Table.Briefing: Bildung

Special: Handwerkspräsident Jörg Dittrich: „Schon jetzt 250.000 Stellen im Handwerk nicht besetzt“/ Kritik an Ungleichbehandlung von Studium und Ausbildung

Liebe Leserin, lieber Leser,

Fachkräfte fehlen in allen Branchen, und werden es in Zukunft noch viel mehr. Jede Branche versucht, Nachwuchs zu gewinnen. Mehr Lehrer braucht das Land für die Bildung! Dem Gesundheitssektor droht der Kollaps! Solche Schlagzeilen sind täglich zu lesen. Und währenddessen wartet man monatelang auf einen Handwerker. Aber nicht nur der Privathaushalt braucht hier viel Geduld, auch die Handwerksbetriebe selbst, die natürlich auch unter dem Fachkräftemangel leiden und Probleme haben, junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen.

Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, sieht hier ein riesiges Problem auf uns zurollen. Schon jetzt seien 250.000 Stellen im Handwerk unbesetzt. “Am Ende ist es eine simple Rechnung, dass die Zahl der jungen Menschen nicht mehr ausreicht, um unsere Wirtschaft, wie sie ist, am Laufen zu halten”, sagt Dittrich im Interview mit Anna Parrisius und Stefan Braun.

Deutliche Kritik übt Dittrich dabei an der Ungleichbehandlung von Studium und Ausbildung: Es fließe viel weniger Geld in die berufliche Bildung, Meister und Bachelor seien im öffentlichen Sektor nicht gleichwertig, und in vielen Schulen würde noch immer vermittelt: “Als Lehrling kehrst du die Werkstatt und später arbeitest du in einem Blaumann und machst dich schmutzig.”

Das Bild habe sich längst überholt. Und Jörg Dittrich ist überzeugt, dass der Fortbestand unserer Wirtschaft maßgeblich davon abhänge, wie gut es gelinge, jungen Menschen auch in der Schule zu vermitteln, dass ein Handwerksberuf heute anspruchsvoll sei – und wie viel Spaß er machen könne.

Einen guten Start in die Woche wünscht

Ihre
Annette Kuhn
Bild von Annette  Kuhn

Analyse

“Schon jetzt fehlen vier Prozent der Handwerker”

Den bevorstehenden Mangel an Handwerkern sieht Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks auch als eine Folge falscher Kommunikation.

Herr Dittrich, Fachkräftemangel ist eines unserer größten Probleme. Was heißt das plastisch?

Ich habe den Eindruck, dass vielen Menschen noch nicht die Tragweite der Entwicklung bewusst ist. Aber in den kommenden Jahren werden die berühmten Babyboomer in Rente gehen. Also die geburtenstärksten Jahrgänge der letzten Jahrzehnte. Das hat für den Verlust an Fachkräften eine ganz neue Dimension. 

Inwiefern?

Wir sprechen häufig über die Symptome, wenn es in diesem oder jenem Beruf keinen Nachwuchs gibt. Dann sagen wir: Der Lehrerberuf muss attraktiver sein; wir müssen den Polizisten mehr Geld bezahlen; wir müssen es für Pflegekräfte interessanter machen. Aber der Abschied der Babyboomer wird alle Berufe und alle Branchen treffen. Industrie, Gastronomie, Handel, Pflege und eben auch das Handwerk – überall tun sich Fachkräftelücken auf. Auch weil zu wenig junge Menschen nachkommen. Am Ende ist es eine simple Rechnung, dass die Zahl der jungen Menschen nicht mehr ausreicht, um unsere Wirtschaft, wie sie ist, am Laufen zu halten.

In Zahlen: Was heißt das? 

Wir gehen davon aus, dass im Handwerk schon jetzt geschätzt rund 250.000 Stellen nicht besetzt sind. Bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von derzeit 5,7 Millionen Menschen im Handwerk, fehlen uns über den Daumen also um die vier Prozent. Schon das ist erheblich. Und das wird sich perspektivisch noch sehr deutlich erhöhen, wenn dann die Babyboomer wie beschrieben in die Rente gehen, gleichzeitig aber nicht im selben Umfang junge Leute eine Ausbildung im Handwerk machen: Denn die Auszubildenden, die uns heute fehlen, die fehlen uns morgen als Gesellen und qualifizierte Fachkräfte, übermorgen als Meisterinnen und in der weiteren Zukunft als Betriebsinhaber.

Die Folgen sind enorm – gerade für die kleineren Handwerksbetriebe, die uns die Vielfalt und die Regionalität gewährleisten. Momentan haben Handwerksbetriebe durchschnittlich fünf bis sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist nicht schwer zu erkennen, was da einbricht. Und dabei sind die Babyboomer noch lange nicht das Einzige, was uns bei der Fachkräftesicherung zu schaffen macht.   

Was noch?

Es gibt viel zu viele Jugendliche, die keinen Schulabschluss haben. Es gibt in verschiedenen Berufen noch zu wenige Frauen, und oft wählen Frauen die Teilzeit, weil Kinderbetreuung fehlt. Es gibt zu viele, die vorzeitig in Rente gehen – nicht zuletzt durch in den vergangenen Jahren hier gesetzten Anreize – was im Einzelfall sicherlich nachzuvollziehen ist, aber was wir uns, wenn wir es gesamtgesellschaftlich betrachten, eigentlich bei dem aktuell so großen Fachkräftebedarf gar nicht leisten können.

“Wir haben riesige Magneten vor die Universitäten gestellt”

Ein sehr konkretes Problem für Sie sind knapp 30.000 nicht besetzte Lehrstellen. Schon hier und heute. Woran liegt das? 

Wir haben vor mehreren Jahrzehnten gesagt: Bildung schafft Wohlstand. Damit verbanden wir das Ziel, mehr Abiturienten und mehr Akademiker auszubilden. Von 14,7 Prozent 1975 ist die Quote der Abiturienten auf fast 40 Prozent angewachsen. Und das Postulat, dass die, die Abitur machen, auch studieren, ist geblieben. Ergebnis: Wir haben Hunderttausende Studienanfänger mehr und Hunderttausende weniger in der beruflichen Bildung. Ist das gut? Ist das Postulat richtig? Nein.

Denn es zeigt sich aktuell: Was den Einzelnen betrifft, kann das mit dem Studium verbundene Aufstiegsversprechen längst nicht mehr für alle eingelöst werden. Und was unsere Gesellschaft und Wirtschaft betrifft, wird immer deutlicher, dass die Bildungsströme an den Erfordernissen von Gesellschaft und Wirtschaft vorbeifließen.  

Wie wollen Sie das ändern? 

Indem wir jungen Menschen vorleben, dass Bildung nicht zwischen akademisch und beruflich unterscheidet. Und dass dein späterer Verdienst gerade bei einem eigenen Betrieb anders aussehen kann, als du denkst. Vom Spaß an der Arbeit ganz zu schweigen. Wir brauchen die Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung. Die herzustellen, wurde versäumt. Von der Politik, aber auch von der Gesellschaft, von Eltern und Lehrern, von denen auch jetzt immer noch sehr viele das Bildungsmantra glauben: Wenn du studierst, wirst du es mal besser haben.

Das ist sehr fest in den Köpfen verankert. 

Eben. Obwohl es falsch ist. Wir haben nicht genügend darauf geachtet, Menschen tatsächlich nach ihren Talenten zu leiten, sondern wir haben riesige Magneten vor die Universitäten gestellt, mit Semesterticket und Wohnheim und kostenfreiem Studium. Für Azubis gibt es das alles kaum bis gar nicht. Selbst wenn ich ein Azubi-Ticket habe, gibt es nicht den Bus, den ich brauche, um morgens um sechs auf die Baustelle zu kommen. Ich habe kein unterstütztes Mittagessen, ich wohne bei Mutti und Vati zu Hause, weil es nicht genügend Azubi-Wohnheime gibt. Wenn man wollte, könnte man das ändern. Bislang tut es die Politik aber nicht. Was leider auch für die überbordende Bürokratie gilt, die viele abschreckt. 

Bürokratie schreckt vor der Lehre ab?

Sie schreckt vor den weiteren Schritten ab, etwa wenn es darum geht, sich selbstständig zu machen oder einen Betrieb zu übernehmen. Das ist bei Absolventinnen und Absolventen der Meister-Jahrgänge repräsentativ abgefragt worden. Und das sind ja genau die, die mit dieser Fortbildung auch das Rüstzeug an die Hand bekommen haben, um einen eigenen Betrieb zu führen. Die überwiegende Mehrheit sagt: Ich schaff’ das alles nicht, mir ist das zu viel. Und als einer der Gründe wird dann immer wieder die Angst vor der Bürokratie genannt.

“Öffentliche Hand entlohnt Meister nicht wie Bachelor”

Hat es auch mit mangelnder Anerkennung zu tun? Im öffentlichen Dienst werden Akademiker in aller Regel höher eingestuft als Handwerker. 

Meine Forderung ist nicht, dass angestellte Handwerker im öffentlichen Dienst entlohnt werden wie Ministerialdirigenten. Die Forderung lautet: Gleichwertigkeit der Abschlüsse. Faktisch steht der Bachelor auf einer Stufe mit dem Meister. Aber wenn die öffentliche Hand einen Meister anstellt, entlohnt sie ihn nicht wie einen Bachelor, obwohl der Deutsche Qualifikationsrahmen sagt: Es ist vom Qualifikationsniveau eine Stufe. Wo ist da die Gleichwertigkeit?

Gilt das auch für die Wirtschaft?

Nein. Da ist es nicht das große Thema. Statistiken zeigen: Der Meister verdient über die Lebensarbeitszeit mindestens so viel wie der Bachelor. Trotzdem schmerzt die regelmäßige Ungleichbehandlung. Deswegen fordern wir, den Deutschen Qualifikationsrahmen in ein Gesetz zu erheben. Die Schweiz hat die Gleichwertigkeit sogar in die Verfassung geschrieben.   

Was ist schiefgelaufen? 

Ich bin kein Historiker, aber auch nicht mehr 20. Früher haben viel mehr junge Leute mit einer Lehre begonnen. Sie hatte einfach eine hohe Wertschätzung, auch bei denen, die später ein Studium drangehängt haben. Es war selbstverständlicher, normaler. Ergebnis damals: Es wurden im Handwerk weit über Bedarf Menschen ausgebildet. Der Pool derer, die diese Erfahrung gemacht haben, war dadurch viel größer. Das passiert heute leider nicht mehr. 

“Berufsbilder haben sich gigantisch verändert”

Und was haben Sie im Handwerk falsch gemacht?

Wir haben nicht deutlich genug gemacht, wie sehr sich die Berufsbilder verändert haben. Kurz gesagt gigantisch. Es herrscht noch immer das Klischee vor: Als Lehrling kehrst du die Werkstatt und später arbeitest du in einem Blaumann und machst dich schmutzig. Das ist so doch nicht mehr der Fall. Ich komme selbst vom Bau. Früher gab es Mauern, Ziegel, Fensteröffnungen – und dann war das ein Haus.

Jetzt haben Sie viele Dämmschichten, dazu Windbremsen. Sie haben bauphysikalische Anforderungen an die Fenster im Neubau. Die sind nicht mehr einfach in der Öffnung drin. Sie hängen an der Fassade, mit ganz anderen statischen Aufgaben. Und jede verdammte Schraube an diesem Fenster braucht einen Nachweis, dass sie statisch in der Lage ist, das überhaupt zu halten. Ich sag’s mal so: Handwerksberufe sind heute viel interessanter und anspruchsvoller. Einer der neuesten Ausbildungsberufe ist der des Elektronikers für Gebäudesystemintegration. Allein die Berufsbezeichnung lässt doch schon erkennen, dass hier ganz sicher Hand und Kopf und die Kenntnis modernster Technologien gefragt sind.  

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung gestartet. Bringt die was? 

Die Initiative ist ein guter Anfang, aber ich würde mir wesentlich mehr Mut und Ausstattung wünschen. Im Rahmen der Exzellenzstrategie stehen Unis jährlich über 500 Millionen Euro zusätzliche Mittel zur Verfügung. Für die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung wurden bislang eher Mittel umgeschichtet, aber kaum zusätzliche Mittel bereitgestellt. Das kann doch nicht sein.

Woher kommt das Ungleichgewicht? Liegt es am Geld? An der Politik? An zu vielen, die irgendwie beteiligt sind? 

Der Witz ist: Für die berufliche Bildung ist der Bund zuständig, für die universitäre sind es die Länder. Trotzdem gibt der Bund für die Unis Milliarden und für die berufliche Bildung einen Bruchteil. Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Ich will den Hochschulen nichts wegnehmen, wir brauchen exzellente Universitäten. Aber dieses Land muss verstehen, wie wichtig die berufliche Bildung für unseren Wohlstand ist. Sie entsprechend zu stärken, das ist eine vergleichbar große Aufgabe wie die energetische Transformation der Wirtschaft. 

“Basar” bei der Mittelzuweisung

Alle in Berlin sagen: Ja, ja, wir machen das, wir geben Euch noch mal zehn Millionen. Aber dadurch ist nichts gelöst. Wir haben gekämpft wie die Löwen, um die Mittel für die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung (ÜLU) zu erhalten. Sie sollten von 70 wieder auf 59 Millionen Euro gekürzt werden.

Was da für ein Basar stattfindet. Der Wirtschaftsminister hat uns geschrieben, er würde sich nicht verweigern, wenn der Bundestag da zusätzliche Mittel gibt. Er wusste genau, dass wir entsprechend trommeln, damit das klappt. Also ist bei der ÜLU erst einmal gekürzt worden, sodass die elf Millionen dann woanders herkommen. Das ist unwürdig, das macht man nicht miteinander.

Inzwischen suchen Lehrlinge sich den Betrieb aus, nicht andersherum. Viele Schulabgänger jobben auch erstmal. Haben Ihre Kollegen das verstanden? 

Wir haben eine Million Handwerksbetriebe. Natürlich haben das nicht alle verstanden. Aber sehr sehr viele haben es und sind äußerst engagiert in der Ausbildung unterwegs. Es gilt auch hier wieder: Wir müssen es schaffen, den jungen Menschen zu zeigen, was in den Ausbildungen steckt, wieviel Spaß sie machen können und welche großen Möglichkeiten zur beruflichen, aber auch persönlichen Entfaltung und Entwicklung sie bieten.

Neben derzeit weiter knapp 30.000 unbesetzten Lehrstellen haben Sie ein weiteres Problem: Eine nicht geringe Zahl junger Menschen hat keinen oder einen schlechten Schulabschluss. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?   

Wir sprechen hier über Familien und ihren Umgang mit Bildung. Obwohl Milliardensummen in die Familienförderung fließen, gibt es da eine große Baustelle. Wir brauchen früh mehr Integration und Deutschförderung. In der frühkindlichen Betreuung hätten wir einen Hebel in der Hand. Ich habe mich lange rausgehalten, mich zu Schulen zu äußern: Jeder weiß es da besser, alle reden mit. Jetzt aber müssen wir darüber sprechen, weil die Spreizung immer größer wird.

“Wir sind nicht die Reparaturwerkstatt einer verfehlten Bildungspolitik!”

Welche Spreizung meinen Sie?

Die meisten versuchen, ihre Kinder ins Gymnasium zu bekommen. Wegen des bestehenden Bildungsmantras, aber auch, weil Gymnasien deutlich weniger als etwa Real- oder Hauptschulen mit Herausforderungen wie Inklusion, Migration, Lehrermangel, Quereinsteigern konfrontiert sind. Das wirkt sich natürlich auf die Lernsituation aus. Nach wie vor kommen rund 80 Prozent unserer Auszubildenden aus dem Schulbereich der Real- und Hauptschulen. Wir sind bereit, jedem, der es will, eine Chance zu geben. Aber wir sind nicht die Reparaturwerkstatt einer verfehlten Bildungspolitik!

Sie haben gefordert, die Politik solle es Unternehmern freistellen, Geflüchtete unbürokratisch und schnell bei sich zu integrieren, auch ohne Sprachtest oder Integrationskurs. Findet ein 18-jähriger Geflüchteter, dessen Schulkarriere unterbrochen wurde, einen Handwerksbetrieb, der ihn ausbildet? 

Da muss man realistisch sein, das halte ich für schwierig. Es geht mir darum, Geflüchtete erstmal beschäftigen zu dürfen. Wir haben in Zeiten von großer Arbeitslosigkeit Menschen über ein berufsvorbereitendes Jahr den Wiedereinstieg ermöglicht. Das könnte jetzt bei Geflüchteten ähnlich funktionieren. Auf diese Weise würde sich auch zeigen, ob sich jemand wirklich integrieren will. Und wenn sich jemand gut macht, dann kann sie oder er ja eine Ausbildung anschließen.

Auch ohne Deutschkenntnisse?

Dass man für eine erfolgreiche Ausbildung in Deutschland Deutsch sprechen können muss, steht für mich außer Zweifel. Sicher gibt es Möglichkeiten in einzelnen Betrieben, auch übers Englische was hinzubekommen. Aber wenn Sie im Service im Handwerksbetrieb sind, dann braucht der Kunde jemanden, mit dem er sich austauschen kann.

Jörg Dittrich ist seit Jahresbeginn Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Er war zuvor bereits Präsident der Handwerkskammer Dresden und des Sächsischen Handwerkstags. Der 54-Jährige ist Dachdeckermeister und führt in vierter Generation einen Familienbetrieb, daneben hat er drei weitere Baubetriebe gegründet.

Das Interview führten Stefan Braun und Anna Parrisius.

  • BMBF
  • Exzellenzinitiative Berufliche Bildung
  • Fachkräftemangel
  • Handwerk

Bildung.Table Redaktion

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Fachkräfte fehlen in allen Branchen, und werden es in Zukunft noch viel mehr. Jede Branche versucht, Nachwuchs zu gewinnen. Mehr Lehrer braucht das Land für die Bildung! Dem Gesundheitssektor droht der Kollaps! Solche Schlagzeilen sind täglich zu lesen. Und währenddessen wartet man monatelang auf einen Handwerker. Aber nicht nur der Privathaushalt braucht hier viel Geduld, auch die Handwerksbetriebe selbst, die natürlich auch unter dem Fachkräftemangel leiden und Probleme haben, junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen.

    Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, sieht hier ein riesiges Problem auf uns zurollen. Schon jetzt seien 250.000 Stellen im Handwerk unbesetzt. “Am Ende ist es eine simple Rechnung, dass die Zahl der jungen Menschen nicht mehr ausreicht, um unsere Wirtschaft, wie sie ist, am Laufen zu halten”, sagt Dittrich im Interview mit Anna Parrisius und Stefan Braun.

    Deutliche Kritik übt Dittrich dabei an der Ungleichbehandlung von Studium und Ausbildung: Es fließe viel weniger Geld in die berufliche Bildung, Meister und Bachelor seien im öffentlichen Sektor nicht gleichwertig, und in vielen Schulen würde noch immer vermittelt: “Als Lehrling kehrst du die Werkstatt und später arbeitest du in einem Blaumann und machst dich schmutzig.”

    Das Bild habe sich längst überholt. Und Jörg Dittrich ist überzeugt, dass der Fortbestand unserer Wirtschaft maßgeblich davon abhänge, wie gut es gelinge, jungen Menschen auch in der Schule zu vermitteln, dass ein Handwerksberuf heute anspruchsvoll sei – und wie viel Spaß er machen könne.

    Einen guten Start in die Woche wünscht

    Ihre
    Annette Kuhn
    Bild von Annette  Kuhn

    Analyse

    “Schon jetzt fehlen vier Prozent der Handwerker”

    Den bevorstehenden Mangel an Handwerkern sieht Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks auch als eine Folge falscher Kommunikation.

    Herr Dittrich, Fachkräftemangel ist eines unserer größten Probleme. Was heißt das plastisch?

    Ich habe den Eindruck, dass vielen Menschen noch nicht die Tragweite der Entwicklung bewusst ist. Aber in den kommenden Jahren werden die berühmten Babyboomer in Rente gehen. Also die geburtenstärksten Jahrgänge der letzten Jahrzehnte. Das hat für den Verlust an Fachkräften eine ganz neue Dimension. 

    Inwiefern?

    Wir sprechen häufig über die Symptome, wenn es in diesem oder jenem Beruf keinen Nachwuchs gibt. Dann sagen wir: Der Lehrerberuf muss attraktiver sein; wir müssen den Polizisten mehr Geld bezahlen; wir müssen es für Pflegekräfte interessanter machen. Aber der Abschied der Babyboomer wird alle Berufe und alle Branchen treffen. Industrie, Gastronomie, Handel, Pflege und eben auch das Handwerk – überall tun sich Fachkräftelücken auf. Auch weil zu wenig junge Menschen nachkommen. Am Ende ist es eine simple Rechnung, dass die Zahl der jungen Menschen nicht mehr ausreicht, um unsere Wirtschaft, wie sie ist, am Laufen zu halten.

    In Zahlen: Was heißt das? 

    Wir gehen davon aus, dass im Handwerk schon jetzt geschätzt rund 250.000 Stellen nicht besetzt sind. Bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von derzeit 5,7 Millionen Menschen im Handwerk, fehlen uns über den Daumen also um die vier Prozent. Schon das ist erheblich. Und das wird sich perspektivisch noch sehr deutlich erhöhen, wenn dann die Babyboomer wie beschrieben in die Rente gehen, gleichzeitig aber nicht im selben Umfang junge Leute eine Ausbildung im Handwerk machen: Denn die Auszubildenden, die uns heute fehlen, die fehlen uns morgen als Gesellen und qualifizierte Fachkräfte, übermorgen als Meisterinnen und in der weiteren Zukunft als Betriebsinhaber.

    Die Folgen sind enorm – gerade für die kleineren Handwerksbetriebe, die uns die Vielfalt und die Regionalität gewährleisten. Momentan haben Handwerksbetriebe durchschnittlich fünf bis sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist nicht schwer zu erkennen, was da einbricht. Und dabei sind die Babyboomer noch lange nicht das Einzige, was uns bei der Fachkräftesicherung zu schaffen macht.   

    Was noch?

    Es gibt viel zu viele Jugendliche, die keinen Schulabschluss haben. Es gibt in verschiedenen Berufen noch zu wenige Frauen, und oft wählen Frauen die Teilzeit, weil Kinderbetreuung fehlt. Es gibt zu viele, die vorzeitig in Rente gehen – nicht zuletzt durch in den vergangenen Jahren hier gesetzten Anreize – was im Einzelfall sicherlich nachzuvollziehen ist, aber was wir uns, wenn wir es gesamtgesellschaftlich betrachten, eigentlich bei dem aktuell so großen Fachkräftebedarf gar nicht leisten können.

    “Wir haben riesige Magneten vor die Universitäten gestellt”

    Ein sehr konkretes Problem für Sie sind knapp 30.000 nicht besetzte Lehrstellen. Schon hier und heute. Woran liegt das? 

    Wir haben vor mehreren Jahrzehnten gesagt: Bildung schafft Wohlstand. Damit verbanden wir das Ziel, mehr Abiturienten und mehr Akademiker auszubilden. Von 14,7 Prozent 1975 ist die Quote der Abiturienten auf fast 40 Prozent angewachsen. Und das Postulat, dass die, die Abitur machen, auch studieren, ist geblieben. Ergebnis: Wir haben Hunderttausende Studienanfänger mehr und Hunderttausende weniger in der beruflichen Bildung. Ist das gut? Ist das Postulat richtig? Nein.

    Denn es zeigt sich aktuell: Was den Einzelnen betrifft, kann das mit dem Studium verbundene Aufstiegsversprechen längst nicht mehr für alle eingelöst werden. Und was unsere Gesellschaft und Wirtschaft betrifft, wird immer deutlicher, dass die Bildungsströme an den Erfordernissen von Gesellschaft und Wirtschaft vorbeifließen.  

    Wie wollen Sie das ändern? 

    Indem wir jungen Menschen vorleben, dass Bildung nicht zwischen akademisch und beruflich unterscheidet. Und dass dein späterer Verdienst gerade bei einem eigenen Betrieb anders aussehen kann, als du denkst. Vom Spaß an der Arbeit ganz zu schweigen. Wir brauchen die Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung. Die herzustellen, wurde versäumt. Von der Politik, aber auch von der Gesellschaft, von Eltern und Lehrern, von denen auch jetzt immer noch sehr viele das Bildungsmantra glauben: Wenn du studierst, wirst du es mal besser haben.

    Das ist sehr fest in den Köpfen verankert. 

    Eben. Obwohl es falsch ist. Wir haben nicht genügend darauf geachtet, Menschen tatsächlich nach ihren Talenten zu leiten, sondern wir haben riesige Magneten vor die Universitäten gestellt, mit Semesterticket und Wohnheim und kostenfreiem Studium. Für Azubis gibt es das alles kaum bis gar nicht. Selbst wenn ich ein Azubi-Ticket habe, gibt es nicht den Bus, den ich brauche, um morgens um sechs auf die Baustelle zu kommen. Ich habe kein unterstütztes Mittagessen, ich wohne bei Mutti und Vati zu Hause, weil es nicht genügend Azubi-Wohnheime gibt. Wenn man wollte, könnte man das ändern. Bislang tut es die Politik aber nicht. Was leider auch für die überbordende Bürokratie gilt, die viele abschreckt. 

    Bürokratie schreckt vor der Lehre ab?

    Sie schreckt vor den weiteren Schritten ab, etwa wenn es darum geht, sich selbstständig zu machen oder einen Betrieb zu übernehmen. Das ist bei Absolventinnen und Absolventen der Meister-Jahrgänge repräsentativ abgefragt worden. Und das sind ja genau die, die mit dieser Fortbildung auch das Rüstzeug an die Hand bekommen haben, um einen eigenen Betrieb zu führen. Die überwiegende Mehrheit sagt: Ich schaff’ das alles nicht, mir ist das zu viel. Und als einer der Gründe wird dann immer wieder die Angst vor der Bürokratie genannt.

    “Öffentliche Hand entlohnt Meister nicht wie Bachelor”

    Hat es auch mit mangelnder Anerkennung zu tun? Im öffentlichen Dienst werden Akademiker in aller Regel höher eingestuft als Handwerker. 

    Meine Forderung ist nicht, dass angestellte Handwerker im öffentlichen Dienst entlohnt werden wie Ministerialdirigenten. Die Forderung lautet: Gleichwertigkeit der Abschlüsse. Faktisch steht der Bachelor auf einer Stufe mit dem Meister. Aber wenn die öffentliche Hand einen Meister anstellt, entlohnt sie ihn nicht wie einen Bachelor, obwohl der Deutsche Qualifikationsrahmen sagt: Es ist vom Qualifikationsniveau eine Stufe. Wo ist da die Gleichwertigkeit?

    Gilt das auch für die Wirtschaft?

    Nein. Da ist es nicht das große Thema. Statistiken zeigen: Der Meister verdient über die Lebensarbeitszeit mindestens so viel wie der Bachelor. Trotzdem schmerzt die regelmäßige Ungleichbehandlung. Deswegen fordern wir, den Deutschen Qualifikationsrahmen in ein Gesetz zu erheben. Die Schweiz hat die Gleichwertigkeit sogar in die Verfassung geschrieben.   

    Was ist schiefgelaufen? 

    Ich bin kein Historiker, aber auch nicht mehr 20. Früher haben viel mehr junge Leute mit einer Lehre begonnen. Sie hatte einfach eine hohe Wertschätzung, auch bei denen, die später ein Studium drangehängt haben. Es war selbstverständlicher, normaler. Ergebnis damals: Es wurden im Handwerk weit über Bedarf Menschen ausgebildet. Der Pool derer, die diese Erfahrung gemacht haben, war dadurch viel größer. Das passiert heute leider nicht mehr. 

    “Berufsbilder haben sich gigantisch verändert”

    Und was haben Sie im Handwerk falsch gemacht?

    Wir haben nicht deutlich genug gemacht, wie sehr sich die Berufsbilder verändert haben. Kurz gesagt gigantisch. Es herrscht noch immer das Klischee vor: Als Lehrling kehrst du die Werkstatt und später arbeitest du in einem Blaumann und machst dich schmutzig. Das ist so doch nicht mehr der Fall. Ich komme selbst vom Bau. Früher gab es Mauern, Ziegel, Fensteröffnungen – und dann war das ein Haus.

    Jetzt haben Sie viele Dämmschichten, dazu Windbremsen. Sie haben bauphysikalische Anforderungen an die Fenster im Neubau. Die sind nicht mehr einfach in der Öffnung drin. Sie hängen an der Fassade, mit ganz anderen statischen Aufgaben. Und jede verdammte Schraube an diesem Fenster braucht einen Nachweis, dass sie statisch in der Lage ist, das überhaupt zu halten. Ich sag’s mal so: Handwerksberufe sind heute viel interessanter und anspruchsvoller. Einer der neuesten Ausbildungsberufe ist der des Elektronikers für Gebäudesystemintegration. Allein die Berufsbezeichnung lässt doch schon erkennen, dass hier ganz sicher Hand und Kopf und die Kenntnis modernster Technologien gefragt sind.  

    Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung gestartet. Bringt die was? 

    Die Initiative ist ein guter Anfang, aber ich würde mir wesentlich mehr Mut und Ausstattung wünschen. Im Rahmen der Exzellenzstrategie stehen Unis jährlich über 500 Millionen Euro zusätzliche Mittel zur Verfügung. Für die Exzellenzinitiative Berufliche Bildung wurden bislang eher Mittel umgeschichtet, aber kaum zusätzliche Mittel bereitgestellt. Das kann doch nicht sein.

    Woher kommt das Ungleichgewicht? Liegt es am Geld? An der Politik? An zu vielen, die irgendwie beteiligt sind? 

    Der Witz ist: Für die berufliche Bildung ist der Bund zuständig, für die universitäre sind es die Länder. Trotzdem gibt der Bund für die Unis Milliarden und für die berufliche Bildung einen Bruchteil. Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Ich will den Hochschulen nichts wegnehmen, wir brauchen exzellente Universitäten. Aber dieses Land muss verstehen, wie wichtig die berufliche Bildung für unseren Wohlstand ist. Sie entsprechend zu stärken, das ist eine vergleichbar große Aufgabe wie die energetische Transformation der Wirtschaft. 

    “Basar” bei der Mittelzuweisung

    Alle in Berlin sagen: Ja, ja, wir machen das, wir geben Euch noch mal zehn Millionen. Aber dadurch ist nichts gelöst. Wir haben gekämpft wie die Löwen, um die Mittel für die überbetriebliche Lehrlingsunterweisung (ÜLU) zu erhalten. Sie sollten von 70 wieder auf 59 Millionen Euro gekürzt werden.

    Was da für ein Basar stattfindet. Der Wirtschaftsminister hat uns geschrieben, er würde sich nicht verweigern, wenn der Bundestag da zusätzliche Mittel gibt. Er wusste genau, dass wir entsprechend trommeln, damit das klappt. Also ist bei der ÜLU erst einmal gekürzt worden, sodass die elf Millionen dann woanders herkommen. Das ist unwürdig, das macht man nicht miteinander.

    Inzwischen suchen Lehrlinge sich den Betrieb aus, nicht andersherum. Viele Schulabgänger jobben auch erstmal. Haben Ihre Kollegen das verstanden? 

    Wir haben eine Million Handwerksbetriebe. Natürlich haben das nicht alle verstanden. Aber sehr sehr viele haben es und sind äußerst engagiert in der Ausbildung unterwegs. Es gilt auch hier wieder: Wir müssen es schaffen, den jungen Menschen zu zeigen, was in den Ausbildungen steckt, wieviel Spaß sie machen können und welche großen Möglichkeiten zur beruflichen, aber auch persönlichen Entfaltung und Entwicklung sie bieten.

    Neben derzeit weiter knapp 30.000 unbesetzten Lehrstellen haben Sie ein weiteres Problem: Eine nicht geringe Zahl junger Menschen hat keinen oder einen schlechten Schulabschluss. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?   

    Wir sprechen hier über Familien und ihren Umgang mit Bildung. Obwohl Milliardensummen in die Familienförderung fließen, gibt es da eine große Baustelle. Wir brauchen früh mehr Integration und Deutschförderung. In der frühkindlichen Betreuung hätten wir einen Hebel in der Hand. Ich habe mich lange rausgehalten, mich zu Schulen zu äußern: Jeder weiß es da besser, alle reden mit. Jetzt aber müssen wir darüber sprechen, weil die Spreizung immer größer wird.

    “Wir sind nicht die Reparaturwerkstatt einer verfehlten Bildungspolitik!”

    Welche Spreizung meinen Sie?

    Die meisten versuchen, ihre Kinder ins Gymnasium zu bekommen. Wegen des bestehenden Bildungsmantras, aber auch, weil Gymnasien deutlich weniger als etwa Real- oder Hauptschulen mit Herausforderungen wie Inklusion, Migration, Lehrermangel, Quereinsteigern konfrontiert sind. Das wirkt sich natürlich auf die Lernsituation aus. Nach wie vor kommen rund 80 Prozent unserer Auszubildenden aus dem Schulbereich der Real- und Hauptschulen. Wir sind bereit, jedem, der es will, eine Chance zu geben. Aber wir sind nicht die Reparaturwerkstatt einer verfehlten Bildungspolitik!

    Sie haben gefordert, die Politik solle es Unternehmern freistellen, Geflüchtete unbürokratisch und schnell bei sich zu integrieren, auch ohne Sprachtest oder Integrationskurs. Findet ein 18-jähriger Geflüchteter, dessen Schulkarriere unterbrochen wurde, einen Handwerksbetrieb, der ihn ausbildet? 

    Da muss man realistisch sein, das halte ich für schwierig. Es geht mir darum, Geflüchtete erstmal beschäftigen zu dürfen. Wir haben in Zeiten von großer Arbeitslosigkeit Menschen über ein berufsvorbereitendes Jahr den Wiedereinstieg ermöglicht. Das könnte jetzt bei Geflüchteten ähnlich funktionieren. Auf diese Weise würde sich auch zeigen, ob sich jemand wirklich integrieren will. Und wenn sich jemand gut macht, dann kann sie oder er ja eine Ausbildung anschließen.

    Auch ohne Deutschkenntnisse?

    Dass man für eine erfolgreiche Ausbildung in Deutschland Deutsch sprechen können muss, steht für mich außer Zweifel. Sicher gibt es Möglichkeiten in einzelnen Betrieben, auch übers Englische was hinzubekommen. Aber wenn Sie im Service im Handwerksbetrieb sind, dann braucht der Kunde jemanden, mit dem er sich austauschen kann.

    Jörg Dittrich ist seit Jahresbeginn Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Er war zuvor bereits Präsident der Handwerkskammer Dresden und des Sächsischen Handwerkstags. Der 54-Jährige ist Dachdeckermeister und führt in vierter Generation einen Familienbetrieb, daneben hat er drei weitere Baubetriebe gegründet.

    Das Interview führten Stefan Braun und Anna Parrisius.

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