Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 25. April 2024

Lasst uns zuhören und gemeinsame Lösungen suchen!

Der Befund ist eindeutig: Die Anzahl der Akademiker und Akademikerinnen in der Gesellschaft wächst im Allgemeinen – und in der Politik im Besonderen. Wie können wir damit produktiv umgehen? Der Hochschullehrer Matthias Barth plädiert für einen neuen Blick auf die akademische Ausbildung und den Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Mit seinem Standpunkt, in dem er vier konkrete Anstöße zur Diskussion stellt, antwortet Barth auf Sebastian Turners Beitrag „Akademikerkinder, erkennt endlich euren blinden Fleck!“. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

In seinem Beitrag über die blinden Flecke der Akademikerkinder spürt Sebastian Turner Gründen für den aufkommenden Populismus und neue Oppositionen nach. Nach diesen Gründen zu suchen, sie gründlich zu verstehen, und dann Lösungen zu entwickeln, das ist wichtig und richtig. Und hier scheint die Sache klar zu sein: Es sind die Akademikerkinder der zweiten Generation. Sie alle besetzen die Schaltstellen der Gesellschaft, also müssen sie doch das Problem sein.

Eines unserer Probleme hier: Die Welt ist nicht so einfach – sie ist komplex. Bewährt hat sich in solchen Situationen, diese Komplexität durch Zuschreibungen und Einordnungen zu reduzieren. Seit jeher werden bestimmte Phänomene und typische Erscheinungen einer Gruppe oder gar Generation zugeschrieben und diese bekommt ihren Namen und damit Stempel. Babyboomer, Generation X, Y und Z oder nun eben Akademikerkinder. Aber Vorsicht: Mit Pauschalisierung arbeiten, wenn es um die Betrachtung von Phänomenen des Populismus geht – ist das ein gangbarer Weg?

Rufen wir uns nochmal einige Zahlen in Erinnerung: Eine zunehmende Akademisierung ist Lebenswirklichkeit im Deutschland des 21. Jahrhunderts – das betrifft nicht nur die politische Klasse. Die Zahl der eingeschriebenen Studierenden hat sich seit den 1960er Jahren mehr als verzehnfacht, mit ca. 2,9 Millionen Studierenden heute in Deutschland. Auch der Anteil der Studienanfängerinnen und –anfänger an der Bevölkerung (wir nennen das Studierendenquote) ist kontinuierlich gestiegen und beträgt seit 2011 regelmäßig mehr als 50 Prozent. Heute gibt es mehr Studierende als Nichtstudierende in jedem Jahrgang – zur Jahrtausendwende war das nur ein Drittel.

Vor diesem Hintergrund mag die Zahl von 55 Prozent Bundestagsabgeordneten mit Hochschulabschluss und noch einmal 16 Prozent Promovierten im aktuellen Bundestag zwar immer noch hoch, aber zumindest nicht völlig unverhältnismäßig erscheinen. Richtig ist, dass der Anteil von Abgeordneten, die keinen Studienabschluss haben im ersten Bundestag nach der Wiedervereinigung noch doppelt so hoch war wie heute. Dafür standen damals diesen 13 Prozent der Abgeordneten aber auch 27 Prozent promovierte Abgeordnete gegenüber – repräsentativ war auch diese Zusammensetzung nicht.

Die Bewertung dieser Entwicklung fällt unterschiedlich aus. Eine Analyse der Jobbörse „Indeed“ aus dem Jahr 2021 beschäftigte sich mit den Bildungsabschlüssen und beruflichen Werdegängen aller Abgeordneten des damals neu gewählten Deutschen Bundestages. Die Studie hebt hervor, dass mit durchschnittlich zwei Ausbildungsstationen pro Kopf vor der Tätigkeit im Bundestag Erfahrung und Wissen aus 1.400 Ausbildungsberufen und Studiengängen in die Politik einfließt – überraschende Lebensläufe inklusive. Kritiker bemängeln dagegen die überproportionale Vertretung einiger weniger Berufsgruppen und damit einhergehende Verzerrungen im Gesamtbild.

Der Gegensatz, den Sebastian Turner beschreibt – Akademikerkinder auf der einen Seite, der Rest der Gesellschaft auf der anderen – scheint nicht zuzutreffen. Ist nicht diese Linie eher zwischen den Wissensarbeiterinnen und Dienstleisterinnen, also den akademisch Gebildeten des tertiären Sektors auf der einen und Vertretende aller weiteren Sektoren auf der anderen Seite? Tatsache ist hier aber auch, dass die Akademisierung heute alle diese Bereiche viel stärker durchdringt. An der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde bilden wir in Bachelor- und Masterstudiengängen zukünftige Betriebsleiterinnen landwirtschaftlicher Betriebe genauso aus wie dringend benötigtes Fachpersonal für die Holzwerkstoffindustrie. Eine pauschale Zuschreibung als Akademikerin und Akademiker oder gar als Akademikerkind, wenn schon die Eltern studierten, wird der Heterogenität dieser Gruppe eher nicht gerecht.Dennoch bleibt die berechtigte Frage, wie wir damit umgehen können. Denn auch wenn das Phänomen Akademikerkind als Problembeschreibung nicht zu überzeugen vermag, so ist doch gleichzeitig eine immer stärkere Akademisierung der Gesellschaft im Allgemeinen und der politischen Klasse im Besonderen unstrittig. Welche Schlüsse können rausgezogen werden?

Ein Lösungsansatz kann es sein, wie von Sebastian Turner vorgeschlagen, dass die Akademiker ihren blinden Fleck wahrnehmen und sich daran machen, ihn mit dem Leben der anderen zu füllen. Dies ist ein Ratschlag, der sicher nicht nur für Akademikerinnen und Akademiker zielführend ist. Regelmäßig im Austausch mit Politikerinnen und Politikern genauso wie mit Praxisakteuren und Kooperationspartnern bin ich überzeugt, dass die Fähigkeit zuzuhören und sich auf ein Gespräch und die konstruktive gemeinsame Suche nach Lösungen einzulassen keine Frage des Studienabschlusses und sicher nicht in erster Linie des Elternhauses ist, sondern viel stärker mit persönlichen positiven wie auch negativen Erfahrungen und dem individuellen Werte Kompass verbunden ist. Als fundamentaler Grundwert ist es diese Fähigkeit, die Menschen und Gesellschaft zusammenhält.

Es ist klar: Wir brauchen einen anderen Blick – sowohl auf die akademische Ausbildung als auch auf den Austausch unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und das Lernen mit- und voneinander. Wie kann dies konkret aussehen? Vier konkrete Anstöße möchte ich zur Diskussion stellen.

1. Austausch auch außerhalb unserer Komfortzone

Zunächst: Wir alle müssen wollen. Dafür müssen wir raus aus der Komfort-Zone homogener Resonanzräume. Wohin diese führen, beschreibt Sebastian Turner eindrücklich für die politische Klasse. Dieser Gefahr sind aber nicht nur die Akademikerkinder im Land ausgesetzt. Walter Quattrociocchi und Kollegen zeichnen in ihrer Forschung überzeugend nach, wie getrieben durch soziale Medien sogenannte Echokammern entstehen, in denen gesellschaftliche Gruppen ihre eigenen Realitäten schaffen und sich durch inhaltliche und politische Stromlinienförmigkeit in ihrer Abgrenzung von „den anderen“ – wer auch immer dies ist – bestärken.

Wenn Sinnstiftung durch Abgrenzung stattfindet und sich diese Echokammern so weit voneinander entfernen, dass es keine Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten mehr gibt, dann ist eine produktive Auseinandersetzung, ein Ringen um Lösungen nicht mehr möglich. Diese Auseinandersetzung brauchen wir aber als Schmiermittel unserer Demokratie. Wir brauchen weniger Lautstärke und Pauschalkritiken, stattdessen Wege und Formen der Auseinandersetzung um das „wofür“ nicht das „wogegen“ – jenseits von wir versus die und unten versus oben.

2. Stärkung neuer Formen des Austauschs und der Beteiligung

Für einen solchen Austausch braucht es zweitens innovative und lösungsorientierte Austauschformate und Beteiligungsmöglichkeiten. Und zwar keine, die sich „die da oben“ ausdenken, sondern welche, die schon lange erprobt sind. Ob Town Hall Meetings in der Tradition amerikanischer Partizipationskultur, digitale Formate der Beteiligung wie die südkoreanische Plattform e-People, Zukunftskonferenzen und Ideenwettbewerbe wie beispielsweise Next Hamburg oder das von Sebastian Turner direkt angesprochene Beispiel der Bürgerräte, die Instrumente stehen bereit, sie müssen nur auch eingesetzt werden. Richtig ist aber auch: Dazu braucht es politischen Willen und Ressourcen.

Dass dies nicht zwingend an den Akademikerkindern in der Politik scheitert verdeutlicht ein Blick auf die Einführung des ersten vom Parlament beauftragten Bürgerrates („Ernährung im Wandel“). Während die Akademikerinnen und Akademiker der zweiten Generation von den Grünen und der FDP für die Einsetzung eines solchen Bürgerrats stimmten, waren es Abgeordnete wie Eckhard Pols (CDU) oder Alois Rainer und Peter Ramsauer (beide CSU), die sich dagegen aussprachen. Alle drei vertreten im Bundestag die schrumpfende Gruppe gelernter Handwerker, jener Gruppe der mehr Volksnähe und Ohr am Puls der Zeit zugeschrieben wird. Gerade dieses Instrument erscheint aber besonders vielversprechend, da es die Möglichkeit des Austausches und der Beteiligung direkt miteinander kombiniert.

3. Vielfalt statt Elitenbildung

Mit einem kritischen Blick auf die Akademisierung und die akademische Ausbildung braucht es aber auch – und damit komme ich zu meinem dritten Anstoß – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Herausbilden von Eliten. In einer zunehmend akademisierten Gesellschaft ist dies nicht eine Frage des höchsten erreichten Bildungsabschlusses. Problematisch erscheint vielmehr zweierlei: Aufstiegschancen und Vielfalt der Expertise.Ob der Bildungsweg eines jungen Menschen zu einem Hochschulabschluss führt, hängt erstens in erheblichem Maße vom Bildungshintergrund und Einkommen der Eltern ab. Ein Blick in den jährlichen OECD Bericht „Bildung auf einen Blick“ bestätigt eindrücklich, wie stark die soziale Herkunft den Zugang zu Bildung in Deutschland weiterhin prägt. Akademikerkind zu sein, spielt für die Entscheidung, selbst Akademiker zu werden, offensichtlich eine große Rolle. Für den Zugang zu „den Schaltstellen der Macht“ – sei dies in Politik, Wirtschaft oder anderswo erscheint das Kriterium Akademikerin oder Akademiker aber nicht hinreichend.Die durch die Hochschulrektorenkonferenz vertretenen 271 Hochschulen in Deutschland bieten zusammen fasst 22.000 Studiengänge auf Bachelor- und Masterniveau an. Diese Vielfalt an Ausbildungsrichtungen und Expertise spiegelt sich zweitens aber nicht im Ansatz wider, wenn die Bildungsbiographien der Entscheiderinnen und Entscheider in diesem Land betrachtet werden. Während der zu Zeiten Gerhard Schröders beliebte Vorwurf des Lehrerparlaments sich so nicht mehr halten lässt, so ist heute das Übergewicht an Juristen und Betriebswirten im Parlament mehr als offensichtlich. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in der Wirtschaft – sehen wir uns die Bildungsbiographien beispielsweise der DAX-Vorstände an. Auch wenn wir in Deutschland kein System der Kaderschmieden wie in anderen Ländern haben, so ist es doch auffällig, dass ein gutes Drittel aller deutschen DAX-Vorstände den Abschluss an einer von zehn deutschen Universitäten gemacht hat.

Gefördert werden damit im positiven Sinne enge Netzwerke Gleichgesinnter. Kritischer betrachtet entstehen aber auch so Echokammern einiger weniger Denkschulen und Ausbildungswege. Die Vielfalt an Sichtweisen oder Lösungsansätzen wird hierdurch sicher nicht gefördert.

4. Neue Wege in der Hochschulbildung

Dies bringt mich zu meinem vierten und letzten Punkt. Wir benötigen neue Anstöße und Entwicklungen in der akademischen Ausbildung. Wenn an Hochschulen in diesem Land die Entscheiderinnen und Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausgebildet werden, dann braucht es in den Curricula mehr als die Vermittlung von Fachwissen. Es geht auch und gerade um Kompetenzen zum gestaltenden Handeln mit und in der Gesellschaft, um Persönlichkeitsbildung und Verantwortung.

Die Anfänge sind hier gemacht, auch wenn sie offensichtlich in der Breite noch nicht so wahrgenommen werden. Neben einer zunehmenden Zahl von Studienangeboten mit ausbildungs- oder praxisintegrierter Ausrichtung werden Studierende immer häufiger bereits frühzeitig mit Praxis- und Kooperationspartnern aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammengebracht. Transdisziplinäre Projekte, in denen Studierende mit nicht-akademischen Akteuren und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen an Lösungen arbeiten, und Reallabore als neue Form der Kooperation zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, bei der das gegenseitige Lernen in einem experimentellen Umfeld im Vordergrund steht, sind nur zwei exemplarische Umsetzungen hier. Diese neuen Formate weiter zu implementieren und zum Normalfall einer auf Gestaltungsfähigkeit in der Gesellschaft ausgerichteten Hochschulbildung zu etablieren, ist nun die Aufgabe der Hochschulen.

Wenn diese Formate von einer Neujustierung der Bildungsziele ergänzt werden, in der neben Fachwissen auch Aspekte wie gesellschaftliche Verantwortung Berücksichtigung finden und in der gesellschaftliche Leitmotive wie beispielsweise Nachhaltigkeit als Orientierung dienen, dann wird sich eine solche Veränderung in der Hochschulbildung in der Fähigkeit ihrer Absolventinnen und Absolventen, sich in die gesellschaftliche Entwicklung einzubringen und diese mitzugestalten, niederschlagen. Erste Initiativen und ernsthafte Ansätze sind da und Studierende wie Hochschullehrende unterschiedlichster Hochschulen fordern dies zunehmend ein und setzen dies gemeinsam um. Initiativen wie Hochschultransformation Jetzt! eine Initiative von Alumni des Jahresprogramm „Hochschullehre im Kontext von Nachhaltigkeit" der Stiftung Innovation in der Hochschullehre (StIL), die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen oder das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ zeugen hiervon eindrücklich.

Professor Dr. Matthias Barth ist ein deutscher Umweltwissenschaftler und seit 2021 Präsident der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

Alle Beiträge der Serie „Hacking Populism“ lesen Sie hier.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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