gerade wurden die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 öffentlich. Ergebnisse für das Fach Deutsch: Jeder dritte Schüler verfehlt die Mindeststandards in den Kompetenzen Lesen und Zuhören. “Schockierend, alarmierend, erschreckend, dramatisch, all diese Attribute würden gut passen zu diesen Ergebnissen”, schreibt dazu meine Kollegin Annette Kuhn. “Das Problem ist: Sie wurden schon alle verwendet – bei der vorigen IQB-Studie und auch vorvorherigen Studien.”
Das Lamentieren sollte man also kurz halten, das schonungslose Analysieren dagegen nicht. Einen Anfang macht gleich der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Er zeigt sich wenig überrascht, dass die Kompetenzen der Schüler in Deutsch so nachlassen, während es im Fach Englisch viel besser aussieht. “Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht”, urteilt Schleicher. Was er sonst zu den Ergebnissen sagt und was man von Schweden lernen kann, lesen Sie im Interview.
Auch die Kultusministerinnen und -minister werden sich landauf, landab zu den Ergebnissen erklären müssen. Wie es beim Startchancen-Programm und mit dem Digitalpakt weitergeht, rückt damit zunächst etwas aus dem Blickfeld. Aber die aktuelle Kultusministerkonferenz zeigt: Es gibt noch großen Redebedarf zwischen Bund und Ländern.
Den gibt es innerhalb der Länder übrigens auch beim Umgang mit ChatGPT an Schulen: Mein Kollege Christian Füller zeigt auf, dass Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei der Öffnung von generativen Sprachmodellen für ihre Schulen eine widersprüchliche Politik verfolgen.
Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in der 9. Klasse erfüllen im Fach Deutsch nicht die Mindeststandards beim Lesen und Zuhören. Bei der Orthografie sieht es etwas besser aus. Aber auch hier scheitert mehr als jeder fünfte Schüler. Besser sind die Ergebnisse in Englisch: Beim Leseverstehen verpassen 24 Prozent die Mindeststandards und im Hörverstehen 14 Prozent. Das ist das Ergebnis des aktuellen IQB-Bildungstrends, der heute vorgestellt wurde.
Nach der Studie gibt es zwischen den Ländern große Unterschiede. Während in Sachsen “nur” 23 Prozent der Schüler im Lesen die Mindeststandards verfehlen, sind es in Bremen 47 Prozent. Beim Zuhören schneiden wieder Sachsen sowie Bayern am besten ab. Hier verfehlen jeweils 28 Prozent der Neuntklässler die Mindeststandards. Am anderen Ende stehen Nordrhein-Westfalen (41 Prozent), Berlin (42 Prozent) und wieder Bremen (49 Prozent).
Regelmäßig wird bei dem IQB-Bildungstrend geprüft, inwieweit Schüler der vierten und neunten Klasse die von der KMK definierten Bildungsstandards erreichen. Bei den Neuntklässlern werden im Wechsel die Kompetenzen in Deutsch und in der ersten Fremdsprache bzw. Mathematik und den Naturwissenschaften getestet. Im aktuellen IQB-Bildungstrend 2022 waren wieder Deutsch und die erste Fremdsprache dran, fast überall ist das Englisch. Unterschieden wird dabei zwischen Standards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss (MSA). Auf letztere beziehen sich die Zahlen in diesem Beitrag.
Gegenüber den vergangenen beiden Erhebungen zeigt sich in allen Kompetenzbereichen im Fach Deutsch eine gravierende Verschlechterung. Im Schnitt sind es beim Lesen und bei der Orthografie jeweils neun Prozentpunkte, beim Zuhören 16 Prozentpunkte. Betroffen sind von dieser Verschlechterung bei den Kompetenzen alle Bundesländer, allerdings in unterschiedlichem Maße. Im Vergleich zum IQB-Bildungstrend von 2015 sind die größten Verschlechterungen in Bremen und Nordrhein-Westfalen festzustellen. Wieder einmal.
Schockierend, alarmierend, erschreckend, dramatisch, all diese Attribute würden gut passen zu diesen Ergebnissen. Das Problem ist: Sie wurden schon alle verwendet – bei der vorigen IQB-Studie und auch bei vorvorherigen Studien. Alle Leistungsvergleiche, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigen abnehmende Kompetenzen. Der PISA-Schock 2001 hatte einige Reformen ausgelöst – unter anderem den Ausbau der frühkindlichen Bildung und der Stärkung von Sprachförderung. Das führte in den Folgestudien zunächst zu einem Anstieg der Kompetenzwerte. Aber diese Entwicklung hat sich längst wieder ins Gegenteil verkehrt.
Gezeigt hat sich das erstmals beim IQB-Bildungstrend 2015, dann bei PISA 2016 und seitdem bei jedem Leistungsvergleich aufs Neue. Die Kompetenz-Skalen von PISA und IQB-Bildungstrend lassen sich zwar nicht direkt vergleichen. Aber selbst, wenn man das berücksichtigt, liegen die Schüler heute in ihren Deutschkompetenzen bereits unter denen der ersten PISA-Studie.
Dennoch wird es wohl jetzt wieder keinen Schock wie 2001 geben, zumindest keinen, der Handlungsdruck auslöst. Die Reaktionen aus der Bildungspolitik auf die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends lassen genau das vermuten: Bei der Veröffentlichung des IQB-Bildungstrends zeigte sich die KMK-Präsidentin und Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch zwar bestürzt, und spricht von “besorgniserregenden Befunden”. Und ihr Amtskollege aus Hessen, Kultusminister Alexander Lorz sagte: “Die Ergebnisse des Bildungstrends können uns nicht zufriedenstellen – da gibt es nichts zu beschönigen.” Aber dann wird auch schnell die Verbesserung in Englisch fokussiert, oder es wird eine Verbesserung im Ranking der Länder als Erfolg gefeiert.
So lautet die Überschrift der Pressemitteilung aus der Hamburger Schulbehörde: “Hamburg im Bundesvergleich erneut stark verbessert”. Richtig ist, dass die Neuntklässler in Hamburg in Englisch zwar besser abschneiden als bundesweit und sich auch deutlicher verbessert haben gegenüber dem letzten IQB-Bildungstrend. Doch auch in Hamburg verfehlt in Deutsch ein Drittel die Mindeststandards im Lesen und Zuhören und ein Viertel in Orthografie. Also eigentlich kein Ergebnis, das sich feiern lässt.
Zwei Faktoren spielen für die deutliche Verschlechterung der Kompetenzen eine wichtige Rolle: Zwischen 2015 und 2022 ist der Anteil der Schüler mit Zuwanderungshintergrund stark gestiegen. Und gerade bei den Jugendlichen der ersten Generation, die also im Ausland geboren wurden, zeigt sich ein geringeres Kompetenzniveau im Fach Deutsch. Und sicherlich spielt auch die Pandemie eine wesentliche Rolle. Als die Neuntklässler 2022 getestet wurden, lagen zwei Jahre Schulbetrieb im Notbetrieb hinter ihnen.
Aber OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, der auch die PISA-Studie verantwortet, sieht im Kompetenzrückgang einen langfristigen Trend. Im Interview mit Table.Media sagte er: “Ich glaube, es ist zu einfach, die Entwicklung nur auf die Pandemie zu schieben.” Das wäre auch nicht logisch, weil das Fach Englisch in gleicher Weise von den Schulschließungen betroffen war. Die Kompetenzen haben sich hier aber nicht verschlechtert.
Das gibt einen möglichen Hinweis darauf, an welcher Stellschraube sich drehen lässt, um zu besseren Kompetenzwerten auch in Deutsch zu kommen. So heißt es im Bericht, dass das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Englischunterricht höher ist als das Interesse am Deutschunterricht. Andreas Schleicher wundert das nicht: “Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht.” Vielleicht sollte sich der Deutschunterricht vom Englischunterricht etwas abgucken – bei der Art der Vermittlung und bei der Literaturauswahl.
Der Bericht zum IQB-Bildungstrend verweist außerdem darauf, dass der “Kompetenzzuwachs im Lese- und Hörverstehen im Fach Englisch zu einem erheblichen Anteil auch auf außerschulische Lerngelegenheiten zurückzuführen ist”. Insbesondere die Nutzung digitaler Medien, die während der Pandemie zugenommen hat, findet häufig in englischer Sprache statt. Und Filme in Originalversion zu schauen, ist für Jugendliche heute selbstverständlich.
Die Verbesserung bei den Ergebnissen in Englisch lassen auch noch etwas Anderes vermuten: dass der Start mit Englisch schon in der Grundschule möglicherweise durchaus Früchte trägt. Den frühen Englischunterricht zugunsten der Förderung von Mathe und Deutsch wieder zu streichen, wie es jetzt immer wieder gefordert wird, könnte langfristig fatale Auswirkungen haben.
Neben den leichten Kompetenzzuwächsen in Englisch gibt es im IQB-Bildungstrend noch einen weiteren Lichtblick zu vermelden: Die Neuntklässler sind demnach mit ihrer Schule überwiegend sehr zufrieden und fühlen sich gut integriert. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sozial bedingten Kompetenzunterschiede weiter zugenommen haben, also dass der Bildungserfolg in Deutschland ganz wesentlich vom sozioökonomischen Status abhängt. “Die sozialen Disparitäten in der Sekundarstufe I fielen seit ihrer Erfassung im IQB-Ländervergleich 2009 noch nie so stark aus wie im Jahr 2022“, heißt es im Bericht. Im internationalen Vergleich seien andere Länder inzwischen weiter, hat Andreas Schleicher mit Blick auf PISA festgestellt. Table.Media sagte er: “Das Bewusstsein für dieses Thema ist heute viel stärker vorhanden”. Offenbar hängt Deutschland bei dieser Entwicklung aber hinterher.
Auch nicht vorankommt Deutschland bei den geschlechtsbezogenen Disparitäten. Mädchen schneiden in allen Kompetenzbereichen besser ab als Jungen. Ein Trend, der seit vielen Jahren und Studien bekannt ist, der aber offenbar bislang auf die Didaktik kaum Auswirkungen hat.
Bei seiner gestrigen Eröffnungsrede zur Preisverleihung des Deutschen Schulpreises sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: “Kann sein, dass mein Eindruck stimmt, dass die Schuldebatte in unserem Lande manchmal etwas sehr ritualisiert verläuft: Eine Studie erscheint, der öffentliche Aufschrei ist groß, es werden Aufbrüche gefordert, Bildungsgipfel einberufen, Schuldzuweisungen gemacht – und dann tut sich danach regelmäßig zu wenig, bis die nächste Studie kommt und alles wieder von vorne beginnt.” Darauf müssen wir nicht mehr lang warten: Anfang Dezember erscheint die neue PISA-Studie.
Die Kompetenzen der Neuntklässler im Fach Deutsch haben sich noch deutlich verschlechtert. Das zeigt der neue IQB-Bildungstrend. Woran liegt das?
Andreas Schleicher: Sicher sind das auch Effekte der Pandemie, aber es ist ein langfristiger Trend. Ich glaube, es ist zu einfach, die Entwicklung nur auf die Pandemie zu schieben. Nehmen wir nur mal die Lesekompetenz: Das Lesen ist heute ein anderer Prozess als früher. In der Vergangenheit war Lesen die Reproduktion von Wissen. Heute ist mit Lesen viel stärker die Konstruktion, die Bewertung und das Hinterfragen von Wissen verknüpft. Aber darauf ist das Bildungssystem nicht eingestellt.
Was meinen Sie damit?
Ich meine nicht den Lesevorgang an sich. Und es geht auch nicht darum, zu lesen, um etwas auswendig zu lernen. Das hat im Zeitalter von ChatGPT nur noch wenig Bedeutung. Es kommt bei der Lesekompetenz mehr darauf an, verschiedene Informationsquellen miteinander zu verknüpfen und zu hinterfragen. Das lernen Schüler viel zu wenig. Wir vermitteln Lesekompetenz immer noch wie im 20. Jahrhundert. Das reicht nicht, und darum geht die Lesekompetenz immer weiter bergab.
Erstaunlich ist demgegenüber, dass die Lesekompetenz und das Hörverständnis in Englisch nicht gesunken sind. Im Gegenteil: Die Schüler haben sich hier teilweise sogar verbessert. Wie erklären Sie sich das?
Fremdsprachen haben heute viel mehr Relevanz. Das sehen die Schüler auch selbst so. Englisch ist für sie nicht nur ein Schulfach, sondern etwas, das sie auch außerhalb der Schule immer mehr nutzen. Ich glaube, darum begeistern sich Schüler eher für dieses Fach. Und Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht.
Inwiefern?
Ich lerne dort etwas über andere Kulturen und Länder. Im Englischunterricht geht es um die Gegenwart oder die Zukunft. Der Deutschunterricht befasst sich meist mit der Vergangenheit. Die Schüler lesen dort oft Bücher, zu denen sie keinen Bezug haben. Wir müssen uns überlegen, wie wir hier rangehen können, um junge Menschen besser mitzunehmen.
Der IQB-Bildungstrend zeigt auch, dass die sozialen Disparitäten immer größer werden. Das ist nicht neu. Wieso gelingt es Deutschland nicht, hier gegenzusteuern?
Deutschland ist immer noch dem industriell geprägten Bildungsansatz verhaftet: Schüler werden früh auf verschiedene Bildungswege verteilt, und es gibt einen Unterricht für alle. Bei einer vielfältiger werdenden Schülerschaft führt das aber immer weniger zum Erfolg. Wir müssen erkennen, dass junge Menschen unterschiedlich lernen. Darauf muss die Pädagogik eingehen. Die Vielfalt der Schüler ist nicht ein Problem, sondern das Potenzial der Zukunft. Denn Innovation entsteht immer aus Vielfalt. Die Frage ist: Wie gehen wir mit der Vielfalt um?
Und?
Schauen wir mal nach Schweden. Dort hat man das Finanzierungssystem in den 90er-Jahren umgestellt. Die Finanzierung der Schule richtet sich nach der Schülerschaft. Schulen in benachteiligter Lage bekommen mehr Geld. Plötzlich wird es attraktiv für Schulen zu sagen: Ok, ich kümmere mich um diese Schüler. England verfolgt mit dem “Pupil Premium”-Ansatz dieselbe Idee. Für jeden Schüler aus sozialer Benachteiligung bekommt eine Schule etwa 2.000 Pfund extra. Die Schule überlegt sich dann, wie sie den Schüler mit diesem Geld fördern kann.
Ein anderes Beispiel ist Vietnam. Da macht eine Lehrkraft nur dann Karriere, wenn sie zeigt, dass sie mit den schwierigsten Schülern zurechtkommt. Ein Vize-Schulleiter, der Schulleiter werden will, geht erst mal an eine Schule in einem Randgebiet, um diese umzugestalten. Erst wenn ihm das gelungen ist, kann er den nächsten Karriereschritt gehen. Die besten Leute werden so für die schwierigsten Aufgaben gewonnen.
Geht dabei nicht Motivation verloren, wenn Lehrkräfte und Schulleiter an Schulen delegiert werden, an die sie gar nicht wollen?
Sie werden nicht delegiert. Aber wenn sie einen Karrieresprung machen wollen, dann funktioniert das eben nur, wenn sie so eine herausfordernde Aufgabe übernehmen. Menschen, die zeigen, dass sie mit Schwierigkeiten umgehen können, bekommen aber auch mehr Anerkennung. Dafür brauchen diese Menschen allerdings auch Freiheiten. Wenn mir jemand sagt: Du musst jetzt eine Stunde extra unterrichten, und ich bekomme dann noch vorgeschrieben, was ich dabei zu tun habe, funktioniert es nicht. Das motiviert niemanden. Wenn Lehrkräfte aber Verantwortung übernehmen dürfen und dabei Freiheit und Unterstützung bekommen, fördert das ihre Motivation.
Sie haben einige positive Beispiele genannt, wie Länder auf soziale Disparitäten reagieren können. Wie sieht es insgesamt in der OECD aus?
In den letzten Jahrzehnten sind viele Bildungssysteme inklusiver geworden. Das Bewusstsein für dieses Thema ist heute viel stärker vorhanden.
Und in Deutschland?
In den 2000er-Jahren hat Deutschland viel erreicht: den Aufbau des frühkindlichen Bildungssystems, den Ausbau der Ganztagsschule, die Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund. Aber irgendwann ist das zum Erliegen gekommen. Vielleicht weil der Druck nachgelassen hat. Die anfänglich großen Fortschritte beim Thema Chancengerechtigkeit sind kaum noch zu sehen.
Was kann man da tun?
Ich glaube, wir müssen Anreize für Lehrkräfte und Schulleitungen vor Ort schaffen. In Deutschland werden 17 Prozent der Entscheidungen in den Schulen getroffen, im Nachbarland Niederlande sind es 90 Prozent. Dort lassen sich Veränderungen viel leichter angehen. Und das macht auch einen Riesenunterschied für die Motivation. Wenn wir Menschen dafür gewinnen wollen, das Bildungssystem zu verändern, müssen wir hier ansetzen. Mit Kira Münsterberg
Andreas Schleicher ist Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Jedes Jahr gibt er den Bericht “Bildung auf einen Blick” zum Stand der Bildung weltweit heraus. Außerdem ist er Chefkoordinator der PISA-Studie. Die nächste erscheint Anfang September.
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sind das dominierende Thema der 383. Kultusministerkonferenz. Auf der Tagesordnung standen aber weitere gewichtige Themen – Konfliktpotenzial an manchen Stellen inklusive. Dazu zählen das Startchancen-Programm und der Digitalpakt. Beschlossen wurden auch die Empfehlungen zum Ganztag, über die Table.Media vorab berichtet hatte.
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verfolgen eine widersprüchliche Politik bei der Öffnung von generativen Sprachmodellen für ihre Schulen. Das wurde bei einer Konferenz zu Künstlicher Intelligenz in Berlin deutlich, zu der Schulministerin Theresa Schopper (Bündnis 90/Die Grünen) eingeladen hatte. Schopper und ihre Mainzer Amtskollegin Stefanie Hubig (SPD) betonten, dass ChatGPT und andere Sprachmodelle eine Zeitenwende für Schule und Lernen bedeuteten. Alle Lehrkräfte sollten sie nutzen können. Gleichzeitig boten die Ministerinnen, die während der ganzen Konferenz anwesend waren, lediglich eng begrenzte oder datenschutzrechtlich nicht zulässige Zugänge an.
Auf die Frage, ob die beiden Länder die verfügbaren Angebote zu einer datensicheren und kostenfreien Nutzung von ChatGPT für Schulen öffnen, antworteten die Ministerinnen unterschiedlich. Theresa Schopper sagte, das Land habe für Lehrkräfte “fAIr-Chat” im Angebot. Hubig verwies darauf, dass sich Lehrerinnen und Lehrer mit ihren eigenen Geräten bei der Firma OpenAI für die Gratis-Version von ChatGPT anmelden könnten. Aus dem Hause des Datenschutzbeauftragten von Rheinland-Pfalz hieß es gegenüber Table.Media, diese Aussage Hubigs könne nicht als Dienstanweisung verstanden werden. Denn Lehrer wären sonst gezwungen, ihre private E-Mail-Adresse und Handynummer in die USA zu übertragen.
Die Variante fAIr-Chat ihrer Kollegin Schopper verzichtet zwar auf Datenpreisgabe. Über ein (von einer Lehrkraft programmierten) PlugIn ist fAIr-Chat in der Landesinstanz von Moodle an die Version GPT-3.5Turbo angeschlossen. Dieser Zugang ist dazu da, das KI-Tool zu testen. Er steht allerdings nicht allen 112.000 Lehrkräften des Landes zur Verfügung, sondern nur einigen Dutzend. “Zu dieser Moodle-Instanz unter der Regie des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung haben etwa 70 Fortbildnerinnen und Fortbildner einen Zugang“, sagte ein Sprecher Schoppers Table.Media.
Aus der Lehrerschaft des Landes kam Kritik an der Bereitstellung von ChatGPT innerhalb von Moodle. Die fAIr-Chat-Variante biete nur eine Art der Nutzung. Bei der Nutzung von fAirChat sind nur textbasierte Ein- und Ausgaben möglich, zudem ist die Version GPT3.5 langsamer und macht deutlich mehr Fehler als GPT4.0. Über die deutschen Anbieter Fobizz und SchulKI können Lehrer verschiedene OpenAI-Tools nutzen. Sie ermöglichen datensicheren Zugang zu GPT4.0, die Text, Bildgeneration, Verarbeitung von PDFs, Feedback zu Texten und vieles mehr bietet. Sie sind zugleich für Schüler datenschutzkonform zu öffnen. Wie berichtet, hat Mecklenburg-Vorpommern über eine Landeslizenz des Anbieters Fobizz allen seinen Lehrkräften den Zugang zu ChatGPT geöffnet. Der Schul-Sprecher der Datenschutzkonferenz, Lutz Hasse, wirbt für eine Bundeslizenz dieser Art für alle Lehrer der Bundesrepublik. Christian Füller
gerade wurden die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 öffentlich. Ergebnisse für das Fach Deutsch: Jeder dritte Schüler verfehlt die Mindeststandards in den Kompetenzen Lesen und Zuhören. “Schockierend, alarmierend, erschreckend, dramatisch, all diese Attribute würden gut passen zu diesen Ergebnissen”, schreibt dazu meine Kollegin Annette Kuhn. “Das Problem ist: Sie wurden schon alle verwendet – bei der vorigen IQB-Studie und auch vorvorherigen Studien.”
Das Lamentieren sollte man also kurz halten, das schonungslose Analysieren dagegen nicht. Einen Anfang macht gleich der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Er zeigt sich wenig überrascht, dass die Kompetenzen der Schüler in Deutsch so nachlassen, während es im Fach Englisch viel besser aussieht. “Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht”, urteilt Schleicher. Was er sonst zu den Ergebnissen sagt und was man von Schweden lernen kann, lesen Sie im Interview.
Auch die Kultusministerinnen und -minister werden sich landauf, landab zu den Ergebnissen erklären müssen. Wie es beim Startchancen-Programm und mit dem Digitalpakt weitergeht, rückt damit zunächst etwas aus dem Blickfeld. Aber die aktuelle Kultusministerkonferenz zeigt: Es gibt noch großen Redebedarf zwischen Bund und Ländern.
Den gibt es innerhalb der Länder übrigens auch beim Umgang mit ChatGPT an Schulen: Mein Kollege Christian Füller zeigt auf, dass Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei der Öffnung von generativen Sprachmodellen für ihre Schulen eine widersprüchliche Politik verfolgen.
Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in der 9. Klasse erfüllen im Fach Deutsch nicht die Mindeststandards beim Lesen und Zuhören. Bei der Orthografie sieht es etwas besser aus. Aber auch hier scheitert mehr als jeder fünfte Schüler. Besser sind die Ergebnisse in Englisch: Beim Leseverstehen verpassen 24 Prozent die Mindeststandards und im Hörverstehen 14 Prozent. Das ist das Ergebnis des aktuellen IQB-Bildungstrends, der heute vorgestellt wurde.
Nach der Studie gibt es zwischen den Ländern große Unterschiede. Während in Sachsen “nur” 23 Prozent der Schüler im Lesen die Mindeststandards verfehlen, sind es in Bremen 47 Prozent. Beim Zuhören schneiden wieder Sachsen sowie Bayern am besten ab. Hier verfehlen jeweils 28 Prozent der Neuntklässler die Mindeststandards. Am anderen Ende stehen Nordrhein-Westfalen (41 Prozent), Berlin (42 Prozent) und wieder Bremen (49 Prozent).
Regelmäßig wird bei dem IQB-Bildungstrend geprüft, inwieweit Schüler der vierten und neunten Klasse die von der KMK definierten Bildungsstandards erreichen. Bei den Neuntklässlern werden im Wechsel die Kompetenzen in Deutsch und in der ersten Fremdsprache bzw. Mathematik und den Naturwissenschaften getestet. Im aktuellen IQB-Bildungstrend 2022 waren wieder Deutsch und die erste Fremdsprache dran, fast überall ist das Englisch. Unterschieden wird dabei zwischen Standards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss (MSA). Auf letztere beziehen sich die Zahlen in diesem Beitrag.
Gegenüber den vergangenen beiden Erhebungen zeigt sich in allen Kompetenzbereichen im Fach Deutsch eine gravierende Verschlechterung. Im Schnitt sind es beim Lesen und bei der Orthografie jeweils neun Prozentpunkte, beim Zuhören 16 Prozentpunkte. Betroffen sind von dieser Verschlechterung bei den Kompetenzen alle Bundesländer, allerdings in unterschiedlichem Maße. Im Vergleich zum IQB-Bildungstrend von 2015 sind die größten Verschlechterungen in Bremen und Nordrhein-Westfalen festzustellen. Wieder einmal.
Schockierend, alarmierend, erschreckend, dramatisch, all diese Attribute würden gut passen zu diesen Ergebnissen. Das Problem ist: Sie wurden schon alle verwendet – bei der vorigen IQB-Studie und auch bei vorvorherigen Studien. Alle Leistungsvergleiche, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigen abnehmende Kompetenzen. Der PISA-Schock 2001 hatte einige Reformen ausgelöst – unter anderem den Ausbau der frühkindlichen Bildung und der Stärkung von Sprachförderung. Das führte in den Folgestudien zunächst zu einem Anstieg der Kompetenzwerte. Aber diese Entwicklung hat sich längst wieder ins Gegenteil verkehrt.
Gezeigt hat sich das erstmals beim IQB-Bildungstrend 2015, dann bei PISA 2016 und seitdem bei jedem Leistungsvergleich aufs Neue. Die Kompetenz-Skalen von PISA und IQB-Bildungstrend lassen sich zwar nicht direkt vergleichen. Aber selbst, wenn man das berücksichtigt, liegen die Schüler heute in ihren Deutschkompetenzen bereits unter denen der ersten PISA-Studie.
Dennoch wird es wohl jetzt wieder keinen Schock wie 2001 geben, zumindest keinen, der Handlungsdruck auslöst. Die Reaktionen aus der Bildungspolitik auf die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends lassen genau das vermuten: Bei der Veröffentlichung des IQB-Bildungstrends zeigte sich die KMK-Präsidentin und Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch zwar bestürzt, und spricht von “besorgniserregenden Befunden”. Und ihr Amtskollege aus Hessen, Kultusminister Alexander Lorz sagte: “Die Ergebnisse des Bildungstrends können uns nicht zufriedenstellen – da gibt es nichts zu beschönigen.” Aber dann wird auch schnell die Verbesserung in Englisch fokussiert, oder es wird eine Verbesserung im Ranking der Länder als Erfolg gefeiert.
So lautet die Überschrift der Pressemitteilung aus der Hamburger Schulbehörde: “Hamburg im Bundesvergleich erneut stark verbessert”. Richtig ist, dass die Neuntklässler in Hamburg in Englisch zwar besser abschneiden als bundesweit und sich auch deutlicher verbessert haben gegenüber dem letzten IQB-Bildungstrend. Doch auch in Hamburg verfehlt in Deutsch ein Drittel die Mindeststandards im Lesen und Zuhören und ein Viertel in Orthografie. Also eigentlich kein Ergebnis, das sich feiern lässt.
Zwei Faktoren spielen für die deutliche Verschlechterung der Kompetenzen eine wichtige Rolle: Zwischen 2015 und 2022 ist der Anteil der Schüler mit Zuwanderungshintergrund stark gestiegen. Und gerade bei den Jugendlichen der ersten Generation, die also im Ausland geboren wurden, zeigt sich ein geringeres Kompetenzniveau im Fach Deutsch. Und sicherlich spielt auch die Pandemie eine wesentliche Rolle. Als die Neuntklässler 2022 getestet wurden, lagen zwei Jahre Schulbetrieb im Notbetrieb hinter ihnen.
Aber OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, der auch die PISA-Studie verantwortet, sieht im Kompetenzrückgang einen langfristigen Trend. Im Interview mit Table.Media sagte er: “Ich glaube, es ist zu einfach, die Entwicklung nur auf die Pandemie zu schieben.” Das wäre auch nicht logisch, weil das Fach Englisch in gleicher Weise von den Schulschließungen betroffen war. Die Kompetenzen haben sich hier aber nicht verschlechtert.
Das gibt einen möglichen Hinweis darauf, an welcher Stellschraube sich drehen lässt, um zu besseren Kompetenzwerten auch in Deutsch zu kommen. So heißt es im Bericht, dass das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Englischunterricht höher ist als das Interesse am Deutschunterricht. Andreas Schleicher wundert das nicht: “Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht.” Vielleicht sollte sich der Deutschunterricht vom Englischunterricht etwas abgucken – bei der Art der Vermittlung und bei der Literaturauswahl.
Der Bericht zum IQB-Bildungstrend verweist außerdem darauf, dass der “Kompetenzzuwachs im Lese- und Hörverstehen im Fach Englisch zu einem erheblichen Anteil auch auf außerschulische Lerngelegenheiten zurückzuführen ist”. Insbesondere die Nutzung digitaler Medien, die während der Pandemie zugenommen hat, findet häufig in englischer Sprache statt. Und Filme in Originalversion zu schauen, ist für Jugendliche heute selbstverständlich.
Die Verbesserung bei den Ergebnissen in Englisch lassen auch noch etwas Anderes vermuten: dass der Start mit Englisch schon in der Grundschule möglicherweise durchaus Früchte trägt. Den frühen Englischunterricht zugunsten der Förderung von Mathe und Deutsch wieder zu streichen, wie es jetzt immer wieder gefordert wird, könnte langfristig fatale Auswirkungen haben.
Neben den leichten Kompetenzzuwächsen in Englisch gibt es im IQB-Bildungstrend noch einen weiteren Lichtblick zu vermelden: Die Neuntklässler sind demnach mit ihrer Schule überwiegend sehr zufrieden und fühlen sich gut integriert. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sozial bedingten Kompetenzunterschiede weiter zugenommen haben, also dass der Bildungserfolg in Deutschland ganz wesentlich vom sozioökonomischen Status abhängt. “Die sozialen Disparitäten in der Sekundarstufe I fielen seit ihrer Erfassung im IQB-Ländervergleich 2009 noch nie so stark aus wie im Jahr 2022“, heißt es im Bericht. Im internationalen Vergleich seien andere Länder inzwischen weiter, hat Andreas Schleicher mit Blick auf PISA festgestellt. Table.Media sagte er: “Das Bewusstsein für dieses Thema ist heute viel stärker vorhanden”. Offenbar hängt Deutschland bei dieser Entwicklung aber hinterher.
Auch nicht vorankommt Deutschland bei den geschlechtsbezogenen Disparitäten. Mädchen schneiden in allen Kompetenzbereichen besser ab als Jungen. Ein Trend, der seit vielen Jahren und Studien bekannt ist, der aber offenbar bislang auf die Didaktik kaum Auswirkungen hat.
Bei seiner gestrigen Eröffnungsrede zur Preisverleihung des Deutschen Schulpreises sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: “Kann sein, dass mein Eindruck stimmt, dass die Schuldebatte in unserem Lande manchmal etwas sehr ritualisiert verläuft: Eine Studie erscheint, der öffentliche Aufschrei ist groß, es werden Aufbrüche gefordert, Bildungsgipfel einberufen, Schuldzuweisungen gemacht – und dann tut sich danach regelmäßig zu wenig, bis die nächste Studie kommt und alles wieder von vorne beginnt.” Darauf müssen wir nicht mehr lang warten: Anfang Dezember erscheint die neue PISA-Studie.
Die Kompetenzen der Neuntklässler im Fach Deutsch haben sich noch deutlich verschlechtert. Das zeigt der neue IQB-Bildungstrend. Woran liegt das?
Andreas Schleicher: Sicher sind das auch Effekte der Pandemie, aber es ist ein langfristiger Trend. Ich glaube, es ist zu einfach, die Entwicklung nur auf die Pandemie zu schieben. Nehmen wir nur mal die Lesekompetenz: Das Lesen ist heute ein anderer Prozess als früher. In der Vergangenheit war Lesen die Reproduktion von Wissen. Heute ist mit Lesen viel stärker die Konstruktion, die Bewertung und das Hinterfragen von Wissen verknüpft. Aber darauf ist das Bildungssystem nicht eingestellt.
Was meinen Sie damit?
Ich meine nicht den Lesevorgang an sich. Und es geht auch nicht darum, zu lesen, um etwas auswendig zu lernen. Das hat im Zeitalter von ChatGPT nur noch wenig Bedeutung. Es kommt bei der Lesekompetenz mehr darauf an, verschiedene Informationsquellen miteinander zu verknüpfen und zu hinterfragen. Das lernen Schüler viel zu wenig. Wir vermitteln Lesekompetenz immer noch wie im 20. Jahrhundert. Das reicht nicht, und darum geht die Lesekompetenz immer weiter bergab.
Erstaunlich ist demgegenüber, dass die Lesekompetenz und das Hörverständnis in Englisch nicht gesunken sind. Im Gegenteil: Die Schüler haben sich hier teilweise sogar verbessert. Wie erklären Sie sich das?
Fremdsprachen haben heute viel mehr Relevanz. Das sehen die Schüler auch selbst so. Englisch ist für sie nicht nur ein Schulfach, sondern etwas, das sie auch außerhalb der Schule immer mehr nutzen. Ich glaube, darum begeistern sich Schüler eher für dieses Fach. Und Fremdsprachenunterricht hat meist viel mehr Realitätsbezug als Deutschunterricht.
Inwiefern?
Ich lerne dort etwas über andere Kulturen und Länder. Im Englischunterricht geht es um die Gegenwart oder die Zukunft. Der Deutschunterricht befasst sich meist mit der Vergangenheit. Die Schüler lesen dort oft Bücher, zu denen sie keinen Bezug haben. Wir müssen uns überlegen, wie wir hier rangehen können, um junge Menschen besser mitzunehmen.
Der IQB-Bildungstrend zeigt auch, dass die sozialen Disparitäten immer größer werden. Das ist nicht neu. Wieso gelingt es Deutschland nicht, hier gegenzusteuern?
Deutschland ist immer noch dem industriell geprägten Bildungsansatz verhaftet: Schüler werden früh auf verschiedene Bildungswege verteilt, und es gibt einen Unterricht für alle. Bei einer vielfältiger werdenden Schülerschaft führt das aber immer weniger zum Erfolg. Wir müssen erkennen, dass junge Menschen unterschiedlich lernen. Darauf muss die Pädagogik eingehen. Die Vielfalt der Schüler ist nicht ein Problem, sondern das Potenzial der Zukunft. Denn Innovation entsteht immer aus Vielfalt. Die Frage ist: Wie gehen wir mit der Vielfalt um?
Und?
Schauen wir mal nach Schweden. Dort hat man das Finanzierungssystem in den 90er-Jahren umgestellt. Die Finanzierung der Schule richtet sich nach der Schülerschaft. Schulen in benachteiligter Lage bekommen mehr Geld. Plötzlich wird es attraktiv für Schulen zu sagen: Ok, ich kümmere mich um diese Schüler. England verfolgt mit dem “Pupil Premium”-Ansatz dieselbe Idee. Für jeden Schüler aus sozialer Benachteiligung bekommt eine Schule etwa 2.000 Pfund extra. Die Schule überlegt sich dann, wie sie den Schüler mit diesem Geld fördern kann.
Ein anderes Beispiel ist Vietnam. Da macht eine Lehrkraft nur dann Karriere, wenn sie zeigt, dass sie mit den schwierigsten Schülern zurechtkommt. Ein Vize-Schulleiter, der Schulleiter werden will, geht erst mal an eine Schule in einem Randgebiet, um diese umzugestalten. Erst wenn ihm das gelungen ist, kann er den nächsten Karriereschritt gehen. Die besten Leute werden so für die schwierigsten Aufgaben gewonnen.
Geht dabei nicht Motivation verloren, wenn Lehrkräfte und Schulleiter an Schulen delegiert werden, an die sie gar nicht wollen?
Sie werden nicht delegiert. Aber wenn sie einen Karrieresprung machen wollen, dann funktioniert das eben nur, wenn sie so eine herausfordernde Aufgabe übernehmen. Menschen, die zeigen, dass sie mit Schwierigkeiten umgehen können, bekommen aber auch mehr Anerkennung. Dafür brauchen diese Menschen allerdings auch Freiheiten. Wenn mir jemand sagt: Du musst jetzt eine Stunde extra unterrichten, und ich bekomme dann noch vorgeschrieben, was ich dabei zu tun habe, funktioniert es nicht. Das motiviert niemanden. Wenn Lehrkräfte aber Verantwortung übernehmen dürfen und dabei Freiheit und Unterstützung bekommen, fördert das ihre Motivation.
Sie haben einige positive Beispiele genannt, wie Länder auf soziale Disparitäten reagieren können. Wie sieht es insgesamt in der OECD aus?
In den letzten Jahrzehnten sind viele Bildungssysteme inklusiver geworden. Das Bewusstsein für dieses Thema ist heute viel stärker vorhanden.
Und in Deutschland?
In den 2000er-Jahren hat Deutschland viel erreicht: den Aufbau des frühkindlichen Bildungssystems, den Ausbau der Ganztagsschule, die Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund. Aber irgendwann ist das zum Erliegen gekommen. Vielleicht weil der Druck nachgelassen hat. Die anfänglich großen Fortschritte beim Thema Chancengerechtigkeit sind kaum noch zu sehen.
Was kann man da tun?
Ich glaube, wir müssen Anreize für Lehrkräfte und Schulleitungen vor Ort schaffen. In Deutschland werden 17 Prozent der Entscheidungen in den Schulen getroffen, im Nachbarland Niederlande sind es 90 Prozent. Dort lassen sich Veränderungen viel leichter angehen. Und das macht auch einen Riesenunterschied für die Motivation. Wenn wir Menschen dafür gewinnen wollen, das Bildungssystem zu verändern, müssen wir hier ansetzen. Mit Kira Münsterberg
Andreas Schleicher ist Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Jedes Jahr gibt er den Bericht “Bildung auf einen Blick” zum Stand der Bildung weltweit heraus. Außerdem ist er Chefkoordinator der PISA-Studie. Die nächste erscheint Anfang September.
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sind das dominierende Thema der 383. Kultusministerkonferenz. Auf der Tagesordnung standen aber weitere gewichtige Themen – Konfliktpotenzial an manchen Stellen inklusive. Dazu zählen das Startchancen-Programm und der Digitalpakt. Beschlossen wurden auch die Empfehlungen zum Ganztag, über die Table.Media vorab berichtet hatte.
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verfolgen eine widersprüchliche Politik bei der Öffnung von generativen Sprachmodellen für ihre Schulen. Das wurde bei einer Konferenz zu Künstlicher Intelligenz in Berlin deutlich, zu der Schulministerin Theresa Schopper (Bündnis 90/Die Grünen) eingeladen hatte. Schopper und ihre Mainzer Amtskollegin Stefanie Hubig (SPD) betonten, dass ChatGPT und andere Sprachmodelle eine Zeitenwende für Schule und Lernen bedeuteten. Alle Lehrkräfte sollten sie nutzen können. Gleichzeitig boten die Ministerinnen, die während der ganzen Konferenz anwesend waren, lediglich eng begrenzte oder datenschutzrechtlich nicht zulässige Zugänge an.
Auf die Frage, ob die beiden Länder die verfügbaren Angebote zu einer datensicheren und kostenfreien Nutzung von ChatGPT für Schulen öffnen, antworteten die Ministerinnen unterschiedlich. Theresa Schopper sagte, das Land habe für Lehrkräfte “fAIr-Chat” im Angebot. Hubig verwies darauf, dass sich Lehrerinnen und Lehrer mit ihren eigenen Geräten bei der Firma OpenAI für die Gratis-Version von ChatGPT anmelden könnten. Aus dem Hause des Datenschutzbeauftragten von Rheinland-Pfalz hieß es gegenüber Table.Media, diese Aussage Hubigs könne nicht als Dienstanweisung verstanden werden. Denn Lehrer wären sonst gezwungen, ihre private E-Mail-Adresse und Handynummer in die USA zu übertragen.
Die Variante fAIr-Chat ihrer Kollegin Schopper verzichtet zwar auf Datenpreisgabe. Über ein (von einer Lehrkraft programmierten) PlugIn ist fAIr-Chat in der Landesinstanz von Moodle an die Version GPT-3.5Turbo angeschlossen. Dieser Zugang ist dazu da, das KI-Tool zu testen. Er steht allerdings nicht allen 112.000 Lehrkräften des Landes zur Verfügung, sondern nur einigen Dutzend. “Zu dieser Moodle-Instanz unter der Regie des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung haben etwa 70 Fortbildnerinnen und Fortbildner einen Zugang“, sagte ein Sprecher Schoppers Table.Media.
Aus der Lehrerschaft des Landes kam Kritik an der Bereitstellung von ChatGPT innerhalb von Moodle. Die fAIr-Chat-Variante biete nur eine Art der Nutzung. Bei der Nutzung von fAirChat sind nur textbasierte Ein- und Ausgaben möglich, zudem ist die Version GPT3.5 langsamer und macht deutlich mehr Fehler als GPT4.0. Über die deutschen Anbieter Fobizz und SchulKI können Lehrer verschiedene OpenAI-Tools nutzen. Sie ermöglichen datensicheren Zugang zu GPT4.0, die Text, Bildgeneration, Verarbeitung von PDFs, Feedback zu Texten und vieles mehr bietet. Sie sind zugleich für Schüler datenschutzkonform zu öffnen. Wie berichtet, hat Mecklenburg-Vorpommern über eine Landeslizenz des Anbieters Fobizz allen seinen Lehrkräften den Zugang zu ChatGPT geöffnet. Der Schul-Sprecher der Datenschutzkonferenz, Lutz Hasse, wirbt für eine Bundeslizenz dieser Art für alle Lehrer der Bundesrepublik. Christian Füller