Wer die Verfassung missachtet, darf damit nicht durchkommen. Insofern ist es gut, dass das Bundesverfassungsgericht die Tricksereien der Ampel-Koalition mit dem Haushalt beendet hat. Mitleid für das nun herrschende Chaos ist fehl am Platze, das hat sich die Regierung selbst zuzuschreiben. Allerdings: Erfunden hat die Ampel den respektlosen Umgang mit der Verfassung nicht. Andere Regierungen haben vor ihr ganz ähnlich agiert – und so dafür gesorgt, dass in Deutschland seit Jahrzehnten ein Gesetz durchgehend verfassungswidrig war. Das gräbt am Fundament unseres Rechtsstaats. Dabei könnte die Reform dieses Gesetzes Teil der Antwort auf die aktuelle Haushaltsmisere sein. Denn sie würde jährlich mehr als 7 Milliarden Euro erbringen.
Die Rede ist von der Erbschaftsteuer. Die gilt in Deutschland theoretisch für alle, deren Erbe die verschiedenen Freibeträge übersteigt. Praktisch gelingt es den Reichsten der Reichen aber oft, sich vor der Steuer zu drücken, zahlreichen Ausnahmeregelungen für Betriebsvermögen und einer mächtigen Lobby sei Dank. Man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass hier ein Grundprinzip der Verfassung verletzt wird, das der Gleichbehandlung. In Zahlen ausgedrückt: Wer mehr als 20 Millionen Euro erbt, zahlt darauf im Schnitt 2,8 Prozent Erbschaftsteuer. Wer weniger erbt, zahlt mehr – im Schnitt 9,0 Prozent.
Dreimal haben die höchsten Gerichte in Deutschland schon entschieden, dass es so nicht geht. Die Folge war jedoch keine Regierungskrise wie jetzt, kein Ruf nach Neuwahlen. Zwar gab es, wie vom Verfassungsgericht erzwungen, zweimal Neufassungen des Gesetzes – allerdings wurden dabei jeweils neue verfassungswidrige Sonderregelungen ins Gesetz geschrieben. Und beim bislang jüngsten Urteil dazu, vom Bundesfinanzhof aus dem Jahr 2017, beschlossen die Finanzbehörden der Länder ganz offiziell, es komplett zu ignorieren.
Respektloser kann man mit der Verfassung und höchsten deutschen Gerichten kaum umgehen. Auch diesen Schuh müssen sich die aktuell regierenden Finanzpolitiker in Bund und Ländern jetzt anziehen, denn sie haben den kontinuierlichen Verfassungsbruch zu verantworten. Olaf Scholz ist der Fall aus seiner Zeit als Finanzminister bestens bekannt. Ursprünglich verantwortlich dafür waren aber CDU-geführte Bundesregierungen. Die erste verfassungswidrige Reform der Erbschaftsteuer stammt von Helmut Kohl, die folgenden Urteile und verfassungswidrigen Gesetzgebungen fallen in die Regierungszeit von Angela Merkel. Auch das gehört zur Wahrheit.
Wer eine Debatte um verfassungskonforme Finanzpolitik führen will, muss den anhaltenden Skandal um die Erbschaftsteuer einbeziehen. Das gebietet nicht nur der Respekt vor dem Grundgesetz – es wäre auch finanzpolitisch klug. Denn die verfassungswidrigen Steuerprivilegien für Reiche kosten uns seit 2009 über 79 Milliarden Euro, es handelt sich seit Jahren um die größte Steuersubvention unseres Landes.
Doch in der öffentlichen Debatte um das milliardengroße Haushaltsloch kommt diese zweite Verletzung der Verfassung kaum vor. Währenddessen wird vom Bürgergeld bis zur Kindergrundsicherung jeder Baustein der Sozialpolitik unter lautem Getöse auf den Prüfstand gezerrt. Grund für das lautstarke Schweigen ist die effektive Arbeit der Lobby des großen Geldes. Verbände wie die der sogenannten Familienunternehmer sorgen schon seit Jahren dafür, dass eine Debatte um die Reform der Erbschaftsteuer zuverlässig im Sande verläuft.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil dafür gesorgt, dass eine breite Debatte über Haushaltspolitik und Staatsschulden geführt wird – und das ist auch gut so. Doch ein Rosinenpicken mit der Verfassung darf es im Rechtsstaat nicht geben. Wer sie wie Finanzminister Christian Lindner nur heranzieht, wenn es im politischen Streit dient, aber ignoriert, wo die Privilegien der eigenen Klientel berührt sind, beschädigt den Rechtsstaat. Die Verfassung muss gelten – ungeachtet von Parteizugehörigkeit und Kontostand, für Union und SPD gleichermaßen, für die Ärmsten ebenso wie für die Reichen.
Im kommenden Jahr steht die Erbschaftsteuer noch einmal vor Gericht: Das Bundesverfassungsgericht wird sich erneut mit den Ausnahmen befassen. Die Bundesregierung hätte jetzt die Gelegenheit, diesen Missstand aus der Welt zu schaffen, statt sich von Karlsruhe erneut die Leviten lesen zu lassen. Das wäre politisch klug. Vor allem aber ist es, um es mit dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz zu sagen, eine Frage des Respekts.
Gerhard Schick ist Gründer und Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende, einem Verein, der sich als Gegengewicht zur Finanzlobby versteht. Zuvor saß er von 2005 bis 2018 für die Grünen im Bundestag und war dort unter anderem ihr finanzpolitischer Sprecher.