Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 18. April 2024

Warum der Populismusvorwurf den Populismus stärkt

Populismus gibt es heute überall – jedenfalls wird dieser Vorwurf in den erhitzten Debatten unserer Tage ständig erhoben, gegen andere Meinungen und unliebsame Forderungen zum Beispiel. Boris Palmer, Tübinger Oberbürgermeister, argumentiert, dass die falsche Verwendung des Begriffs paradoxerweise zur Stärkung rechtsextremer Tendenzen in Teilen der Bevölkerung beitrage. Das ehemalige Mitglied der Grünen hat Ideen, was stattdessen helfen könnte, um dem echten Populismus den Nährboden zu entziehen. Mit seinem Standpunkt antwortet Palmer auf Sebastian Turners Beitrag „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Woher kommt der Aufstieg des Populismus? Meine erste und ganz einfache Antwort lautet: Weil heute alles Mögliche als Populismus verunglimpft wird, das man früher als normal bezeichnet hätte.

Das beginnt schon beim Begriff. Populismus im engeren Sinne ist der Ausschluss Andersdenkender aus der Gemeinschaft. Populisten beanspruchen für sich, den wahren Willen des Volkes alleine zu verkörpern. Diese Art von Populismus hat ohne Frage Zulauf, und sie ist gefährlich. Donald Trumps Rhetorik verdeckt das nicht einmal, er bekennt sich offen dazu und erhält dafür großen Zuspruch.

In Deutschland gibt es das zwar auch, aber doch eher in bescheidenen Ansätzen. Wenn Hubert Aiwanger Demonstranten in Erding zuruft, man wolle sich die Demokratie zurückholen, dürfte das eine Zuspitzung sein, hinter der kein totalitärer Machtanspruch steht.

Populismus im weiteren Sinn, also politische Forderungen, die dazu gedacht sind, dem Volk zu gefallen, kann man jeder demokratischen Partei vorwerfen. Es ist verständlicherweise selten, dass diese sich vornehmen, die eigene Wählerschaft an Zumutungen teilhaben zu lassen. Vor Wahlen sinkt diese Neigung noch weiter.

Bei uns wird Populismus aber mittlerweile vorwiegend als Vorwurf zur Diskreditierung unliebsamer politischer Forderungen eingesetzt. Das geschieht meist in einer Verkürzung des Wortes „Rechtspopulismus“. Populismus von Links ist praktisch keine Kategorie, wiewohl man bei näherer Betrachtung in Versprechungen paradiesischer Zustände durch Enteignung von Milliardären und immer weiterer Arbeitszeitverkürzungen sehr wohl fündig werden könnte. Der neue Juso-Vorsitzende macht sich hier verdient.

Populismus soll es mittlerweile schon sein, wenn man fordert, Asylbewerbern die Geldleistungen zu kürzen, um die Anreize, sich hier niederzulassen, zu reduzieren. Als Populismus wird gebrandmarkt, wenn man kritisiert, dass viele Menschen im unteren Einkommensbereich von ihrer Arbeit nur wenig mehr Geld übrig haben als Bürgergeldempfänger. Und Populismus ist es angeblich auch, wenn man darauf aufmerksam macht, dass der Zustrom von mittellosen Migranten einen massiven Konkurrenzdruck im Wohnungsmarkt zulasten der Menschen mit geringen Einkommen erzeugt.

Kennzeichnend für diesen auch in vielen Medien verbreiteten Populismusvorwurf ist, dass er indirekt zugesteht, dass der Sachverhalt korrekt ist. Denn als Gefahr wird ausgemacht, dass viele Menschen im Volk der Kritik, etwa an der Migrationspolitik, zustimmen könnten, nicht die Kritik an sich. Wenn der Fehler in der Diagnose liegen würde, könnte man ja zunächst daran ansetzen, ihn zu beschreiben. Doch das wäre oft schwierig bis unmöglich. Der Populismusvorwurf ist viel wirksamer, weil er den Preis dafür hoch setzt, das jeweilige Problem zu adressieren. Als Populist gebrandmarkt zu werden, kommt der Kennzeichnung als Aussätziger schon recht nah. Meist kommt der Vorwurf des Populismus auch nicht allein daher. In aller Regel folgen Rassismus und Faschismusvorwürfe auf dem Fuß. Ich habe damit über viele Jahre unangenehme Erfahrungen gemacht, kann aber zumindest behaupten, dass diese Vorwürfe bei der Mehrheit der Wählerschaft nie verfangen haben. Ich wurde trotzdem (oder deswegen?) zweimal wiedergewählt.

Der wichtigste Grund für den Aufstieg des Populismus in der öffentlichen Debatte ist meiner Meinung nach die falsche Verwendung des Begriffs. Paradoxerweise folgt daraus eine Stärkung dessen, was mit Populismusvorwürfen bekämpft werden soll: rechtsextreme Tendenzen in Teilen der Bevölkerung und im Parteienspektrum.

Das ist am besten mit dem Begriff der Reaktanz zu erfassen. Wenn man sich wieder und wieder dem Druck beugen muss, den die veröffentlichte Meinung und die Shitstormer in sozialen Medien aufbauen können, kann sich eine Trotzreaktion entwickeln: Dann sagt man eben erst recht, was man nicht sagen soll. Obsessive Sprachregulierungswünsche tragen dazu genauso bei wie die Versuche, Probleme mit Migration und Asyl zu ignorieren oder deren Diskussion zu unterbinden.

Ist das alles? Nein. Es gibt ohne Frage politische und gesellschaftliche Kräfte, die Interesse an einem Rechtsruck haben und diesen befördern. Es gibt Rechtsextreme, die eine fremdenfeindliche Gesinnung in Politik zu übersetzen versuchen. Und die AfD ist alles andere als harmlos. Aber deren Handeln und Denken ist von liberaler Seite aus nicht zu beeinflussen. Sie sind in aller Regel dem Diskurs nicht zugänglich und schrecken nicht davor zurück, demokratische Institutionen zu beschädigen. Der Ansatzpunkt, den Rechtspopulismus zurückzudrängen, kann nur bei den Kräften liegen, die daran auch ein Interesse haben. Warum sollte die AfD an ihrer eigenen Abschaffung arbeiten?

Wenn Rechtspopulismus zu verfassungsfeindlichem Rechtsextremismus wird, dann muss man ein Parteiverbot anstreben. Wenn das nicht aussichtsreich erscheint, dann muss man vor der eigenen Türe kehren. Doppelstandards waren noch nie überzeugend. Die herablassenden und in der Sache falschen Populismusvorwürfe stärken die Rechtsextremen. Denn die meisten Menschen haben wenig Zeit, die Feinheiten politischer Argumentationen zu durchdringen. Aber sie merken genau, wenn ihnen ein X für ein U vorgemacht werden soll. Wer die Lebensrealität leugnen oder verbrämen will, macht die Menschen für populistische Strategien anfällig. Und wer an sich andere Maßstäbe anlegt als andere, wird unglaubwürdig. Liberalismus muss sich gerade dann bewähren, wenn er auf illiberale Kräfte trifft.

Der Trend vieler liberaler Milieus vor allem an den Hochschulen, im Namen der „Wokeness“ eine neue Illiberalität zu praktizieren, ist aus diesem Grund hochgefährlich. Am besten wäre es, weniger über Populismus zu schimpfen und die Probleme zu lösen, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Das würde dem Populismus rasch den Nährboden entziehen.

Boris Palmer (parteilos, zuvor Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2007 Oberbürgermeister der Stadt Tübingen.

Lesen Sie hier alle bislang erschienen Beiträge der Serie „Hacking Populism“.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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