Seit Jahren wird kontrovers über die Grundsicherung diskutiert. In der Tat besteht ein großer Reformbedarf. Problematisch ist erstens die komplexe Leistungsstruktur mit ihrem Nebeneinander aus Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag und separat gewährten Leistungen für Bildung und Teilhabe. Diese Leistungen setzen alle am gleichen Bedarf an. Allerdings werden sie von verschiedenen Stellen verwaltet und sehen verschiedene Regeln zur Anrechnung von eigenem Einkommen vor – ein bürokratisches Dickicht von Regelungen und Zuständigkeiten.
Da das gegenüber dem Bürgergeld vorrangige Wohngeld nur alle zwei Jahre angepasst wird, kommt es außerdem zu ständigen Pendelbewegungen zwischen den Sozialleistungen – mit Reibungsverlusten bei den Betroffenen und in der Verwaltung. Eine naheliegende Lösung wäre eine jährliche Anpassung auch beim Wohngeld sowie eine Harmonisierung der Regeln zur Einkommensanrechnung. Doch damit allein gewinnt man keinen Blumentopf. Noch besser wäre deshalb ein größerer Wurf, der das Nebeneinander von verschiedenen Sozialsystemen beseitigt: Es spricht einiges dafür, das Wohngeld und den Kinderzuschlag in das Bürgergeld zu integrieren und so als Einzelleistungen abzuschaffen.
Das zweite Problem sind die geringen Erwerbsanreize. Will man Transferleistungen auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren, sind hohe Entzugsraten unvermeidlich – vom brutto hinzuverdienten Geld bleibt netto also weniger übrig, da dann auch weniger Bürgergeld gezahlt wird. Wer arbeitet, hat zwar mehr auf dem Konto als bei Erwerbslosigkeit, auf die Arbeitsstunde gerechnet aber oft nur wenige Euro. Und auch für Transferempfänger lohnt sich mehr zu arbeiten finanziell oft kaum. Die Regelungen verhindern tendenziell also, mehr zu arbeiten. Gestaltet man den Transferentzug großzügiger, gibt es tendenziell mehr Leistungsbeziehende und die Reform wird teuer.
Allerdings lassen sich durchaus Stellschrauben finden, mit denen sich das Arbeitsangebot steigern ließe. Ifo und ZEW haben dazu in einer Studie für das BMAS einen Vorschlag vorgelegt. Er stellt sicher, dass Bürgergeld-Empfänger auch in mittleren Einkommensbereichen immer mindestens 30 Cent von jedem hinzuverdienten Euro behalten können. Dadurch könnte das Arbeitsvolumen um knapp 150.000 Vollzeitstellen steigen. Die Reform würde sich über das Mehraufkommen bei der Einkommensteuer und den Sozialversicherungsbeiträgen selbst finanzieren und keine Mehrkosten verursachen. Folgestudien haben gezeigt, dass sich diese Effekte durch eine Integration des Wohngeldes in das Bürgergeld sogar noch weiter verbessern ließen.
Auch die empirische Grundlage bei der Ermittlung der Regelbedarfe sollte verbessert werden. Der Ampel-Koalitionsvertrag hatte eine Neuberechnung des Existenzminimums von Kindern angekündigt, die aber nicht zustande kam. So beruhen die sogenannten Verteilungsschlüssel nach wie vor auf Daten und Methoden, die fast ein Vierteljahrhundert alt sind und somit nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten von heute entsprechen. Angesichts der zentralen Bedeutung der Regelbedarfe im Sozial- und Steuerrecht ist das genauso unverständlich wie die Tatsache, dass Haushalte von Allein- und Getrennterziehenden nicht in die Regelbedarfsermittlung eingehen und für ihre besonderen Bedarfe somit keine empirische Grundlage existiert.
In beiden Fällen ließe sich mit vergleichsweise geringem finanziellem Aufwand Abhilfe schaffen. Wenn nun eine solche „Neue Grundsicherung“ mit verbesserten Erwerbsanreizen eingeführt wird, gilt jedoch zu beachten, dass eine einfache Ausdehnung der bisherigen Bürgergeld-Logik auf mittlere Einkommen nicht ideal wäre. Die strenge Einzelfallprüfung wäre zu komplex für einen Einkommensbereich, in dem man Vereinfachungen für Verwaltung und Bürger anstreben sollte. Besser wäre der ganz große Wurf, der zu einem Steuer-, Sozialabgaben- und Transfersystem aus einem Guss führt. Eine solche Grundsicherung würde das Existenzminimum der Erwachsenen und Kinder einer Bedarfsgemeinschaft inklusive dem Wohnbedarf decken. Damit der Empfängerkreis nicht zu groß wird, sollte sie zu 100 Prozent mit erzieltem Erwerbseinkommen verrechnet werden.
Um dennoch positive Erwerbsanreize zu setzen, würde ein Bonus für sozialversicherungspflichtige Einkünfte gewährt, der großzügiger ausgestaltet wird als die bisherigen Erwerbstätigenfreibeträge in der Grundsicherung. Eine solche negative Einkommensteuer könnte bei abhängig Beschäftigten automatisch mit dem Lohnsteuerverfahren gewährt werden, sodass für einen großen Teil der Berechtigten das Problem der Nichtinanspruchnahme gelöst wäre. Das Bürgergeld würde dann nur noch für die untersten Einkommensgruppen gelten. Die Anspruchsvoraussetzungen wären somit deutlich einfacher und transparenter als im derzeitigen System der Vorrangprüfung.
Dieser Text ist der zweite Teil einer Reihe zur Zukunft des Sozialstaats. Den ersten Teil finden Sie hier.