Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 30. Mai 2024

Populisten nutzen die Leerstellen staatlichen Handelns

In den vergangenen Jahren ist eine Entfremdung zwischen Bürgern und dem Staat zu beobachten. Die Frustration über strukturelle Probleme hat längst auch Akademikerkreise erreicht. Bernd Löhmann, Chefredakteur der Zeitschrift „Die Politische Meinung“ appelliert, polarisierende Debattenstrukturen zu überwinden. Mit seinem Standpunkt antwortet Löhmann auf Sebastian Turners Beitrag „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“. Er vermutet, dass nicht die Monopolstellung der Akademiker das Problem ist, sondern dass Populisten Schwachstellen und Politikferne für sich nutzen und in diese Lücken vordringen. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Sebastian Turner nimmt an, dass „Akademikerkinder extreme Parteien groß gemacht haben“. Die These gibt zu denken: Eine „Akademikerdominanz“ ist zweifellos in Parlamenten und Verwaltungen vorhanden – allerdings nicht erst seit heute und teils aus guten Gründen, wenn man etwa an Richter denkt. So richtig, wichtig und naheliegend es erscheint, den Anteil von Nicht-Akademikern etwa in Parlamenten zu erhöhen und deren Sichtweisen verstärkt einzubeziehen, so wenig lässt sich der Auftrieb extremistischer Parteien hauptsächlich auf eine Übermacht von Akademikern – noch dazu begrenzt auf eine „zweite Generation“ – zurückführen.

Den Entfremdungseffekten zwischen Bürgern und Staat liegen unterschiedliche Ursachen zugrunde. Oben auf der Liste steht – wie es der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) kürzlich unverblümt dargelegt hat – der Vertrauensverlust gegenüber der Politik und den Politikern samt ihrem Umfeld. Politikferne ist nicht gleich Akademikerferne, diese ist allenfalls ein Teil davon. So kann das „Nicht-Benennen“ von Problemen etwa in der Migration, das Reul besonders umtreibt, kaum als eine allein akademische Unart gelten.

Nicht dass Akademiker „monopolartig an den Schaltstellen der Gesellschaft sitzen“ ist das zentrale Problem, sondern dass brisante Leerstellen staatlichen Handelns existieren, in die Populisten mühelos eindringen. Das fängt bei Lappalien an: Wer in Berlin online einen Bürgeramtstermin beantragen will, wird punktuell zum Wutbürger. Gebt mir (notfalls) den Akademiker, der den neuen Personalausweis besorgt!

Ist es wirklich „schwer vorstellbar“, dass „Einzelfragen wie Gendersprache, Heizungsverordnungen, Rundfunkabgaben oder Atomkraftabschaltung neue, opponierende Mehrheiten hervorbringen“, wie es Turner statuiert? Dazu kommen die Migrationskrise, Wohnungsnot, Inflation, wirtschaftliche Stagnation, Lehrer-, Erzieher- und sonstiger Fachkräftemangel, der Zustand der Infrastruktur und eine prokrastinierende sicherheitspolitische Zeitenwende und mehr. Man könnte sehr wohl meinen, dass dieses Schwerlastregal voller ungelöster Probleme ein Motivationsprogramm für extreme Parteien bereithält.

Für Turner ist weltfremdes „Regulierungshandeln“, das er anhand haarsträubender Beispiele farbig illustriert, ebenfalls ein Auswuchs von Akademikerferne zur Realität und Praxis. Erneut lässt sich fragen: Ist dies nicht zu eindimensional? Mir fallen noch andere Verantwortliche ein: die Apologeten eines Manager- und Prozessdenkens beispielsweise, das amerikanischen Tech-Träumen blindlings folgt und alles Mögliche bis ins Kleinste steuern und – noch – effizienter machen will.

Selbst wenn Elfenbeintürme – nicht einmal ganz zu Unrecht – zu den akademischen Klischees gehören, ist die Abkapselung der politischen Räume gewiss nicht allein den Akademikerkindern der zweiten Generation anzulasten. Vielmehr ist der Eindruck des Ausgegrenztseins längst auch in Akademikerkreisen verbreitet. Frustrationen lassen sich bis in die Ministerien hinein verfolgen, deren Führungsebenen sich mit übergroßen Stabsstellen zunehmend abschirmen und lieber von hoch bezahlten Consultingfirmen beraten lassen, als auf eigene akademische Mitarbeiter zu zählen. Zeitungsberichte über die Zweitjobs von Ministeriumsmitarbeitern, gern an Marktständen, waren schon vor Jahren zu lesen. So lässt sich vermuten, dass Abkapselung eher ein Aufstiegsphänomen von sich exklusiv gebärdenden Statusgruppen denn ein Akademikerproblem darstellt.

Zweifellos wird das In-Beziehung-Treten, wie es Turner gegen Ende seines Artikels entwickelt, zu einer zentralen Aufgabe. Nur wäre es zu kurz gegriffen, den Auftrag zu Begegnung und Austausch ausschließlich im Verhältnis von Akademikern zu Nicht-Akademikern zu suchen. Der nicht zu übersehende Vertrauensschwund zwischen dem politischen und gesellschaftlichen Raum erfordert seitens der Politik und ihres Umfelds eine umfassendere und flexiblere Ausweitung der sozialen Kreise (mit ihren konkreten Konfliktfeldern). Sie setzt – in Erkenntnis, dass weder politische Steuerung noch wissenschaftliche Forschung dies allein leisten können – eine Reflexion über die Förderung von Resonanzerfahrungen voraus (Hartmut Rosa). Dabei geht es nicht zuletzt um die Überwindung einseitiger Sender-Kommunikation, die sich appellativ an die Adressaten wendet.

Die Aufgabe des In-Beziehung-Tretens wird dadurch erschwert, dass sich polarisierende Debattenstrukturen etabliert haben. Sie aufzulösen, muss eine Kernaufgabe demokratischer Bildungseinrichtungen sein, die allerdings weitgehend verlernt haben, Auseinandersetzungen in einem hoch ideologisierten Umfeld zu bestehen. Der argumentativ aufwendige Zugangsmodus von Nähe und Distanz zu Bürgern und ihren Interessen ist bisweilen der weitaus komfortableren Bereitschaft zu bekenntnishafter Eindeutigkeit gewichen.

Turners Impuls trifft einen wunden Punkt, allerdings einen von vielen. Seine Konsequenz, die teils hermetischen Räume des Politischen zu öffnen, lohnt sich weiterzuverfolgen.

Dr. Bernd Löhmann ist Chefredakteur der Zeitschrift „Die Politische Meinung“, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben wird.

Alle Beiträge in der Reihe „Hacking Populism“ lesen Sie hier.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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