Talk of the town
Erscheinungsdatum: 10. Juli 2025

Ringen um Richterwahl: Warum die Union in eine heikle Lage geraten ist

Die Zahl der Protestschreiben, die derzeit die Abgeordneten der Union erreichen, spricht eine eindeutige Sprache: Die Welle ist gewaltig. Eigentlich sollten an diesem Freitag im Bundestag drei Kandidaten für die frei werdenden Posten am Bundesverfassungsgericht gewählt werden, mit Zweidrittelmehrheit und im besten Fall ohne größere Dramen. Nun aber sorgt der Vorschlag der SPD, Frauke Brosius-Gersdorf zu einer obersten Richterin zu wählen, für größtmögliche Unruhe in der Union. Der Grund ist die Haltung der Juristin zu Schwangerschaftsabbrüchen.  

Früher waren Richterwahlen abgestimmte und ausbalancierte Vereinbarungen der Parteien, bei denen im Wechsel alle zum Zug kamen. Es gab mal eher linksliberale und dann wieder konservativere Richter, aber das Ganze wurde nicht zum politischen Schlachtfeld. Seit die AfD aber nur darauf wartet, eine vermeintliche Unfähigkeit der anderen Parteien zu geißeln, ist der Druck auf die Koalition groß, durch ein Scheitern jetzt nicht auch noch das Bundesverfassungsgericht durch Uneinigkeit zu beschädigen. Ob ihr das gelingt, war am Donnerstagabend offen.  

Friedrich Merz und Jens Spahn hätten um die Gefahr wissen können und haben doch nach dem Prinzip Hoffnung gehandelt. Motto: Wird schon irgendwie gut gehen. Nach Informationen von Table.Briefings kannten Spahn und sein erster PGF Steffen Bilger einige der Namen seit über zwei Wochen; trotzdem erhielt die SPD lange Zeit offenbar kein Signal, dass die Operation übermäßig schwer werden könnte. Jetzt stehen Kanzler und Unionsfraktionschef unter Druck, ein Problem zu lösen, das ihnen noch viel mehr Ärger einhandeln könnte, sollte die Abstimmung am Freitag schiefgehen.  

Klar ist: Sie stehen bei der SPD im Wort, ihre Kandidatin mitzuwählen. Noch dazu, nachdem die Sozialdemokraten ihrerseits mit viel Bauchgrimmen der Verschärfung beim Familiennachzug zugestimmt hatten. Zugleich kann man derzeit beobachten, wie hochsensibel die Fraktionen von Union und SPD aufeinander regieren. Unter Unionsabgeordneten sorgte für zusätzlichen Ärger, dass SPD-PGF Dirk Wiese die Absprache infrage stellte, dass Brosius-Gersdorf auf keinen Fall Vizepräsidentin werde. Auf Unionsseite heißt es, an der Stelle sei die Stimmung gekippt. Auf SPD-Seite dagegen wird darauf verwiesen, dass Spahn Zustimmung versprochen und sich jetzt daran zu halten habe.  

Heikel ist die Sache zuallererst für Spahn. Noch am Montag hatte er versucht, seine Fraktion zu besänftigen. Er nehme die Bedenken sehr ernst. Wer Redebedarf habe, solle sich in seiner Landesgruppe melden. Aber: Man habe sich mit der SPD nun mal geeinigt. Im Laufe der Woche aber wurde der Protest immer größer. Am Donnerstagnachmittag tauchten erste Gerüchte auf, die Abstimmung könnte auf Drängen der Union abgesetzt werden, weil man gefährlich nahe vor einer Niederlage stehe. In SPD-Kreisen wurde aber erklärt, man wolle die Abstimmung durchziehen; Spahn müsse jetzt liefern.  

Unterdessen hält sich der Kanzler raus. Als sich am Mittwochabend der geschäftsführende Fraktionsvorstand trifft, um über den Umgang mit der Lage zu beraten, ist Merz nicht dabei. Und während Spahn und seine Leute am Donnerstag versuchen, weiter auf die Abgeordneten einzureden, ist der Kanzler in Rom bei der Ukraine-Konferenz. Als er auf die bevorstehende Richterwahl angesprochen wird, sagt er lediglich, er werde am Donnerstagabend versuchen, mit Spahn zu einer „gemeinsamen Lösung“ zu kommen. Mehr nicht. 

Wie angespannt die Stimmung in der Union ist, zeigt eine Äußerung aus der Fraktion. Ein MdB sagt Table.Briefings: „Ich bin schockiert, dass die Fraktionsführung vor einer Abstimmung jetzt schon so eindringlich an den Zusammenhalt der Koalition appellieren muss. Das kann vielleicht nach zwei Jahren einer Legislatur passieren – aber nicht nach zwei Monaten. Ich werde schon von Mitarbeitern gefragt, ob sie sich auf Neuwahlen vorbereiten müssen.“ Abgeordnete werfen der Fraktionsführung vor, die Brisanz der Personalie nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Man hätte es durch frühzeitige Gespräche mit der SPD abräumen müssen, heißt es.  

An der Stelle kommt die Linke ins Spiel. Die Union hat die Gespräche mit ihr der SPD überlassen – und muss nun erkennen, dass ihr das nichts geholfen hat. In eine Sackgasse ist sie auch so geraten. Nicht vollkommen ausgeschlossen ist deshalb, dass sie das nach dieser Erfahrung doch nochmal ändert. Sollte die Richterwahl in letzter Minute abgesetzt werden oder gar scheitern, wäre das für das Verfassungsgericht noch kein Beinbruch, für die Koalition, den Kanzler und Spahn jedoch eine schwere Niederlage. Die Uhr tickt: Seit einem halben Jahr gilt neues Recht, wonach bei einem Scheitern des Bundestages, wenn er sich nicht auf Vorschläge einigen kann, das Vorschlagsrecht an den Bundesrat übergeht. Auch wenn das, wie es aktuell heißt, den Schaden nur noch größer machen würde. 

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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