Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 11. Oktober 2025

Die EU bremst den Herbst der Reformen aus

Der Kanzler ruft einen Herbst der Reformen aus. Doch viele Weichen liegen in Brüssel: Bürokratie, Vorgaben und Schuldenregeln erschweren Veränderungen, meint unser Autor Prof. Schnabl.

Lange Zeit sind in Deutschland, beflügelt von einer lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, Staatsausgaben und Regulierungen stark gewachsen, sodass die Industrie an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Die Industrieproduktion stagniert, Investitionen werden zurückgestellt, und mittelständische Betriebe kämpfen mit hohen Energiepreisen und wachsendem Erfüllungsaufwand.

Bundeskanzler Friedrich Merz hat deshalb in Berlin einen „Herbst der Reformen“ ausgerufen. Die Sozialausgaben, die Energiepreise und der Bürokratieaufwand sollen spürbar sinken. Die Aufbruchstimmung kommt bei den Bürgern jedoch nicht an. Woran liegt das?

Bürokratieabbau ist schwierig, weil die Verantwortung für Klimaneutralität, das EU-Lieferkettengesetz, die Taxonomie, das Verbrennerverbot, die Entwaldungsrichtlinie und vieles mehr nicht in Berlin, sondern in Brüssel liegt. Zur Änderung oder Abschaffung braucht es in der Europäischen Union Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheiten, was eine ernstzunehmende Deregulierung zeitaufwendig oder sogar quasi unmöglich macht.

Die Beamten in der Europäischen Kommission und die Abgeordneten im Europäischen Parlament haben zudem eigene Interessen, die weit entfernt von den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger liegen. Die Kürzung von Staatsausgaben ist in der Europäischen Währungsunion unattraktiv, weil die Verschuldung vergemeinschaftet werden kann. In Rom hat man zwar – auch dank großzügiger, schuldenfinanzierter Zuwendungen aus Brüssel – das Haushaltsdefizit unter Kontrolle. Doch ein Abbau der hohen Staatsverschuldung ist nicht in Sicht.

In Paris bekommt das politisch zersplitterte Parlament ein unkontrolliertes Haushaltsdefizit nicht in den Griff und verdeutlicht damit auch die Machtlosigkeit der Brüsseler Schuldenkontrolleure. In Berlin scheint man sich deshalb mit mehr Ausgaben für Verteidigung, Infrastruktur und Soziales an das Schuldenniveau von Madrid, Paris und Rom anzupassen.

Die EZB hilft schon lange beim Schuldenmachen. In Frankfurt hat die EZB unter der französischen Präsidentin Christine Lagarde das Transmissionsschutzinstrument auf den Weg gebracht. Dieses ermöglicht es der EZB, Staatsanleihen einzelner Euro-Länder zu kaufen, wenn deren Renditen zu stark steigen. Dass im Ernstfall strenge Regeln und Bedingungen beim Euro nicht gelten, hat bereits 2012 Lagardes Vorgänger Mario Draghi mit den drei Worten „whatever it takes“ vorgemacht.

Derzeit empfiehlt Mario Draghi als Berater von Ursula von der Leyen der EU, dauerhaft mehr Schulden zu machen, wobei die EZB die EU-Anleihen bereits auf ihren Listen ankauffähiger Wertpapiere führt. Das deutet auf zentralbankfinanzierte Staatsausgaben auf supranationaler Ebene hin.

Reformen gehen anders, wie derzeit Javier Milei in Buenos Aires vor Augen führt. Die Kürzung von Staatsausgaben, die Stabilisierung der Währung und umfassende Deregulierungen gehen dort zügig Hand in Hand. In Washington offenbart der disruptive Donald Trump, dass er als mächtiger Präsident in einem Zwei-Parteien-System weitreichende Veränderungen anstoßen kann.

Auch wenn der Ausgang beider Experimente ungewiss ist, gibt es in beiden Ländern mehr Zuversicht. In Deutschland hingegen scheint der Weg aus der europäischen Schulden- und Regulierungsfalle dauerhaft versperrt, was die Stimmung nicht besser macht.

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Letzte Aktualisierung: 11. Oktober 2025

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