Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 02. Mai 2024

Juristen, überwindet das technokratische Denken! 

Viele Bürgerinnen und Bürger erleben den Staat als dysfunktional oder regulierungswütig. In besonderer Weise mitverantwortlich sind Juristinnen und Juristen, die in Deutschland zentrale Schalthebel der Macht besetzen. Moritz Baumann kritisiert, dass sich der Berufsstand einer grundlegenden Reflexion verweigert, die in der eigenen Ausbildung beginnen müsste. Skepsis gegenüber den herrschenden Eliten sei auch die Folge einer juristischen Ausbildung, die technokratisches Denken zementiert, argumentiert er in seinem Standpunkt. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Wer das Großphänomen des autoritären Populismus verstehen will, sollte sich mit wachem Blick den Erfahrungen im Kleinen widmen. Es sind unscheinbare Begegnungen im Alltag, beim Ausfüllen der Steuererklärung, bei der endlosen Suche nach einem Kitaplatz, beim Zerren um die Arbeitserlaubnis für einen ausländischen Mitarbeiter, in denen der Staat an Vertrauen verliert. Vielfach erleben die Bürger diesen wahlweise als dysfunktional oder regulierungswütig, während sie genau registrieren, wie der gleiche Staat an anderer Stelle überfordert, ja gar machtlos ist. Der Rückzug der CumEx-Anklägerin Anne Brorhilker aus dem Staatsdienst, die jüngst genau diese Machtlosigkeit gegenüber den Exzessen globaler Finanzjongleure beschrieben hat, ist nur ein Beispiel.

Die Folge dieser Dissonanz ist Entfremdung. Nur noch knapp 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger vertrauen den staatlichen Institutionen, wie die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2023 zeigt. Eine unterschätzte, gern ausgeblendete Ursache ist das Phänomen einer Klasse perfekter Technokraten, die mehr und mehr Einfluss auf das Regierungshandeln nimmt, wie es die Demokratieforscher Armin Schäfer und Michael Zürn in ihrem Buch „Die demokratische Regression“ beschreiben.

In Deutschland sind es besonders Juristinnen und Juristen, die zentrale Schalthebel der Macht besetzen, in Verwaltung, Verbänden, Unternehmen und Parlamenten. Sie sind mitverantwortlich für die Elitenskepsis, doch verweigern sie sich bisher einer Reflexion, die in ihrer eigenen Ausbildung beginnen müsste. Eine Ausbildung, die genau jene technokratische Denkweise schult, die dem Populismus Auftrieb gibt.

Sebastian Turner hat im Auftakt zu dieser Serie beschrieben, dass vor allem Nicht-Akademiker unter immer neuer rechtlicher Regulierung des Gemeinwesens leiden. Er spricht sich für eine „gründliche Vereinfachung des Staatswesens“ aus, was Johannes Meier mit einem Impuls in Richtung eleganter Regulierungsarchitektur unterfüttert hat. Unbedingt! Doch werden die guten Ansätze genauso scheitern wie ein 27. Bürokratieentlastungsgesetz, wenn sich die grundsätzliche Denkweise der Juristen – als dominante Staatsgestalter – nicht verändert.

Kritisch äußerte sich dazu jüngst der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts: In der Verwaltung dominiere ein „übertriebenes Sicherheitsdenken“, eine Angst, die in Deutschland in einer „stark von Juristen dominierten Verwaltung“ besonders prägnant sei, schrieb Andreas Voßkuhle im Februar in der FAZ und plädierte für einen Mentalitätswechsel. Wir sollten damit in den juristischen Fakultäten beginnen.

In unzähligen Fallbearbeitungen, über Jahre hinweg, lernen wir Studierende, ganz alltägliche Situationen – ob im Supermarkt oder auf dem Amt – zu abstrahieren und in Rechtsbegriffe zu übersetzen, die es ermöglichen Konflikte anhand der Gesetze zu entscheiden. Bis zum Staatsexamen eine maschinelle Routine – in jeder Vorlesung, jeder Arbeitsgruppe und natürlich im Examen. Prüfungsfragen, die immer dem gleichen Muster folgen, einen immer gleichen Antwortstil erfordern und das schematische Denken zementieren.

Es ist – und das ist die Misere – ein unfassbar enges intellektuelles Korsett, in dem der juristische Nachwuchs ausgebildet wird. Ein Korsett, das die Justizprüfungsämter festlegen und dem die sonst so selbstbewussten Professorinnen und Professoren wenig entgegensetzen. So wie heute gelehrt wird, ist das juristische Studium kein wissenschaftliches Studium. Es ist eine Massenabfertigung, überwiegend bestimmt durch die Bedürfnisse von Justiz und Verwaltung, ausgerichtet auf die Ausbildung zum braven Rechtsanwender.

International genießt die Ausbildung durchaus hohes Ansehen, weil sie zentrale Fähigkeiten schult: Abstraktionsvermögen, einen regelgeleiteten Zugang zur Auslegung von Rechtsnormen und einen breiten Überblick über das materielle Recht. Doch die Eindimensionalität hat ihren Preis, nicht zuletzt für uns als Gesellschaft.

Das maschinelle Falllösen verengt den Blick angehender Anwälte, Richter und Ministerialbeamte. Statt die Freiheit des Denkens zu fördern, wird eine normzentrierte positivistische Denkweise kultiviert, die die sozialen Bezüge des Rechts ausblendet. Nur kann das Recht niemals unpolitisch sein, irgendwie losgelöst von der Gesellschaft, weshalb die Arbeit der Juristen auch nicht mit der Verkündung einer neuen Verordnung endet. Sie müssen sich auch für deren praktische Umsetzung, die Vermittlung und den Vollzug verantwortlich fühlen, was Fähigkeiten erfordert, die die Ausbildung völlig ausblendet.

So wäre – auch unter examinierten Juristinnen und Juristen – mehr Demut mit Blick auf die Grenzen des eigenen Fachs angebracht. Die juristische Methode ist wertvoll und doch unzureichend, wenn es um die Lösung gesellschaftlicher Konflikte geht. Doch schon in der Ausbildung weichen, allein wegen der erschlagenden Stoffmasse, nur wenige Studierende freiwillig vom Studienverlaufsplan ab, um etwa einen Blick in die Soziologie, die Volkswirtschaftslehre oder die Informatik zu werfen.

An den Fakultäten verkümmert das Kreative, das Interdisziplinäre, vor allem aber die Fähigkeit zur Rechtskritik. Wer beginnt, feinere Gedanken zu denken, werde „glattgehobelt“. So beschrieb Marietta Auer, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, die Ausbildungspraxis 2021 in einem lesenswerten Interview. Das eingeübte stromlinienförmige Denken formt den technokratischen Juristentypus, führt zu realitätsferner Regulierung und immer neuen Detailregelungen, die das Technokratenherz erfreuen, große Teile der Bevölkerung aber mit einem Kopfschütteln zurücklassen. Ein guter Nährboden für den Populismus.

Sollten wir nicht besser eigenständig denkende Juristen ausbilden, die mutig die Reformen des Gemeinwesens vorantreiben? Natürlich gibt es die brillanten, weitsichtigen Juristinnen und Juristen. Doch die antiquierte Ausbildung befördert eher Stagnation als innovative Weiterentwicklung des Rechts. Pfadabhängigkeiten werden nicht durchbrochen, viele juristische Debatten verheddern sich in Mikroproblemen, die die Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger verfehlen.

Verordnungswucher, jahrelange Antragsverfahren, Dokumentations- und Nachweispflichten: „Manch ein Kleinunternehmer muss mehr Rechtsgebiete – vom Arbeitsrecht bis zum Umweltrecht – überblicken als ein gefeierter Anwalt“, so das Fazit von Wolfgang Schön, Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht. Die Ordnungskapazität des Rechts, die eigentlich eine dienende Funktion haben soll, wird überstrapaziert. Schön nennt das den „ Regulierungsbankrott “, der nicht zuletzt Ausdruck der Selbsterhaltung des eigenen Berufsstands ist.

Nicht nur immer mehr Unternehmen benötigen juristische Beratung, auch die Ministerien selbst vergeben Rechtsgutachten im großen Stil. Das erhöht den Cashflow der großen Wirtschaftskanzleien – aber sicherlich nicht die Bereitschaft, „konstruktiv zu vereinfachen“, wie es Johannes Meier fordert.

Die Gefahren technokratischer Herrschaft hat eindrucksvoll Michael Sandel, Professor für Philosophie an der Harvard Law School, beschrieben: Die Dominanz der Technokraten ersticke die Demokratie. Bei den Bürgern, so seine Diagnose, breite sich ein Gefühl politischer Ohnmacht aus; eine unbequeme Erkenntnis, die auch der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow benennt : „Der Populismus ist Produkt einer liberalen Demokratie, die sich sukzessive entdemokratisiert hat. Er ist nicht Gegner des Liberalismus, sondern sein Gespenst.“

‚Die da oben‘ ist Ausdruck dieser Ohnmacht. Die Skeptischen wenden sich von der repräsentativen Demokratie und ihren Institutionen ab. Das Band zwischen Regierenden und Regierten bricht. Statt jedoch mit aller Kraft das „Wir“ wiederzubeleben, nutzt ein nicht kleiner Teil der politischen Elite dieses Vakuum, um ungestört technokratisch Politik zu betreiben. Es ist fatal, wenn die politische Klasse die Bürger derart unterschätzt.

Statt die Bürgerinnen und Bürger systematisch zu demobilisieren, was Olaf Scholz als Bundeskanzler zum Politikmodell erhoben hat, müssten abseits technischer Details, die viele Menschen vom Diskurs ausschließen, wieder Fundamentalauseinandersetzungen geführt werden. Echter demokratischer Streit über fundamentale Fragen – über die Macht globaler Konzerne, Vermögensungleichheit, das Bildungswesen, Klimagerechtigkeit – Politik eben.

Den Juristen ist mit dem Recht ein mächtiges Werkzeug an die Hand gegeben, mit dem sich, richtig eingesetzt, der Populismus zurückdrängen lässt. Das setzt allerdings eine kritische Reflexion eigener Denkroutinen voraus. Leider verfehlen die Debatten über eine Reform des Jurastudiums konsequent den Kern des Problems. Da wird aufgeregt über die Einführung eines ‚Bachelor of Laws‘ als Ergänzung zum Staatsexamen oder Ruhetage im Examen diskutiert, während das Grundübel, dass viele Fakultäten in der Lehre derzeit vor allem eine verlängerte Werkbank von Verwaltung und Justiz sind, kaum Beachtung findet. Doch darum geht es: das Selbstverständnis und der Anspruch, ein wissenschaftliches Studium zu sein.

Der alles entscheidende Hebel ist es, den Pflichtstoff zu reduzieren und neu zu sortieren. Das Curriculum muss entschlackt werden, um überhaupt die Räume für Kreativität und kritisches Denken zu eröffnen, wie es mal das Ideal der Universität war. Mit dem 2003 eingeführten einjährigen Schwerpunktstudium haben sich die Universitäten zumindest den Schein von Wissenschaftlichkeit erkämpft. Die Praxis zeigt: Die Fixierung auf das Examen blockiert auch in dieser Phase das freie Denken.

Dieser Gastbeitrag ist kein Appell, das Studium wie in anderen Ländern gänzlich von der Praxis zu entkoppeln. Die Grundlagen müssen sitzen. Doch eine Verwissenschaftlichung wird nur gelingen, wenn Fächer wie Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, genauso wie interdisziplinäre Seminare, Projekte zur Rechtsfolgenabschätzung, dem Zugang zum Recht oder Legal-Design gleichberechtigt neben den Kernfächern wie dem Strafrecht stehen.

Vermutlich muss man sogar konsequent weiterdenken und das Studium zweiteilen: eine erste Phase, die vor allem die Technik der Rechtsanwendung vermittelt und mit einem Staatsexamen, an dem wir festhalten sollten, abschließt; gefolgt von einer zweiten Phase echter Wissenschaft und echter Rechtskritik – auch an den Auswüchsen technokratischen Regierens. Als Gesellschaft würden wir davon profitieren.

Moritz Baumann war bis Juni 2023 Redaktionsleiter des Bildung.Table. Er arbeitet als freier Journalist in Berlin, studiert Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT und den SPIEGEL.

Lesen Sie hier alle bislang erschienen Beiträge der Serie „Hacking Populism“.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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