiler im politischen System der Volksrepublik verankert. Im marxistisch-leninistisch-stalinistisch-maoistischen Sinne ist eine Diktatur demokratisch, weil sie die Kommunisten ermächtigt, alles zu tun, was sie für notwendig halten, um dem “Volk” zu dienen – oder besser gesagt, dem Volk, auf das es ankommt: der Arbeiterklasse. Der Große Vorsitzende identifizierte sich dabei jedoch gleichzeitig und auch nur halb-ironisch mit Qin Shi Huang, dem ersten Kaiser, der Jahrhunderte lang in China als Musterbeispiel eines gewalttätigen Despoten galt. “Nach Maos Tod setzte sich der Konsens durch, dass sich keine Person über die anderen in der Partei erheben dürfe, es also keine Ein-Personen-Herrschaft in der Partei geben dürfe”, erklärt Leese den Schrecken, den Mao bei chinesischen Politikern wie Deng Xiaoping hinterlassen hatte.
Womit wir wieder bei Xi Jinping wären. Er hat die Einbettung in ein herrschendes Kollektiv, auf das Jiang Zemin verwies, zunehmend ausgehöhlt. Er hat die Begrenzung der Amtszeit zu seinen Gunsten aufgehoben. Innerhalb des Parteiapparats hat er Rivalen aus dem Weg geräumt. Seine “Xi-Jinping-Gedanken” wurden zum ideologischen Pflichtprogramm, und auch sonst fördert Xi einen Personenkult, den sich seine Vorgänger niemals getraut hätten. “Es gibt immer weniger Mitbestimmung des chinesischen Volkes, aber auch innerhalb der Partei, wie die Fälle um den verschwundenen chinesischen Außenminister und den Verteidigungsminister zeigen”, sagt Angela Stanzel, Forscherin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). “Das sind alles Anzeichen einer Diktatur. Deshalb hat die Bezeichnung auch ihre Berechtigung.”
Die Empörung darüber, Diktator genannt zu werden, hat auch damit zu tun, dass Xi kontrollieren möchte, welche Narrative über ihn auf der Weltbühne bestimmend sind – und das selbstbewusster denn je. Dass man sich in China nicht von außen über die eigenen Verhältnisse belehren lassen will, zieht sich als roter Faden durch seine gesamte bisherige Amtszeit. Xi Jinping will die Deutungshoheit behalten und dabei gleich auch Begriffe, etwa den der Demokratie, umwerten.
Ob sich die deutsche Außenministerin all dieser Dinge bewusst war, als sie bei Fox-News erklärte, Xi sei ebenso wie Putin ein Diktator? Sicher ist, dass sie damit in verschiedene Richtungen ganz bewusst ein Signal senden wollte. “Man kann natürlich kritisieren, dass die deutsche Außenministerin so etwas in einem öffentlichen Rahmen sagt und chinesische Empfindlichkeiten verletzt”, sagt Angela Stanzel. “Ich glaube aber, dass Baerbock vor allem ein Signal an die USA und die Verbündeten gesandt hat und nicht unbedingt an China, nämlich, dass wir die Bewertung von Xi als Führer eines autoritär auftretenden Staates teilen.”
“Der Elefant im Raum ist, dass es fast keinen Autokraten gibt, der sich selbst als Diktator bezeichnet”, erklärt Leese. In kritischen chinesischen Kreisen werde Xi Jinping jedoch spätestens seit seiner Aufhebung der Amtszeitbegrenzung durchaus auch als Ducai zhe bezeichnet, also als Diktator in unserem Sinne. “Ich denke, auch daher rührt ein Teil der derzeitigen Dünnhäutigkeit.”
Die vehemente Kritik an den Sinologen Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer lässt auch nach deren Rechtfertigung eines kontroversen Meinungsbeitrags zu ihrer Reise nach Xinjiang nicht nach. Das Duo zählt zu den Urvätern der deutschen Sinologie, die seit vielen Jahrzehnten den China-Diskurs in Deutschland mitprägen. Mit ihrem Text in der Dienstagsausgabe von China.Table wollten sie ihren Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) über die aktuelle Situation in Xinjiang aus der Vorwoche erklären.
Doch andere renommierte Sinologen geben den Zunftgrößen keine Ruhe. Die beiden emeritierten Professoren verstricken sich deren Einschätzung nach in zahlreiche Widersprüche. Beispielsweise hatten Heberer und Schmidt-Glintzer betont, dass ihr zentrales Erkenntnisinteresse für eine Reise nach Xinjiang nicht darin bestanden habe, “die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen”.
Allerdings hatten sie ihre Schlussfolgerung und Empfehlung, die EU-Sanktionen gegen chinesische Funktionäre aufzuheben, gerade darauf gestützt, dass die Menschenrechtslage jetzt besser sei. “Die Autoren räumen also ein, keinerlei neue Erkenntnisse über die Menschenrechtssituation gesammelt zu haben. Damit führen sie ihre Schlussfolgerung im NZZ-Artikel ad absurdum“, so der Xinjiang-Forscher Björn Alpermann.
Der Sinologe Sascha Klotzbücher vom Ostasiatischen Institut an der Universität Bratislava wirft den Autoren vor, einen “offensichtlichen Lobbying-Versuch in der NZZ” in ihrem Standpunkt “klammheimlich auf eine Forderung nach mehr Verständigung” zurechtstutzen zu wollen. Klotzbücher staunt zudem, dass Heberer und Schmidt-Glintzer erklärten, sie seien anfangs von der Auflösung zahlreicher Internierungslager für Uiguren überrascht gewesen.
Dabei hatten sie in ihrem NZZ-Beitrag explizit auf Adrian Zenz und dessen Forschung verwiesen, der längst zu ebenjenen Erkenntnissen gekommen war. “Wenn sie Zenz wirklich gelesen hätten, dann hätten sie nicht überrascht sein müssen”, sagt Klotzbücher, der dem Duo “bestätigendes Namedropping” vorwirft. Und auch Alpermann schlussfolgert: “Diese Überraschung kann man nur durch Unkenntnis der Berichterstattung aus Xinjiang erklären.”
Heberer und Schmidt-Glintzer hatten einige Aussagen in ihrem Ursprungsartikel damit gerechtfertigt, dass sie redaktionellen Zwängen seitens der NZZ ausgesetzt waren und ihre Argumente aus Platzmangel nicht unterfüttern konnten. Die Sinologin Marina Rudyak von der Universität Göttingen hat dafür wenig Verständnis. “Schließlich verwundert es mich doch, dass die Autoren die Verantwortung für die Kritik an ihrem Artikel der NZZ-Redaktion zuschieben. Mag sein, dass diese eine Zuspitzung wollte. Aber die beiden sind doch keine Anfänger, sondern gestandene Forscher. Dann zieht man eben zurück”, schreibt sie auf Linkedin.
Manche der China-Forschenden vermuten, dass Heberer und Schmidt-Glintzer nicht mit solch vehementer Kritik auf ihren NZZ-Beitrag gerechnet hatten. Nach eigenen Angaben gegenüber China.Table wollten sich die beiden emeritierten Professoren lediglich “auf die Suche nach Veränderungen in der Xinjiang-Politik zwischen den Jahren 2017 bis 2022 machen”. “Offenbar wird selbst diese eigentlich sinnvolle und notwendige Frage von einigen sofort emotionalisiert und stigmatisiert”, schrieb Heberer in der vergangenen Woche in einer E-Mail.
Dass die Frage sinnvoll ist, bezweifelt niemand der Kritiker. Die Emotionalität rührt vielmehr daher, dass sich alle Lager einig sind, dass Heberer und Schmidt-Glintzer der Disziplin einen Bärendienst erwiesen haben. “Die deutsche Sinologie versucht gerade zu erklären, dass sie sich nicht dadurch auszeichnet, dass sie der Kommunistischen Partei Chinas nachredet. Und dann dieser Artikel”, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla, Sinologin an der FU Berlin. Es sei “absolut widersprüchlich”, was die Autoren über Xinjiang geschrieben hatten, die “nun gleichzeitig sagen, dass sie keine verlässlichen Daten” zur Verfügung hatten.
Der Inhalt ihres Standpunktes, so vermutet Habich-Sobiegalla, sei möglicherweise aus dem großen Druck entstanden, der auf Heberer und Schmidt-Glintzer seit der vergangenen Woche laste. Das Duo will sich vorerst nicht weiter äußern, sondern verweist auf künftige Publikationen.
Der Kolumnist Alex Lo, der sich bei der South China Morning Post aus Hongkong um die Gegenrede kümmert, wenn Chinas Regierung außerhalb der Volksrepublik in die Kritik gerät, nutzte den Ausgangsbeitrag in der NZZ als Steilvorlage, um in einem Beitrag die Verwendung des “Genozid”-Begriffs im Zusammenhang mit Xinjiang zu diskreditieren. Der Begriff wird im Westen regelmäßig im Zusammenhang mit der Minderheiten-Politik in Xinjiang genutzt. Beispielsweise spricht die US-Regierung von einem Genozid an den Uiguren. Deutsche Forschende sagen eher “kultureller Genozid”.
Die Einschätzungen von Heberer und Schmidt-Glintzer erzeugen also genau jenen Eindruck, dem deutsche China-Forschende entgegenwirken wollen: dass sie der KP nachreden.Sowohl ihr Plädoyer für die Rücknahme der Sanktionen, als auch für die Intensivierung des Austauschs im gestrigen China.Table könnte diesen Eindruck jedoch erzeugen. “Auch deshalb., weil die beiden Autoren “Eine solide wissenschaftliche Grundlage, aus der man diese Forderungen ableiten könnte, haben sie allerdings nicht geliefert”, sagt Christian Göbel, ehemaliger Doktorand von Heberer und heute Lehrstuhlinhaber am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien.
Die Sinologin Anna Lisa Ahlers vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin hätte sich ohnehin gewünscht, dass Heberer und Schmidt-Glintzer mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten hätten. “Ich würde erwarten, dass sie die Eindrücke und Daten, die sie auf ihrer Reise gesammelt haben, in einem wissenschaftlichen Format veröffentlichen und von der Fachwelt diskutieren lassen, bevor ein Meinungsbeitrag zu diesem wichtigen Thema erscheint“, so Ahlers.
Ende der Woche beginnt vor dem Volksgerichtshof in Guangzhou der Prozess gegen die feministische Journalistin Sophia Huang Xueqin. Huang wurde vor zwei Jahren wegen “Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht” inhaftiert. Wie ihr Anwalt berichtet, soll der Prozess Freitag um 9:30 Uhr stattfinden. Mit ihr vor Gericht steht der Gewerkschaftsaktivist Wang Jianbing, der damals zur gleichen Zeit verhaftet wurde.
Huang unterstützte mit ihrer Berichterstattung die #MeToo-Bewegung in China. Sie hatte unter anderem Fälle von sexueller Belästigung in der Journalismus-Branche und an chinesischen Universitäten aufgedeckt. Die heute 34-Jährige nahm im Sommer 2019 außerdem in Hongkong an einer Demonstration gegen das geplante Auslieferungsgesetz teil. Nach ihrer Rückkehr nach Festlandchina wurden ihre Reisedokumente beschlagnahmt, was sie daran hinderte, im Herbst 2019 ein Jurastudium in Hongkong aufzunehmen.
Huang befindet sich derzeit im Guangzhou No. 1 Detention Center. Eine enge Freundin von ihr erklärte gegenüber Radio Free Asia, dass Wang in der Haft Schlafentzug und Unterernährung ausgesetzt worden sei. “Sie hat in kurzer Zeit an Gewicht verloren und seit mehr als fünf Monaten keine Menstruation mehr gehabt”, berichtete die Freundin. In den vergangenen zwei Jahren soll Huang zudem unter Kalziummangel, niedrigem Blutdruck und Blutzucker gelitten haben. Organisationen wie “Reporter ohne Grenzen” fordern seit längerem die Freilassung der Journalistin. fpe
Chinesische Spione sollen versucht haben, britische Beamte in wichtigen Positionen in Politik, Verteidigung und Wirtschaft anzuwerben, um sich so Zugang zu Staatsgeheimnissen zu verschaffen. Das erklärte die britische Regierung als Reaktion auf einen parlamentarischen Bericht, der im Juli veröffentlicht wurde.
Das “Intelligence and Security Committee” – der Ausschuss für Nachrichtendienste und Sicherheit – hatte in seinem Bericht erklärt, dass Peking erfolgreich in jeden Sektor der britischen Wirtschaft eingedrungen sei. Die Minister seien zu langsam gewesen, um dieser Bedrohung zu begegnen. China sei an einem “gesamtstaatlichen” Angriff auf Großbritannien beteiligt, der Ansatz der Regierung sei “völlig unzureichend” und werde von kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen dominiert, so das Fazit des Ausschusses nach seiner vierjährigen Untersuchung. Premier Rishi Sunak teilte dem Parlament mit, dass er den Bericht akzeptiere und anerkenne, dass sich die Regierung in diesem Bereich verbessern müsse.
Erst am Wochenende hatte die Verhaftung eines parlamentarischen Wissenschaftlers für Aufsehen gesorgt. Er wird verdächtigt, für China spioniert zu haben. Der junge Wissenschaftler bestreitet, ein Spion zu sein, seine Verhaftungen hat jedoch zu Forderungen britischer Abgeordneter nach einer härteren Gangart geführt. Das chinesische Außenministerium bezeichnete die Spionagevorwürfe als “völlig unbegründet”.
Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 führt derzeit nach eigener Aussage siebenmal so viele Ermittlungen zu chinesischen Aktivitäten durch wie im Jahr 2018. Die Regierung hat zudem eine Einheit eingerichtet, die Wahlen vor ausländischer Einmischung schützen soll. Im vergangenen Jahr hatte der MI5 Parlamentsmitglieder gewarnt, dass ein mutmaßlicher chinesischer Spion “in politische Einmischungsaktivitäten” in Großbritannien verwickelt sei.
Laut einem Zeitungsbericht dieser Woche warnte MI5 die Regierungspartei zudem, dass zwei potenzielle Kandidaten in Gesetzgebungsfunktionen chinesische Spione seien. Die Regierung erklärte, sie überprüfe Beamte regelmäßig und habe eine Software eingerichtet, die etwa dabei helfen soll, gefälschte Profile in sozialen Medien zu erkennen. rtr
Eine selbstfinanzierte wissenschaftliche Sondierungsreise führte vier deutsche Chinawissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen und mit jahrzehntelanger China-Erfahrung sowie einen Völkerrechtler im Mai 2023 auf Einladung der Xinjianger Akademie der Sozialwissenschaften in die Regionen Kashgar (mehr als 90 Prozent uigurisch besiedelt) und Urumqi. Das zentrale Erkenntnisinteresse bestand n i c h t darin, die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen. Das wäre unabhängig kaum möglich gewesen.
Vielmehr wollten wir erkunden, ob sich nach der Einsetzung einer neuen Führungsriege in Xinjiang Ende 2021 hinsichtlich der regionalen Politik mittlerweile etwas verändert hat und – sollte das der Fall sein – in welche Richtung diese Änderungen gehen. Dabei wurden die inhaltlichen Schwerpunkte von der Gruppe wie folgt gesetzt: (1) lokale und regionale Entwicklungspolitik und Entwicklungsinstrumente; (2) Beschäftigungs- und Sozialpolitik (inkl. Beschäftigungsmaßnahmen/Arbeitsvergütung/Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen); (3) staatliche Institutionenbildung/Rechtssystem; (4) Bildung, Kultur, Religion und Sprache.
In diesem Kontext wurden sowohl entsprechende Einrichtungen auf Vorschlag der Gruppe besucht und dort Diskussionen geführt, als auch Gespräche mit Vertreterinnen von Dörfern, Gemeinden und Kreisen, um das Gesehene vertiefen und einordnen zu können. In Urumqi wurden Gespräche mit WissenschaftlerInnen, Vertretern von Rechtsinstitutionen etc. geführt. Vorab fanden in Peking informelle, vertrauliche Gespräche mit WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen statt, darunter langjährigen Xinjiang-ForscherInnen.
Wichtig ist zunächst, dass Xinjiang keineswegs eine abgeschlossene Region (mehr) ist, sondern offen und problemlos besucht werden kann. Der Vorschlag zu dieser Reise kam von der Gruppe, die auch Orte, Einrichtungen und Gesprächspartner vorschlug. Da die Intention eine wissenschaftliche war, sollte eine wissenschaftliche Einrichtung als Partnerorganisation fungieren. Dies war die Akademie der Gesellschaftswissenschaften von Xinjiang. Dabei waren wir uns durchaus bewusst, dass es sich um eine staatliche Einrichtung handelt und die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung generell beschränkt waren.
Da die Reisedauer von beiden Seiten begrenzt war, schlugen wir den Bezirk Kashgar im Süden vor (eine der Kernregionen der uigurischen Bevölkerung) sowie die Hauptstadt Urumqi, wo wir vor allem mit
Rechtsinstitutionen und Wissenschaftlern über Fragen sprechen wollten, die bereits die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen aufgeworfen hatte. Zudem stellten wir Fragen nach dem
Verbleib der beiden international renommierten und auch in Deutschland bekannten uigurischen Wissenschaftlern Prof. Tashpolat Tiyip ( 塔 西 甫 拉 提 ・ 特 依 拜 ), Geograf und früherer
Präsident der Xinjiang Universität sowie Prof. Rahile Dawut (热依 拉·达吾提), weltweit führende Ethnologin im Bereich uigurischer Kultur.
Unser Vorschlag beinhaltete ferner: Reise wird von den Teilnehmern selbst finanziert; keine Beschränkungen der von uns vorgeschlagenen Einrichtungen, der von uns aufgeworfenen Fragen, der vorgeschlagenen Orte und Gesprächspartner. Zugleich waren wir uns aber der Tatsache bewusst, dass diese Reise zeitlich, örtlich und institutionell Beschränkungen unterliegen würde und dass wir daher letztlich nur einen Ausschnitt sehen würden.
Zunächst gingen wir davon aus, dass uns möglicherweise eine Situation erwarten würde, wie sie bis 2021 existierte: allgegenwärtige Kontrollen, überall Armee- und Polizeiposten, eine bedrückende Stimmung. Wir waren völlig überrascht, dass das alles nicht mehr existierte und offenbar “Normalität” zu herrschen schien.
Auch waren die Gesprächspartner relativ offen. Zur Vorbereitung wurden in Peking Gespräche mit verschiedenen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Xinjiang-Forschern geführt, selbst organisiert und auf informeller Basis. Diesen Gesprächspartnern wurde Vertraulichkeit zugesichert.
Der Beitrag in der NZZ, der zunächst 18.000 Zeichen umfasste, musste auf Wunsch des zuständigen Redakteurs zunächst auf 9.000 Zeichen gekürzt werden. Der Chefredakteur wollte dann letztlich nur 5.000 akzeptieren, möglichst “härtere Thesen”, sodass wir die Unterfütterung unserer Argumente weitgehend aufgeben mussten.
Erst nach längerer Diskussion haben wir uns dann entschlossen, auch den kurzen Beitrag zu veröffentlichen, um eine Diskussion anzustoßen. In den kommenden Monaten werden die Beteiligten ihre Erkenntnisse in ausführlichen Artikeln zu Papier bringen und gemeinsam veröffentlichen. Wir bitten daher alle Fragesteller um entsprechende Geduld. Auch werden wir bis dahin erst einmal nicht auf weitere Fragen eingehen und bitten dafür um Verständnis.
Dass es Veränderungen in Xinjiang mit der von uns festgestellten Tendenz gibt, haben unabhängig von uns andere Besucher der Region festgestellt. Uns ist natürlich bewusst, dass der gesamte Xinjiang-Diskurs in den westlichen Medien nicht von der allgemeinen Politik gegenüber China zu lösen ist, die insbesondere in den Vereinigten Staaten intensiv und kontrovers erörtert wird. Unser Beitrag ist daher auch in diesem weiteren Kontext zu verstehen, obwohl wir selbst uns ganz bewusst auf die oben dargestellten und sich auf die Verhältnisse in Xinjiang selbst beziehenden Fragen bezogen haben und uns darauf auch in unserer
geplanten Publikation konzentrieren werden.
Wie bereits am Ende des NZZ-Beitrages angedeutet, empfehlen wir die Intensivierung des Austauschs mit Xinjiang sowie weitere intensive Beschäftigung mit dieser Region wie mit China insgesamt.
Thomas Heberer hat die Seniorprofessur für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg. Bis 2013 hatte er dort den Lehrstuhl für Politik Ostasiens. Helwig Schmidt-Glintzer ist Direktor des China Centrums an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist dort auch Seniorprofessor. Beide Forscher sind Autoren zahlreicher Bücher.