zwei Ereignisse waren für das deutsche Schulsystem in den letzten 20 Jahren prägend: zum einen der Pisa-Schock von 2001, als die OECD der deutschen Schule bescheinigte, dass sie leistungsschwach und ungerecht ist. Zum anderen der Deutsche Schulpreis im Jahr 2006. Damals gewann die “Grundschule Kleine Kielstraße” in Dortmund – und anschließend reisten sogar Delegationen aus Finnland in die Dortmunder Nordstadt, um sich dort anzusehen, wie man gute Schule mit heterogenen Schülerschaften macht. Seitdem wird der Schulpreis jährlich vergeben, dotiert mit 100.000 Euro für die Siegerschule.
Aber der Schulpreis hat sich verändert. Die Zahl derer, die sich um ihn bewerben, ist rapide gesunken. Wir schauen uns in dieser Sonderausgabe den Deutschen Schulpreis genauer an. Der Kollege Niklas Prenzel hat ein Interview mit dem neuen Jury-Vorsitzenden der Bosch-Stiftung gemacht, die den Schulpreis vergibt. Thorsten Bohl aus Tübingen verrät uns, was er in Zukunft beim Schulpreis anders machen will als sein Vorgänger Michael Schratz.
Und ich habe eine der Schulen besucht, die auf der Shortlist für den Schulpreis steht, die G.E. Lessing Ganztags- und Gemeinschaftsschule in Salzwedel. Ob die tolle Lessingschule den Preis gewinnen wird, wissen wir nicht. Aber eins ist sicher: Von ihr kann das ganze Land lernen, wie man etwas gegen den Lehrermangel unternimmt. Sehr einfach – und zum Nutzen aller Beteiligten. Am Mittwoch vergibt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Preis. Aus diesem Anlass erscheinen wir an dem Tag nicht wie gewohnt um 6 Uhr, sondern am frühen Nachmittag mit allem, was Sie zur Preisverleihung wissen müssen.
Noch ein Hinweis in eigener Sache: Diese Woche beginnt die heiße Phase der Haushaltsverhandlungen – darüber sprechen wir mit Jens Brandenburg und Nadine Schön. Melden Sie sich hier für unser Table.Live-Briefing (Donnerstag, 12 bis 13 Uhr) an.
Und jetzt viel Spaß beim Lesen!
Wenn Sie eine Schule betreten: Woran erkennen Sie, ob es eine besonders gute und preiswürdige ist?
Zum Beispiel daran, wie Schüler und Lehrer einem fremden Besucher begegnen. Wenn sie sich mit der Schule identifizieren, sprechen sie dich schnell an, helfen beim Orientieren. Ich maße mir aber nicht an, zu behaupten, einen Preisträger sofort zu erkennen. Dann würde sich der ganze Auswahlprozess ja erübrigen. Ich bin Forscher und weiß, wie kompliziert Schule letztlich ist.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte dreht sich um die Frage, was guten Unterricht ausmacht. Worauf kommt es an?
Wenn die Klassenführung gut läuft, die Schüler kognitiv aktiviert und individuell gefördert werden: das sind die Basisdimensionen guten Unterrichts aus der Lehr-/Lernforschung, die in Deutschland derzeit intensiv diskutiert werden. Diesen engen Fokus kann man aber weiten. Denn Unterricht spielt sich auch außerhalb des Klassenzimmers ab. Die Schule als ganze prägt die Unterrichtsqualität sehr stark. Da geht es um Fragen wie: Kooperieren die Lehrkräfte nicht nur bei der Gestaltung des Pausenhofs, sondern bei der Förderung einzelner Schülerinnen? Entwickelt die Schulleitung über Jahre systematisch die Unterrichtsqualität weiter?
Es ist das zweite Jahr für Sie in der Schulpreis-Jury. Sehen Sie Ihre Forschungsergebnisse im Abgleich mit der bundesweiten Schulpraxis bestätigt?
Ja, die Forschung geht davon aus, dass Unterricht und Schule sehr komplex sind. Sie können nie sagen, dass aus A linear B folgt. Wenn man im Rahmen des Schulpreises zwei, drei Tage eine Schule besucht, mit Lehrern und Schülern spricht, Unterricht und Konferenzen besucht, merkt man diese Komplexität an allen Ecken und Enden. Diese vielen Fäden müssen Schulen zusammenhalten. Gute Schulen schaffen es, die Komplexität zu reduzieren und den Überblick zu bewahren. Da sehe ich die Forschung bestätigt.
Wo befruchten Erkenntnisse aus der Juryarbeit Ihre wissenschaftliche Tätigkeit?
Die Forschung beachtet noch zu selten die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern. An guten Schulen spürt man, dass sie wertschätzend und würdevoll miteinander umgehen, Kinder lachen und freuen sich, wenn sie Lehrkräfte sehen. Sie gehen gerne in die Schule. Diese Erkenntnis ist derzeit noch nicht im gleichen Maße abgebildet in der Forschung wie die drei Basisdimensionen, von denen ich eben sprach.
Der Deutsche Schulpreis startete 2006. Damals herrschte nach dem Pisa-Schock eine bildungspolitische Aufbruchsstimmung. Heute steckt die Schule in einer tiefen Krise: Lehrermangel, Corona und die Folgen, eine stockende Digitalisierung. Hat da der Preis noch die hohe Relevanz wie in den vergangenen 15 Jahren?
Ja, klar, er war nie wichtiger als jetzt! Die Schulen sind wirklich gebeutelt. Ich mache beim Deutschen Schulpreis mit, weil ich es wichtig finde, gute Schulen zu identifizieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Schul-Bashing ist leicht, das kann jeder. Mir geht es nicht nur um den Wettbewerb und die Faszination, die Schulen zu besuchen. Die Menschheit steht vor existenziellen Herausforderungen. Und wo, wenn nicht jetzt und bei der nächsten Generation, sollten wir ansetzen, um diese Herausforderung irgendwie zu bewältigen? Daher müssen wir die Schulen so gut wie möglich machen. Darum geht es beim Deutschen Schulpreis: Er trägt die guten Ideen der Preisträgerschulen durch ein riesiges Begleitprogramm auch in viele andere Schulen und bestenfalls in die Bildungspolitik hinein.
Als der Preis eingeführt wurde, bewarben sich fast 500 Schulen. Dieses Jahr sind es noch 81. Wie erklären Sie sich das?
Eine Bewerbung um den Deutschen Schulpreis ist anspruchsvoll. Hinzukommt, dass die Schulen in den vergangenen Jahren zunehmend im Stress und so damit beschäftigt sind, ihre Alltagsaufgaben zu stemmen, zum Beispiel aufgrund der schwierigen Lehrerversorgung, dass sie keine Zeit für die Bewerbung haben. Einige denken sich vielleicht auch “Wenn wir im Alltag schier nicht klarkommen, wie sollen wir dann eine Chance auf den Preis haben?”. Ich kann Schulen, die gute Arbeit leisten und sich weiterentwickeln wollen, nur zu einer Bewerbung ermuntern. Es lohnt sich.
Die regionalen Unterschiede bei den Bewerbungen sind groß: In NRW scheinen die Schulen wenig Stress zu haben, so viele bewerben sich; aus Bayern oder Brandenburg meldete sich keine einzige Schule. Woran liegt das?
Das ist auffällig und schade. Wir müssen hier aber genau hinschauen. Die absoluten Zahlen sind in den meisten Flächenländern höher, weil es dort schlicht mehr Schulen gibt. Überall im Land gibt es gute Schulen, das zeigt die Verteilung der Preisträgerschulen. Die etwas geringeren Zahlen im Osten könnte daher kommen, dass hier mehr Bescheidenheit herrscht, was sich auch bei Schulbesuchen gezeigt hat. Die relativ hohe Bewerberquote aus Nordrhein-Westfalen könnte mit der starken Reformkultur im Land zu tun haben. Das ist übrigens an sich noch kein Qualitätskriterium.
Mit der Vergabe des Schulpreises beginnt auch das neue Ausschreibungsjahr. Sie werden neuer Juryvorsitzender. Was möchten Sie anders als der bisherige Vorsitzende, Michael Schratz, machen?
Gar nicht viel. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass das komplexe Bewerbungsverfahren transparent und reibungslos abläuft. Die inhaltliche Ausgestaltung würde ich nicht an meiner Person festmachen. Das müssen wir zusammen als 50-köpfige Jury vornehmen. Es sind die besten Experten aus Wissenschaft, Schule und Verwaltung versammelt. Diskussionen auf einem so hohen fachlichen Niveau habe ich in meiner professionellen Karriere nicht erlebt!
Nicht mal auf Tagungen und Symposien?
Doch, aber nur unter Wissenschaftlern, da sind Diskussionen berechenbarer. Wenn ein Forscher ohne Praxisbezug in der finalen Jurysitzung jemanden aus der Praxis oder Verwaltung überzeugen will, kann er nicht nur mit Studienergebnissen kommen. Die argumentative Kraft und Differenziertheit der Argumente hat ein anderes Kaliber.
Da möchte man als Außenstehender gerne zuhören. Die finale Jurysitzung, wie beim Literaturpreis in Klagenfurt, also live im Fernsehen übertragen?
Nein, ich finde, es muss auch geschützte Räume geben.
Die Frage, wie Sie den Schulpreis prägen möchten, haben Sie bisher geschickt umschifft.
Ich halte den Fokus auf guten Unterricht, wie in den beiden vergangenen Jahren, für richtig. Es ist eine große Herausforderung, gute Unterrichtsqualität in den Blick zu nehmen. Du kannst ja nicht hunderte Stunden hospitieren. Daher werden wir an den Kriterien und Methoden in den nächsten Jahren weiter arbeiten. Was ich auch spannend finde: Schülerinnen und Schüler bei der Bewertung mehr einzubeziehen. Man muss investieren, um würdevolle Formate zu schaffen, in denen sie wirklich authentisch mitdiskutieren können. Auch jetzt schon befragen wir bei den Besuchen Schüler. Es ist oft faszinierend, wie druckreif sie mitdiskutieren und eine eigene Expertise über guten Unterricht entwickeln, wenn sie sich mit der Schule identifizieren.
Was bräuchte es, damit alle 40.000 Schulen in Deutschland potenziell preisverdächtig werden?
Wenn ich mich auf zwei Maßnahmen konzentrieren würde: erstens einen höheren Grundstandard. Das betrifft die Versorgung mit Lehrkräften, die Gebäude, multiprofessionelle Teams, digitale Ausstattung, Verwaltungsmenschen, aber auch Arbeitszeitmodelle, die nicht aus dem vergangenen Jahrhundert stammen. Vielerorts werden Lehrkräfte ja noch nach Unterrichtsstunde bezahlt, obwohl ihr Job viel mehr als das ist.
Und Ihr zweiter Punkt …
… betrifft die Schulleitungen. Ich kann mir keine Preisträgerschule ohne gute Schulleitung vorstellen. Ihre Wirkung merkt man nicht in einem, sondern in fünf bis zehn Jahren. Daher müssen die besten Leute den Job machen – und so unterstützt werden, dass sie sich um pädagogische Prozesse kümmern können und nicht in Verwaltungsaufgaben ersticken.
Sehen Sie einen bildungspolitischen “Wind of Change”, der in diese Richtung weht?
Nein, ich bin nicht sehr optimistisch, da müsste ich lügen. Wir investieren viel in Bildungsstandards oder zentrale Abschlussaufgaben. Das ist richtig, aber auch nur eine Facette und es gibt viele andere Aspekte. Die Lehrerversorgung wird uns noch mindestens zehn Jahre verfolgen. Da sehe ich keinen entscheidenden Hebel angesetzt.
Das klingt ernüchternd.
Die deutsche Bildungspolitik geht mit Problemen meist so um: Es wird identifiziert, man legt ein Programm für ein paar Jahre auf und dann kommt mit einer neuen Legislaturperiode ein neues Thema auf. Die Probleme sind aber nicht innerhalb einer Legislatur gelöst. Das lief bei Inklusion und Ganztagsausbau so. Der Bildungspolitik mangelt es an Problemlösestrategien. Eine echte Strategie bedeutet: Wir identifizieren ein Problem und kümmern uns so lange darum, bis es gelöst ist. Wir lassen Schulen also nicht nach dem ersten Programm allein.
Wo wir beim Thema langfristige Strategien sind: Wie viel bleibt vom großen Spektakel des Wettbewerbs eigentlich bei den teilnehmenden Schulen hängen?
Allein die Bewerbung setzt viel in Gang. Alle Beteiligten müssen sich an einen Tisch setzen und auf zehn Seiten kondensieren, was ihre Schule ausmacht und wo sie hinwill. Das Medium Schrift hat hier eine andere Kraft als eine einstündige Diskussion in der Gesamtkonferenz. Im Anschluss an den Wettbewerb profitieren die Schulen dann von zahlreichen Austauschformaten und Netzwerken des Begleitprogramms. Abgesehen davon glaube ich, dass sich von Schule zu Schule erheblich unterscheidet, was hängen bleibt. Schulen sind ständigen Veränderungen ausgesetzt. Ein Jahr nach dem Preis kommt vielleicht eine neue Schulleitung oder das Einzugsgebiet verändert sich und alles wandel sich. Man kann nicht sagen, Preisträgerschulen sind die nächsten zwanzig Jahre glücklich.
Diese Woche wird viel über den Schulpreis berichtet. Verraten Sie uns zum Schluss und als Einstimmung doch bitte schon das Innovativste, was Sie dieses Jahr gesehen haben.
Ganz radikale Beteiligung von Schülerinnen und Schülern. Sie haben einen Vormittag den Unterricht übernommen und gestaltet, auf einem sehr hohen Niveau. Außerdem haben mich Schulleitungen begeistert, die sich selbst zurücknehmen und ihr Team nach vorn stellen. In solchen Teams sprechen alle dieselbe Sprache und die Leitung sagt nur ab und zu etwas – und dann in kurzen Sätzen genau das richtige. Da steht dann nicht der eine tolle Macher, der die ganze Schule erklärt, sondern ein bescheidener, klug und sensibel agierender Profi.
Thorsten Bohl unterrichtete als Realschullehrer und ist seit 2007 Professor für Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik an der Universität Tübingen. Dort hat er seit 2015 die School of Education aufgebaut. Seit 2021 ist er Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises, deren Vorsitzender er ab der neu startenden Ausschreibung sein wird.
In Salzwedel schwärmen viele von dieser Schule. Obwohl sie gar nicht genau wissen, was dort Geheimnisvolles geschieht. Allein aber die Nominierung der Gotthold-Ephraim-Lessing-Ganztags- und Gemeinschaftsschule hat dafür gesorgt, dass sich die Schülerschaft verändert. Es melden Eltern ihre Kinder an, die sie sonst wohl nicht fast ans Ende der Ernst-Thälmann-Straße im Südosten des 20.000-Einwohnerorts geschickt hätten. Dafür gibt es viele Gründe: das Lernen in Projekten, eine gute digitale Ausstattung, junge Lehrer – und Wup.
Jeder Tag beginnt mit Wup, genauer: Warm up. Eine halbe Stunde, bevor der Unterricht richtig losgeht, können die Schüler ankommen. Helen*, 11, hat ihre Hausaufgaben vergessen. Und schreibt jetzt flugs einen Übungsbrief nach. Unweit von ihr sitzen zwei ukrainische Jungen aus Kiew. Sie sind erst seit zwei Wochen da. Sie nutzen die Wup-Stunde, um mit Wortkärtchen Deutsch zu lernen. Lisa weiß gar nicht so recht, ob sie ihre Hausaufgaben vergessen hat. Sie gehört zu jenen Schülern, von denen es nicht wenige gibt an der Lessing. Zwei Jugendheime sind im Einzugsbereich der Schule in Salzwedel (Sachsen-Anhalt). Für diese Kinder ist es gut, wenn sie morgens eine halbe Stunde beim Warm up Zeit haben, um von ihren Sorgen zu berichten. Oder sich erstmal zu sammeln. “In der Wup-Stunde überlegen sich die Schüler, ‘was ist heute für mich wichtig?’. Sie planen ihren Tag”, erklärt Florian Anderson, der Vize-Schulleiter.
Eltern, die ihre Kinder an der Lessing-Schule anmelden, wollen für ihre Kinder keinen Schulpreis. Sie wünschen sich mehr Individualität und weniger Gleichschritt; mehr Kreativität und weniger Leistungsdruck. Und ein achtsames soziales Umfeld. Dafür ist unter anderen Sozialarbeiter André Müller da. “Kinder sind nicht mehr Masse”, sagt er, der als Familienhelfer Schulen erlebt hat, die ihre Schüler in vorgefertigte Formen pressten. “Kinder werden hier sehr individuell betrachtet.”
In der Lessing-Schule bietet eine ganze Struktur Schülern Sicherheit – und Freiheit. Gerade kommt Jakob aus seinem Klassenzimmer gestürmt. Er läuft zum Biolädchen, einem Ruhe- und Pausenraum, und wirft sich auf eines der Sofas. Seine Mitschüler haben ihn gehänselt, weil er keine richtige Familie habe. Herr Müller tröstet den Jungen mit den Pflegeeltern. Später wird er mit den drei Jungs reden, die in Jakobs Klasse die Quelle des Mobbings sind. Das Herz der Schule aber ist das Projektlernen, kurz PL. Die natur- und sozialwissenschaftlichen Fächer hat Schulleiterin Heike Herrmann zu zwei Mal zwei Stunden fusioniert. Die 400 Schülerinnen und Schüler verwirklichen in PL – unter einem Oberthema – ihre eigenen Interessen und Ideen.
Wir sitzen in einer Doppelstunde des Projektlernens. Die Lehrerin erklärt, dass sich die Kinder zum Thema Mittelalter eigene Perspektiven suchen können. Sie forschen, bearbeiten, gestalten sie allein oder im Team. Ein paar erste Stichworte zum Mittelalter hatte die Lehrerin mit den Kindern bereits gesammelt. Jetzt schauen die Sechstklässler auf ihren (teuren Dell-) Laptops Mister “Wissen2go”. Mirko Drotschmann umreißt in sechs Minuten und 16 Sekunden das Mittelalter. Hinterher sprudeln die Ideen der Schüler nur so. “Mir ist aufgefallen, dass alle Häuser auf einem Haufen stehen”, sagt Simon in der Plenumsrunde. “Die Tiere haben mit den Menschen zusammen gewohnt”, ergänzt ein Mädchen. “Und Frauen, die was anderes wollten, wurden als Hexen verbrannt.”
Zwei Mädchen kümmern sich um das Thema Hygiene. Sie wollen eine Toilette nachbauen, “weil die Menschen damals nur Plumps-Klos hatten.” Nun kommen andere Fächer mit ins Spiel. Werken zum Beispiel und Physik und Biologie. Oder Sozialkunde, um die Hexenjagd zu klären. “Der Umbau der Schule ins Projektlernen war ein Lernprozess – auch für die Lehrer”, erinnert sich Heike Herrmann. Eine Lehrerin, die das freie Lernen mit entwickelt hatte, ist inzwischen von der Schule gegangen. Ihr war es zu frei geworden – obwohl die Lessing-Schule von Summerhill noch sehr weit entfernt ist. “Wir geben vier Stunden in den Fachunterricht in Mathematik, Deutsch und Englisch”, sagt Herrmann. Das ist jeweils eine mehr als das Land Sachsen-Anhalt vorschreibt. Herrmann tut das ganz bewusst, weil sie nicht nur kleine Forscher erziehen will. Sie muss die Mindeststandards im Auge behalten und die Abschlussprüfungen für den mittleren Schulabschluss, den alle Eltern für ihre Kinder wollen. Denn nur fürs Projektlernen schickt niemand sein Kind hierher.
“In den meisten Schulen wird noch wie im Gleichschritt gelernt. Aber Gleichschritt geht nicht”, sagt Herrmann. Wissen, das von vorne eingehämmert wird, sei sehr flüchtig. “Die Schüler drehen sich um und haben schon wieder vergessen, wann die Queen gekrönt wurde.” Wenn sie aber selber das Leben von Königin Elisabeth erforschen, dann bleibe viel mehr hängen. Das erlebt Herrmann jedes Mal, wenn die Schüler ihr selbst erarbeitetes Wissen vortragen. “Die Schüler sind mutig und selbstbewusst. Sie sprechen ohne Stichwortzettel, und wir staunen, was die alles herausgefunden haben”, berichtet Konrektor Anderson. Am Ende ihrer Schulzeit haben die Lessing-Schüler mindestens 24 Präsentationen gemacht. Wie wichtig das ist, merken die Lehrer immer dann, wenn in der zehnten Klasse ein Schüler vom Gymnasium zu ihnen kommt und sagt: “Ich traue mich nicht, ich habe noch nie eine eigene Präsentation gemacht.”
Das heimliche Prunkstück der Schule sind aber fünf Lehramtsstudierende, die den Bachelor schon errungen haben. Sie assistieren den Lehrern zwischen acht und zwölf Stunden. Manchmal unterrichten sie auch. Und verdienen dabei zwischen 1.200 und 1.600 Euro. Einige andere pädagogische Helfer kommen hinzu, die in der Schule lehren und lernen. “Wir sind 24 Lehrer, drei Quereinsteiger, fünf Studenten, zwei Pädagogische Mitarbeiter und ein Schulsozialarbeiter”, sagt Herrmann, wenn sie ihr Kollegium aufzählt. Mit anderen Worten: ohne die unterrichtenden StudentInnen ginge es nicht mehr.
Alina Herz ist – eher zufällig – die Erfinderin des Modells, das für Sachsen-Anhalt und Deutschland eine einfache Antwort auf das Kernproblem der deutschen Schulen sein könnte: den Lehrermangel. Die 27-jährige Referendarin hatte einst ein Praktikum bei Heike Herrmann gemacht. Als sie dann den Lehramts-Bachelor in Magdeburg absolviert hatte, erinnerte sie sich an ihre Mentorin – und klopfte an. Sie wollte wissen: Kann ich bei Dir als Bachelor-Absolventin ein paar Stunden unterrichten – und mein Honorar selber mitbringen? Sachsen-Anhalt ermöglicht es nämlich Studierenden mit einem ersten Abschluss, als befristete Lehrkräfte zu arbeiten, in Vollzeit oder Teilzeit. Die Nachwuchskräfte suchen selbst nach einer Schule, ihr Honorar zahlt das Land. Herrmann sagte sofort zu. “Die Uni war gar nicht so begeistert”, verrät Herz. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil die Professoren mit ihrer Theorie glänzen wollen – aber die Studierenden plötzlich merken, dass die Praxis genauso spannend ist.
Einer dieser Lehrer, die eigentlich noch studieren, ist Johannes Frenkel. Der 24-Jährige begann als Honorarkraft an der Lessing-Schule – und ist inzwischen ein echter, befristet angestellter Lehrer für Sport und Wirtschaft. “Für mich ist das wie ein duales Studium. Ich studiere und arbeite parallel dazu als Lehrer in der Praxis – mit Gehalt”, sagt Frenkel. “Aber auch pädagogisch ist das ein Riesen-Vorteil für mich. An der Lessing-Schule bin ich auch im Projektlernen beteiligt. Das bedeutet, ich mache praktische Erfahrungen mit einem Format des Lernens, das an der Uni noch kaum unterrichtet wird.” In Frenkels Studiengang an der Uni Magdeburg arbeitet etwa ein Viertel der Studierenden parallel an Schulen.
“Ich würde alle Lehramtsstudierenden, die den Bachelor in der Tasche haben, zum Dienst in der Schule verpflichten“, sagt Heike Herrmann. Dann könnte man Schulen, die unter dem Lehrermangel ächzen, mit jungen und oft sehr guten Lehrern in Ausbildung helfen. Die Gemeinschaftsschulen in Sachsen-Anhalt haben zum Teil nur noch eine Lehrerabdeckung von 70 Prozent. Deswegen geht das Land dazu über, die Vier-Tage-Woche zu erlauben. Das bedeutet, dass diese Schulen das Lehrangebot für ihre Schüler um 20 Prozent kürzen. Mangelbewirtschaftung des einzigen Rohstoffs, wie Politiker oft sagen, den Deutschland hat.
Alina Herz muss sich bald entscheiden. Ihr Referendariat macht die junge Frau derzeit an einem Gymnasium und an der Lessing-Gemeinschaftsschule. Wenn man sie fragt, wofür das Herz von Frau Herz schlägt, dann sagt sie: “Ganz klar, ich würde mich für diese Schule entscheiden.”
Die Ganztags- – und Gemeinschaftsschule GE Lessing ist eine von 20 Schulen, die für den deutschen Schulpreis nominiert sind. Am Mittwoch zeichnet Bundeskanzler Olaf Scholz fünf von diesen Schulen aus.
* alle Namen der Schülerinnen und Schüler geändert
Teamarbeit, diese klare Antwort gibt Dagmar Wolf, wenn man sie nach dem Erfolgsrezept einer innovativen Schule fragt. Schulen bräuchten gemeinsame Ziele, die Lehrer, Schüler und Eltern kennen und verfolgen. Jede Menge Absprachen und Kommunikation gehören dazu. “Wichtig für Schulen ist, ein Konzept zu haben und darüber beständig im Austausch zu sein”. Das biete Orientierung für Schüler. “Schulentwicklung beginnt da, wo wirklich zusammen am Unterricht gearbeitet wird!”
Dagmar Wolf leitet den Bereich Bildung bei der Robert Bosch Stiftung. Sie kennt das Universum Schule von allen Seiten: als Lehrerin, als Schulleiterin, von der Lehrerausbildung und in der Bildungsverwaltung. Im baden-württembergischen Kultusministerium war sie Referentin für politische Grundsatzfragen.
Eine Quintessenz ihrer vielen verschiedenen Rollen, die sie bisher ausgefüllt hat, ist: Schule funktioniert nur gemeinsam. “Dazu gehören auch Hospitation. Sie müssen als positive Ressource gesehen werden, was noch zu selten passiert.” Doch Schulen, die sich wirklich entwickeln wollen, würden sich an eine gemeinsame Gestaltung des Unterrichts herantrauen. Essenziell dafür seien neue und andere Arbeitszeitmodelle für Lehrer, zum Beispiel gemeinsame feste Zeiten an der Schule, in denen zusammen Unterricht vorbereitet werden kann.
Neben Teamarbeit zeichne moderne Schulen der Blick aufs Individuum und seine Lernverläufe aus. “Dafür müssen die Systeme von Assessment und Leistungsfeststellung angepasst werden.” Denn es müsse besser ermittelt werden, wie gut der Unterricht eigentlich ankommt und wo bei Schülern noch Unterstützungsbedarf besteht.
2022 zeichne der Deutsche Schulpreis sechs Schulen aus, die im Hinblick auf Schul- und Unterrichtsentwicklung besonders im Bereich von Individualisierung und Differenzierung viel leisten, sagt sie. Mit dem Preis verfolgt die Stiftung das Ziel, gute Schulen zu identifizieren und deren Praxis sichtbar zu machen. Die Konzepte sollen anschließend so aufbereitet werden, dass sie für andere Schulen hilfreich sind. So können andere Schulen an Preisträgerschulen hospitieren und sich weiterbilden – ein bundesweites Teamwork zwischen Schulen. Anouk Schlung
zwei Ereignisse waren für das deutsche Schulsystem in den letzten 20 Jahren prägend: zum einen der Pisa-Schock von 2001, als die OECD der deutschen Schule bescheinigte, dass sie leistungsschwach und ungerecht ist. Zum anderen der Deutsche Schulpreis im Jahr 2006. Damals gewann die “Grundschule Kleine Kielstraße” in Dortmund – und anschließend reisten sogar Delegationen aus Finnland in die Dortmunder Nordstadt, um sich dort anzusehen, wie man gute Schule mit heterogenen Schülerschaften macht. Seitdem wird der Schulpreis jährlich vergeben, dotiert mit 100.000 Euro für die Siegerschule.
Aber der Schulpreis hat sich verändert. Die Zahl derer, die sich um ihn bewerben, ist rapide gesunken. Wir schauen uns in dieser Sonderausgabe den Deutschen Schulpreis genauer an. Der Kollege Niklas Prenzel hat ein Interview mit dem neuen Jury-Vorsitzenden der Bosch-Stiftung gemacht, die den Schulpreis vergibt. Thorsten Bohl aus Tübingen verrät uns, was er in Zukunft beim Schulpreis anders machen will als sein Vorgänger Michael Schratz.
Und ich habe eine der Schulen besucht, die auf der Shortlist für den Schulpreis steht, die G.E. Lessing Ganztags- und Gemeinschaftsschule in Salzwedel. Ob die tolle Lessingschule den Preis gewinnen wird, wissen wir nicht. Aber eins ist sicher: Von ihr kann das ganze Land lernen, wie man etwas gegen den Lehrermangel unternimmt. Sehr einfach – und zum Nutzen aller Beteiligten. Am Mittwoch vergibt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Preis. Aus diesem Anlass erscheinen wir an dem Tag nicht wie gewohnt um 6 Uhr, sondern am frühen Nachmittag mit allem, was Sie zur Preisverleihung wissen müssen.
Noch ein Hinweis in eigener Sache: Diese Woche beginnt die heiße Phase der Haushaltsverhandlungen – darüber sprechen wir mit Jens Brandenburg und Nadine Schön. Melden Sie sich hier für unser Table.Live-Briefing (Donnerstag, 12 bis 13 Uhr) an.
Und jetzt viel Spaß beim Lesen!
Wenn Sie eine Schule betreten: Woran erkennen Sie, ob es eine besonders gute und preiswürdige ist?
Zum Beispiel daran, wie Schüler und Lehrer einem fremden Besucher begegnen. Wenn sie sich mit der Schule identifizieren, sprechen sie dich schnell an, helfen beim Orientieren. Ich maße mir aber nicht an, zu behaupten, einen Preisträger sofort zu erkennen. Dann würde sich der ganze Auswahlprozess ja erübrigen. Ich bin Forscher und weiß, wie kompliziert Schule letztlich ist.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte dreht sich um die Frage, was guten Unterricht ausmacht. Worauf kommt es an?
Wenn die Klassenführung gut läuft, die Schüler kognitiv aktiviert und individuell gefördert werden: das sind die Basisdimensionen guten Unterrichts aus der Lehr-/Lernforschung, die in Deutschland derzeit intensiv diskutiert werden. Diesen engen Fokus kann man aber weiten. Denn Unterricht spielt sich auch außerhalb des Klassenzimmers ab. Die Schule als ganze prägt die Unterrichtsqualität sehr stark. Da geht es um Fragen wie: Kooperieren die Lehrkräfte nicht nur bei der Gestaltung des Pausenhofs, sondern bei der Förderung einzelner Schülerinnen? Entwickelt die Schulleitung über Jahre systematisch die Unterrichtsqualität weiter?
Es ist das zweite Jahr für Sie in der Schulpreis-Jury. Sehen Sie Ihre Forschungsergebnisse im Abgleich mit der bundesweiten Schulpraxis bestätigt?
Ja, die Forschung geht davon aus, dass Unterricht und Schule sehr komplex sind. Sie können nie sagen, dass aus A linear B folgt. Wenn man im Rahmen des Schulpreises zwei, drei Tage eine Schule besucht, mit Lehrern und Schülern spricht, Unterricht und Konferenzen besucht, merkt man diese Komplexität an allen Ecken und Enden. Diese vielen Fäden müssen Schulen zusammenhalten. Gute Schulen schaffen es, die Komplexität zu reduzieren und den Überblick zu bewahren. Da sehe ich die Forschung bestätigt.
Wo befruchten Erkenntnisse aus der Juryarbeit Ihre wissenschaftliche Tätigkeit?
Die Forschung beachtet noch zu selten die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern. An guten Schulen spürt man, dass sie wertschätzend und würdevoll miteinander umgehen, Kinder lachen und freuen sich, wenn sie Lehrkräfte sehen. Sie gehen gerne in die Schule. Diese Erkenntnis ist derzeit noch nicht im gleichen Maße abgebildet in der Forschung wie die drei Basisdimensionen, von denen ich eben sprach.
Der Deutsche Schulpreis startete 2006. Damals herrschte nach dem Pisa-Schock eine bildungspolitische Aufbruchsstimmung. Heute steckt die Schule in einer tiefen Krise: Lehrermangel, Corona und die Folgen, eine stockende Digitalisierung. Hat da der Preis noch die hohe Relevanz wie in den vergangenen 15 Jahren?
Ja, klar, er war nie wichtiger als jetzt! Die Schulen sind wirklich gebeutelt. Ich mache beim Deutschen Schulpreis mit, weil ich es wichtig finde, gute Schulen zu identifizieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Schul-Bashing ist leicht, das kann jeder. Mir geht es nicht nur um den Wettbewerb und die Faszination, die Schulen zu besuchen. Die Menschheit steht vor existenziellen Herausforderungen. Und wo, wenn nicht jetzt und bei der nächsten Generation, sollten wir ansetzen, um diese Herausforderung irgendwie zu bewältigen? Daher müssen wir die Schulen so gut wie möglich machen. Darum geht es beim Deutschen Schulpreis: Er trägt die guten Ideen der Preisträgerschulen durch ein riesiges Begleitprogramm auch in viele andere Schulen und bestenfalls in die Bildungspolitik hinein.
Als der Preis eingeführt wurde, bewarben sich fast 500 Schulen. Dieses Jahr sind es noch 81. Wie erklären Sie sich das?
Eine Bewerbung um den Deutschen Schulpreis ist anspruchsvoll. Hinzukommt, dass die Schulen in den vergangenen Jahren zunehmend im Stress und so damit beschäftigt sind, ihre Alltagsaufgaben zu stemmen, zum Beispiel aufgrund der schwierigen Lehrerversorgung, dass sie keine Zeit für die Bewerbung haben. Einige denken sich vielleicht auch “Wenn wir im Alltag schier nicht klarkommen, wie sollen wir dann eine Chance auf den Preis haben?”. Ich kann Schulen, die gute Arbeit leisten und sich weiterentwickeln wollen, nur zu einer Bewerbung ermuntern. Es lohnt sich.
Die regionalen Unterschiede bei den Bewerbungen sind groß: In NRW scheinen die Schulen wenig Stress zu haben, so viele bewerben sich; aus Bayern oder Brandenburg meldete sich keine einzige Schule. Woran liegt das?
Das ist auffällig und schade. Wir müssen hier aber genau hinschauen. Die absoluten Zahlen sind in den meisten Flächenländern höher, weil es dort schlicht mehr Schulen gibt. Überall im Land gibt es gute Schulen, das zeigt die Verteilung der Preisträgerschulen. Die etwas geringeren Zahlen im Osten könnte daher kommen, dass hier mehr Bescheidenheit herrscht, was sich auch bei Schulbesuchen gezeigt hat. Die relativ hohe Bewerberquote aus Nordrhein-Westfalen könnte mit der starken Reformkultur im Land zu tun haben. Das ist übrigens an sich noch kein Qualitätskriterium.
Mit der Vergabe des Schulpreises beginnt auch das neue Ausschreibungsjahr. Sie werden neuer Juryvorsitzender. Was möchten Sie anders als der bisherige Vorsitzende, Michael Schratz, machen?
Gar nicht viel. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass das komplexe Bewerbungsverfahren transparent und reibungslos abläuft. Die inhaltliche Ausgestaltung würde ich nicht an meiner Person festmachen. Das müssen wir zusammen als 50-köpfige Jury vornehmen. Es sind die besten Experten aus Wissenschaft, Schule und Verwaltung versammelt. Diskussionen auf einem so hohen fachlichen Niveau habe ich in meiner professionellen Karriere nicht erlebt!
Nicht mal auf Tagungen und Symposien?
Doch, aber nur unter Wissenschaftlern, da sind Diskussionen berechenbarer. Wenn ein Forscher ohne Praxisbezug in der finalen Jurysitzung jemanden aus der Praxis oder Verwaltung überzeugen will, kann er nicht nur mit Studienergebnissen kommen. Die argumentative Kraft und Differenziertheit der Argumente hat ein anderes Kaliber.
Da möchte man als Außenstehender gerne zuhören. Die finale Jurysitzung, wie beim Literaturpreis in Klagenfurt, also live im Fernsehen übertragen?
Nein, ich finde, es muss auch geschützte Räume geben.
Die Frage, wie Sie den Schulpreis prägen möchten, haben Sie bisher geschickt umschifft.
Ich halte den Fokus auf guten Unterricht, wie in den beiden vergangenen Jahren, für richtig. Es ist eine große Herausforderung, gute Unterrichtsqualität in den Blick zu nehmen. Du kannst ja nicht hunderte Stunden hospitieren. Daher werden wir an den Kriterien und Methoden in den nächsten Jahren weiter arbeiten. Was ich auch spannend finde: Schülerinnen und Schüler bei der Bewertung mehr einzubeziehen. Man muss investieren, um würdevolle Formate zu schaffen, in denen sie wirklich authentisch mitdiskutieren können. Auch jetzt schon befragen wir bei den Besuchen Schüler. Es ist oft faszinierend, wie druckreif sie mitdiskutieren und eine eigene Expertise über guten Unterricht entwickeln, wenn sie sich mit der Schule identifizieren.
Was bräuchte es, damit alle 40.000 Schulen in Deutschland potenziell preisverdächtig werden?
Wenn ich mich auf zwei Maßnahmen konzentrieren würde: erstens einen höheren Grundstandard. Das betrifft die Versorgung mit Lehrkräften, die Gebäude, multiprofessionelle Teams, digitale Ausstattung, Verwaltungsmenschen, aber auch Arbeitszeitmodelle, die nicht aus dem vergangenen Jahrhundert stammen. Vielerorts werden Lehrkräfte ja noch nach Unterrichtsstunde bezahlt, obwohl ihr Job viel mehr als das ist.
Und Ihr zweiter Punkt …
… betrifft die Schulleitungen. Ich kann mir keine Preisträgerschule ohne gute Schulleitung vorstellen. Ihre Wirkung merkt man nicht in einem, sondern in fünf bis zehn Jahren. Daher müssen die besten Leute den Job machen – und so unterstützt werden, dass sie sich um pädagogische Prozesse kümmern können und nicht in Verwaltungsaufgaben ersticken.
Sehen Sie einen bildungspolitischen “Wind of Change”, der in diese Richtung weht?
Nein, ich bin nicht sehr optimistisch, da müsste ich lügen. Wir investieren viel in Bildungsstandards oder zentrale Abschlussaufgaben. Das ist richtig, aber auch nur eine Facette und es gibt viele andere Aspekte. Die Lehrerversorgung wird uns noch mindestens zehn Jahre verfolgen. Da sehe ich keinen entscheidenden Hebel angesetzt.
Das klingt ernüchternd.
Die deutsche Bildungspolitik geht mit Problemen meist so um: Es wird identifiziert, man legt ein Programm für ein paar Jahre auf und dann kommt mit einer neuen Legislaturperiode ein neues Thema auf. Die Probleme sind aber nicht innerhalb einer Legislatur gelöst. Das lief bei Inklusion und Ganztagsausbau so. Der Bildungspolitik mangelt es an Problemlösestrategien. Eine echte Strategie bedeutet: Wir identifizieren ein Problem und kümmern uns so lange darum, bis es gelöst ist. Wir lassen Schulen also nicht nach dem ersten Programm allein.
Wo wir beim Thema langfristige Strategien sind: Wie viel bleibt vom großen Spektakel des Wettbewerbs eigentlich bei den teilnehmenden Schulen hängen?
Allein die Bewerbung setzt viel in Gang. Alle Beteiligten müssen sich an einen Tisch setzen und auf zehn Seiten kondensieren, was ihre Schule ausmacht und wo sie hinwill. Das Medium Schrift hat hier eine andere Kraft als eine einstündige Diskussion in der Gesamtkonferenz. Im Anschluss an den Wettbewerb profitieren die Schulen dann von zahlreichen Austauschformaten und Netzwerken des Begleitprogramms. Abgesehen davon glaube ich, dass sich von Schule zu Schule erheblich unterscheidet, was hängen bleibt. Schulen sind ständigen Veränderungen ausgesetzt. Ein Jahr nach dem Preis kommt vielleicht eine neue Schulleitung oder das Einzugsgebiet verändert sich und alles wandel sich. Man kann nicht sagen, Preisträgerschulen sind die nächsten zwanzig Jahre glücklich.
Diese Woche wird viel über den Schulpreis berichtet. Verraten Sie uns zum Schluss und als Einstimmung doch bitte schon das Innovativste, was Sie dieses Jahr gesehen haben.
Ganz radikale Beteiligung von Schülerinnen und Schülern. Sie haben einen Vormittag den Unterricht übernommen und gestaltet, auf einem sehr hohen Niveau. Außerdem haben mich Schulleitungen begeistert, die sich selbst zurücknehmen und ihr Team nach vorn stellen. In solchen Teams sprechen alle dieselbe Sprache und die Leitung sagt nur ab und zu etwas – und dann in kurzen Sätzen genau das richtige. Da steht dann nicht der eine tolle Macher, der die ganze Schule erklärt, sondern ein bescheidener, klug und sensibel agierender Profi.
Thorsten Bohl unterrichtete als Realschullehrer und ist seit 2007 Professor für Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik an der Universität Tübingen. Dort hat er seit 2015 die School of Education aufgebaut. Seit 2021 ist er Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises, deren Vorsitzender er ab der neu startenden Ausschreibung sein wird.
In Salzwedel schwärmen viele von dieser Schule. Obwohl sie gar nicht genau wissen, was dort Geheimnisvolles geschieht. Allein aber die Nominierung der Gotthold-Ephraim-Lessing-Ganztags- und Gemeinschaftsschule hat dafür gesorgt, dass sich die Schülerschaft verändert. Es melden Eltern ihre Kinder an, die sie sonst wohl nicht fast ans Ende der Ernst-Thälmann-Straße im Südosten des 20.000-Einwohnerorts geschickt hätten. Dafür gibt es viele Gründe: das Lernen in Projekten, eine gute digitale Ausstattung, junge Lehrer – und Wup.
Jeder Tag beginnt mit Wup, genauer: Warm up. Eine halbe Stunde, bevor der Unterricht richtig losgeht, können die Schüler ankommen. Helen*, 11, hat ihre Hausaufgaben vergessen. Und schreibt jetzt flugs einen Übungsbrief nach. Unweit von ihr sitzen zwei ukrainische Jungen aus Kiew. Sie sind erst seit zwei Wochen da. Sie nutzen die Wup-Stunde, um mit Wortkärtchen Deutsch zu lernen. Lisa weiß gar nicht so recht, ob sie ihre Hausaufgaben vergessen hat. Sie gehört zu jenen Schülern, von denen es nicht wenige gibt an der Lessing. Zwei Jugendheime sind im Einzugsbereich der Schule in Salzwedel (Sachsen-Anhalt). Für diese Kinder ist es gut, wenn sie morgens eine halbe Stunde beim Warm up Zeit haben, um von ihren Sorgen zu berichten. Oder sich erstmal zu sammeln. “In der Wup-Stunde überlegen sich die Schüler, ‘was ist heute für mich wichtig?’. Sie planen ihren Tag”, erklärt Florian Anderson, der Vize-Schulleiter.
Eltern, die ihre Kinder an der Lessing-Schule anmelden, wollen für ihre Kinder keinen Schulpreis. Sie wünschen sich mehr Individualität und weniger Gleichschritt; mehr Kreativität und weniger Leistungsdruck. Und ein achtsames soziales Umfeld. Dafür ist unter anderen Sozialarbeiter André Müller da. “Kinder sind nicht mehr Masse”, sagt er, der als Familienhelfer Schulen erlebt hat, die ihre Schüler in vorgefertigte Formen pressten. “Kinder werden hier sehr individuell betrachtet.”
In der Lessing-Schule bietet eine ganze Struktur Schülern Sicherheit – und Freiheit. Gerade kommt Jakob aus seinem Klassenzimmer gestürmt. Er läuft zum Biolädchen, einem Ruhe- und Pausenraum, und wirft sich auf eines der Sofas. Seine Mitschüler haben ihn gehänselt, weil er keine richtige Familie habe. Herr Müller tröstet den Jungen mit den Pflegeeltern. Später wird er mit den drei Jungs reden, die in Jakobs Klasse die Quelle des Mobbings sind. Das Herz der Schule aber ist das Projektlernen, kurz PL. Die natur- und sozialwissenschaftlichen Fächer hat Schulleiterin Heike Herrmann zu zwei Mal zwei Stunden fusioniert. Die 400 Schülerinnen und Schüler verwirklichen in PL – unter einem Oberthema – ihre eigenen Interessen und Ideen.
Wir sitzen in einer Doppelstunde des Projektlernens. Die Lehrerin erklärt, dass sich die Kinder zum Thema Mittelalter eigene Perspektiven suchen können. Sie forschen, bearbeiten, gestalten sie allein oder im Team. Ein paar erste Stichworte zum Mittelalter hatte die Lehrerin mit den Kindern bereits gesammelt. Jetzt schauen die Sechstklässler auf ihren (teuren Dell-) Laptops Mister “Wissen2go”. Mirko Drotschmann umreißt in sechs Minuten und 16 Sekunden das Mittelalter. Hinterher sprudeln die Ideen der Schüler nur so. “Mir ist aufgefallen, dass alle Häuser auf einem Haufen stehen”, sagt Simon in der Plenumsrunde. “Die Tiere haben mit den Menschen zusammen gewohnt”, ergänzt ein Mädchen. “Und Frauen, die was anderes wollten, wurden als Hexen verbrannt.”
Zwei Mädchen kümmern sich um das Thema Hygiene. Sie wollen eine Toilette nachbauen, “weil die Menschen damals nur Plumps-Klos hatten.” Nun kommen andere Fächer mit ins Spiel. Werken zum Beispiel und Physik und Biologie. Oder Sozialkunde, um die Hexenjagd zu klären. “Der Umbau der Schule ins Projektlernen war ein Lernprozess – auch für die Lehrer”, erinnert sich Heike Herrmann. Eine Lehrerin, die das freie Lernen mit entwickelt hatte, ist inzwischen von der Schule gegangen. Ihr war es zu frei geworden – obwohl die Lessing-Schule von Summerhill noch sehr weit entfernt ist. “Wir geben vier Stunden in den Fachunterricht in Mathematik, Deutsch und Englisch”, sagt Herrmann. Das ist jeweils eine mehr als das Land Sachsen-Anhalt vorschreibt. Herrmann tut das ganz bewusst, weil sie nicht nur kleine Forscher erziehen will. Sie muss die Mindeststandards im Auge behalten und die Abschlussprüfungen für den mittleren Schulabschluss, den alle Eltern für ihre Kinder wollen. Denn nur fürs Projektlernen schickt niemand sein Kind hierher.
“In den meisten Schulen wird noch wie im Gleichschritt gelernt. Aber Gleichschritt geht nicht”, sagt Herrmann. Wissen, das von vorne eingehämmert wird, sei sehr flüchtig. “Die Schüler drehen sich um und haben schon wieder vergessen, wann die Queen gekrönt wurde.” Wenn sie aber selber das Leben von Königin Elisabeth erforschen, dann bleibe viel mehr hängen. Das erlebt Herrmann jedes Mal, wenn die Schüler ihr selbst erarbeitetes Wissen vortragen. “Die Schüler sind mutig und selbstbewusst. Sie sprechen ohne Stichwortzettel, und wir staunen, was die alles herausgefunden haben”, berichtet Konrektor Anderson. Am Ende ihrer Schulzeit haben die Lessing-Schüler mindestens 24 Präsentationen gemacht. Wie wichtig das ist, merken die Lehrer immer dann, wenn in der zehnten Klasse ein Schüler vom Gymnasium zu ihnen kommt und sagt: “Ich traue mich nicht, ich habe noch nie eine eigene Präsentation gemacht.”
Das heimliche Prunkstück der Schule sind aber fünf Lehramtsstudierende, die den Bachelor schon errungen haben. Sie assistieren den Lehrern zwischen acht und zwölf Stunden. Manchmal unterrichten sie auch. Und verdienen dabei zwischen 1.200 und 1.600 Euro. Einige andere pädagogische Helfer kommen hinzu, die in der Schule lehren und lernen. “Wir sind 24 Lehrer, drei Quereinsteiger, fünf Studenten, zwei Pädagogische Mitarbeiter und ein Schulsozialarbeiter”, sagt Herrmann, wenn sie ihr Kollegium aufzählt. Mit anderen Worten: ohne die unterrichtenden StudentInnen ginge es nicht mehr.
Alina Herz ist – eher zufällig – die Erfinderin des Modells, das für Sachsen-Anhalt und Deutschland eine einfache Antwort auf das Kernproblem der deutschen Schulen sein könnte: den Lehrermangel. Die 27-jährige Referendarin hatte einst ein Praktikum bei Heike Herrmann gemacht. Als sie dann den Lehramts-Bachelor in Magdeburg absolviert hatte, erinnerte sie sich an ihre Mentorin – und klopfte an. Sie wollte wissen: Kann ich bei Dir als Bachelor-Absolventin ein paar Stunden unterrichten – und mein Honorar selber mitbringen? Sachsen-Anhalt ermöglicht es nämlich Studierenden mit einem ersten Abschluss, als befristete Lehrkräfte zu arbeiten, in Vollzeit oder Teilzeit. Die Nachwuchskräfte suchen selbst nach einer Schule, ihr Honorar zahlt das Land. Herrmann sagte sofort zu. “Die Uni war gar nicht so begeistert”, verrät Herz. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil die Professoren mit ihrer Theorie glänzen wollen – aber die Studierenden plötzlich merken, dass die Praxis genauso spannend ist.
Einer dieser Lehrer, die eigentlich noch studieren, ist Johannes Frenkel. Der 24-Jährige begann als Honorarkraft an der Lessing-Schule – und ist inzwischen ein echter, befristet angestellter Lehrer für Sport und Wirtschaft. “Für mich ist das wie ein duales Studium. Ich studiere und arbeite parallel dazu als Lehrer in der Praxis – mit Gehalt”, sagt Frenkel. “Aber auch pädagogisch ist das ein Riesen-Vorteil für mich. An der Lessing-Schule bin ich auch im Projektlernen beteiligt. Das bedeutet, ich mache praktische Erfahrungen mit einem Format des Lernens, das an der Uni noch kaum unterrichtet wird.” In Frenkels Studiengang an der Uni Magdeburg arbeitet etwa ein Viertel der Studierenden parallel an Schulen.
“Ich würde alle Lehramtsstudierenden, die den Bachelor in der Tasche haben, zum Dienst in der Schule verpflichten“, sagt Heike Herrmann. Dann könnte man Schulen, die unter dem Lehrermangel ächzen, mit jungen und oft sehr guten Lehrern in Ausbildung helfen. Die Gemeinschaftsschulen in Sachsen-Anhalt haben zum Teil nur noch eine Lehrerabdeckung von 70 Prozent. Deswegen geht das Land dazu über, die Vier-Tage-Woche zu erlauben. Das bedeutet, dass diese Schulen das Lehrangebot für ihre Schüler um 20 Prozent kürzen. Mangelbewirtschaftung des einzigen Rohstoffs, wie Politiker oft sagen, den Deutschland hat.
Alina Herz muss sich bald entscheiden. Ihr Referendariat macht die junge Frau derzeit an einem Gymnasium und an der Lessing-Gemeinschaftsschule. Wenn man sie fragt, wofür das Herz von Frau Herz schlägt, dann sagt sie: “Ganz klar, ich würde mich für diese Schule entscheiden.”
Die Ganztags- – und Gemeinschaftsschule GE Lessing ist eine von 20 Schulen, die für den deutschen Schulpreis nominiert sind. Am Mittwoch zeichnet Bundeskanzler Olaf Scholz fünf von diesen Schulen aus.
* alle Namen der Schülerinnen und Schüler geändert
Teamarbeit, diese klare Antwort gibt Dagmar Wolf, wenn man sie nach dem Erfolgsrezept einer innovativen Schule fragt. Schulen bräuchten gemeinsame Ziele, die Lehrer, Schüler und Eltern kennen und verfolgen. Jede Menge Absprachen und Kommunikation gehören dazu. “Wichtig für Schulen ist, ein Konzept zu haben und darüber beständig im Austausch zu sein”. Das biete Orientierung für Schüler. “Schulentwicklung beginnt da, wo wirklich zusammen am Unterricht gearbeitet wird!”
Dagmar Wolf leitet den Bereich Bildung bei der Robert Bosch Stiftung. Sie kennt das Universum Schule von allen Seiten: als Lehrerin, als Schulleiterin, von der Lehrerausbildung und in der Bildungsverwaltung. Im baden-württembergischen Kultusministerium war sie Referentin für politische Grundsatzfragen.
Eine Quintessenz ihrer vielen verschiedenen Rollen, die sie bisher ausgefüllt hat, ist: Schule funktioniert nur gemeinsam. “Dazu gehören auch Hospitation. Sie müssen als positive Ressource gesehen werden, was noch zu selten passiert.” Doch Schulen, die sich wirklich entwickeln wollen, würden sich an eine gemeinsame Gestaltung des Unterrichts herantrauen. Essenziell dafür seien neue und andere Arbeitszeitmodelle für Lehrer, zum Beispiel gemeinsame feste Zeiten an der Schule, in denen zusammen Unterricht vorbereitet werden kann.
Neben Teamarbeit zeichne moderne Schulen der Blick aufs Individuum und seine Lernverläufe aus. “Dafür müssen die Systeme von Assessment und Leistungsfeststellung angepasst werden.” Denn es müsse besser ermittelt werden, wie gut der Unterricht eigentlich ankommt und wo bei Schülern noch Unterstützungsbedarf besteht.
2022 zeichne der Deutsche Schulpreis sechs Schulen aus, die im Hinblick auf Schul- und Unterrichtsentwicklung besonders im Bereich von Individualisierung und Differenzierung viel leisten, sagt sie. Mit dem Preis verfolgt die Stiftung das Ziel, gute Schulen zu identifizieren und deren Praxis sichtbar zu machen. Die Konzepte sollen anschließend so aufbereitet werden, dass sie für andere Schulen hilfreich sind. So können andere Schulen an Preisträgerschulen hospitieren und sich weiterbilden – ein bundesweites Teamwork zwischen Schulen. Anouk Schlung