Table.Standpunkt | Strommarkt
Erscheinungsdatum: 21. September 2025

Standpunkt: „Die Stromnetze haben ein Milliardenpotenzial"

Jens Geier, Klaus Mindrup und Simon Schäfer-Stradowsky
Jens Geier, Klaus Mindrup und Simon Schäfer-Stradowsky (Privat / Verfassungsblog)

In den deutschen Stromübertragungsnetzen sind Engpässe alltäglich. Die Engpässe und ihre Überbrückung kosten die Verbraucher Milliarden. In Schweden bringen mehrere Strompreiszonen Erlöse und führen zu deutlich niedrigeren Übertragungskosten.

Engpässe in den Strom-Übertragungsnetzen lassen sich auch mit modernster Technik und hohen Investitionen nicht vollständig vermeiden – sie sind ein systemimmanentes Phänomen. Zwar können ein intelligenter Netzbetrieb und gezielte Ausbaumaßnahmen sowie ein richtiges Marktdesign Häufigkeit und Ausmaß solcher Engpässe deutlich reduzieren, doch ganz verhindern lassen sie sich nicht. 

Umso drängender stellt sich die Frage, wer die Folgekosten trägt: Sollen Verbraucherinnen und Verbraucher für etwas zahlen, das sie weder verursachen noch beeinflussen können? Oder wäre es nicht vielmehr gerechtfertigt, dass sie stärker an den sogenannten Engpass-Renten beteiligt werden und somit von den unvermeidbaren Einschränkungen im Netz auch profitieren? In anderen Staaten ist dies bereits geübte Praxis: Dort fließen deutlich höhere Erlöse aus Netzengpässen in die Netzentgelte zurück und entlasten so die Stromkundinnen und -kunden direkt – anstatt die Haushalte und den Steuerzahler mit zusätzlichen Kosten zu belasten.

Engpasserlöse entstehen, wenn die Übertragungskapazität im Stromnetz begrenzt ist und dadurch zwischen Preiszonen unterschiedliche Strompreise entstehen. Dies kann zum Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich der Fall sein oder auch innerhalb eines Staates, wie zum Beispiel zwischen den vier Preiszonen, in die der schwedische Strommarkt eingeteilt ist. Diese Erlöse werden von den Netzbetreibern vereinnahmt und dürfen gemäß der Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 ausschließlich zur Sicherstellung der zugesicherten Kapazität, zur Finanzierung von Netzmaßnahmen oder – sofern diese Zwecke erfüllt sind – zur Senkung der Netzentgelte verwendet werden. Engpasserlöse fördern damit die Netzstabilität und entlasten die Allgemeinheit.

Im Gegensatz dazu verursacht Redispatch, das vor allem in Deutschland zur Überbrückung von Netzengpässen innerhalb der deutschen Zone eingesetzt wird, erhebliche Zusatzkosten: Netzbetreiber passen kurzfristig Kraftwerksleistungen an – etwa indem im Norden Windkraft gedrosselt und gleichzeitig im Süden konventionelle Kraftwerke hochgefahren werden. Diese Eingriffe sind nicht marktlich gesteuert, teuer und werden über die Netzentgelte auf alle Verbraucher umgelegt. Damit entstehen Belastungen für die Allgemeinheit, während Knappheitssignale im Markt unsichtbar bleiben.

In Schweden ist das anders. Dort ist deutlich weniger Redispatch nötig, da der marktbezogene Anreiz besteht, die jeweilige Preiszone auszugleichen. Dafür braucht es Flexibilität, die in Schweden durch Wasserkraft und durch Verbraucher möglich wird, die mit Smart-Metern ausgerüstet sind. Und es braucht eine funktionierende  Engpassbewirtschaftung zwischen den Stromerzeugungsorten im Norden und den Industriezentren im Süden. Eine von der Agora Energiewende 2023 bei der norwegischen Beratungsfirma Thema beauftrage Studie zeigt, dass die Voraussetzungen in den nordischen Ländern und Deutschland bezüglich des Nord-Süd-Gefälles gut vergleichbar sind.  

Für 2024 weist die Bundesnetzagentur für die Bewirtschaftung der Engpässe in Deutschland mit den Nachbarländern angefallene Engpasserlöse von 1,11 Milliarden Euro aus. Gleichzeitig fielen – gegenüber dem Vorjahren gesunkene – Redispatchkosten in Höhe von rund 2,8 Milliarden Euro an (ca. 0,6 ct/kWh). Die Netzentgelte im Übertragungsnetz beliefen sich in Deutschland auf durchschnittlich 6,43 ct/kWh – einer der höchsten Werte Europas. In Schweden, wo seit 2011 vier Preiszonen bestehen, betrugen die Engpasserlöse im Jahr 2024 rund 21,4 Milliarden SEK (ca. 13 Milliarden SEK durch die Engpässe innerhalb Schwedens), das entspricht etwa 1,9 Milliarden Euro. Dieser Wert liegt deutlich über den vorherigen Erwartungen und bestätigt die hohe Bedeutung der Engpasserlöse. Die Gelder fließen vorrangig an Svenska kraftnät, den staatlichen Übertragungsnetzbetreiber, und zu einem kleinen Teil an Betreiber wie Baltic Cable. Die Übertragungskosten lagen in Schweden 2024 bei etwa 1,0 ct/kWh.

Die schwedischen Redispatchkosten für 2024 betragen umgerechnet preiswerte 32,86 Millionen Euro. Die täglichen deutschen Redispatchkosten im selben Jahr lagen bei etwa 7,67 Millionen Euro. Das bedeutet: In Deutschland fallen rechnerisch jeden Tag Redispatchkosten in Höhe von fast einem Viertel der gesamten schwedischen Jahreskosten an.

Netzengpässe: Deutschland im Minus, Schweden im Plus

Diese Daten zeigen: Deutschland verzichtet durch sein zentralisiertes Stromhandelssystem, das nicht die begrenzte Übertragungskapazität des Netzes berücksichtigt, auf erhebliche Einnahmen aus Engpasserlösen. Zudem werden die Verbraucher mit hohen Redispatchkosten belastet. Schweden hingegen erzielt mit einem zonalen Modell hohe Engpasserlöse, die zur Finanzierung des Netzes beitragen, verzeichnet deutlich niedrigere Redispatchkosten und weist folgerichtig auch geringere Übertragungskosten pro kWh auf. Die dadurch etwas erhöhten Marktpreise beim Stromhandel fallen kaum ins Gewicht. 

Um die Dimension dieser Hebelwirkung zu verdeutlichen: Der schwedische Überschuss pro Kopf aus der Differenz von Engpasserlösen in Höhe von 178€ würde, auf Deutschland mit 84 Millionen Einwohnern übertragen, Einnahmen für die Allgemeinheit in Höhe von rund 15 Milliarden Euro bedeuten. 

Dies zeigt, dass die Engpasserlöse Bestandteil der Diskussion über die Zukunft der einheitlichen Strompreiszonen wie in Deutschland oder Luxemburg sein sollten.  Trotzdem soll dieser Beitrag kein Appell für die Aufteilung Deutschlands in mehrere Strompreiszonen sein. Besser geeignet ist das sogenannte nodale Modell, das sich weltweit in vielen liberalen Energiemärkten durchgesetzt hat: Dabei fallen die Engpasserlöse – ähnlich wie in Schweden – zwischen den sogenannten Knoten an. Auch dort profitieren die Verbraucherinnen und Verbraucher davon, dass sich das Stromsystem an der physikalischen Realität orientiert. 

Der Blick auf die Engpasserlöse wirft darüber hinaus zwei Fragen auf: Zum einen, ob durch lokale Nutzung des grünen Stroms und mit einer Sektorenkopplung (H2, Wärme, Elektromobilität) der Redispatchbedarf nicht deutlich gesenkt werden könnte. Zum anderen stellt sich die Frage, ob der restriktive Ansatz der EU, die Engpasserlöse nur in den Netzausbau zu investieren, sinnvoll ist oder ob es nicht auch von Vorteil wäre, die Erlöse zur gezielten Absicherung von Wind- und Solarprojekten und deren Abnahme einzusetzen. Damit ließen sich Netzbewirtschaftungskosten senken und grenzüberschreitende erneuerbare Industriestrompreise in der EU einführen.

Jens Geier, seit 2009 Abgeordneter des EU-Parlaments, Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss (BUDG).

Klaus Mindrup, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD, arbeitet heute als unabhängiger Umweltgutachter, Experte und Berater im Bereich Erneuerbare Energien

Simon Schäfer-Stradowsky ist Geschäftsführender Vorstand des Instituts für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) in Berlin, zudem Lehrbeauftragter an der TU Berlin und hat seinen Wohnsitz in Schweden.

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Letzte Aktualisierung: 21. September 2025

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