Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 11. April 2024

Die Kunst des konstruktiven Vereinfachens

Die wachsende Komplexität der Gesellschaft nährt den Wunsch nach einfachen Antworten. Das hilft den Populisten. Auch die nicht-populistischen Antworten auf die Differenzierung und Partikularisierung der Gesellschaft greifen zu kurz, argumentiert Johannes Meier. Der ehemalige CEO der European Climate Foundation wirbt für eine elegante Regulierungsarchitektur, die Orientierung gibt und Freiräume maximiert. Mit der Serie „Hacking Populism“ will Table.Briefings Wege aufzeigen, wie dem Populismus begegnet werden kann.

Vor kurzem hat Sebastian Turner in einem Beitrag die Notwendigkeit einer umfassenden Erneuerung und Vereinfachung des Staatsapparates hervorgehoben, um Rechtspopulismus effektiv zu bekämpfen. Er betont insbesondere, dass Akademikerkinder ihren „blinden Fleck“ erkennen müssen, um ein wirksames Regieren zu ermöglichen.

Der Austausch und die Berücksichtigung einer Vielfalt von Perspektiven, die auf Erfahrungen in der realen Welt basieren, sind zweifellos entscheidend für eine effektive Regierungsführung. Diese Notwendigkeit erinnert an die klassischen Methoden der Produktentwicklung, die durch A/B-Tests, Fokusgruppen und Rückmeldungen von Pilotnutzern charakterisiert sind.

Doch befürchte ich, dass sich die geforderte „gründliche Erneuerung und Vereinfachung des Staatswesens“ nicht allein durch die Selbstreflexion der Akademikerkinder erreichen lässt. Tiefgreifendere Faktoren erklären besser, warum die Qualität des Regierens abnimmt, oder genauer betrachtet, warum der Prozess des Regierens und Regulierens angesichts wachsender Komplexität überfordert wirkt. Was Frustrationen fördert, die wiederum den Nährboden für Rechtspopulisten bildet.

An vielen Stellen erleben wir eine Zunahme von gesellschaftlicher Komplexität. Differenzierung und Partikularisierung der Gesellschaft, Veränderungen der digitalen Öffentlichkeit mit kurzen Aufmerksamkeitsspannen und unverbundenen Echoräumen, abnehmende Tragfähigkeit gewohnter wirtschaftlicher und geopolitischer Denkmuster und fundamentale technische Innovationen seien hier nur beispielhaft genannt. Der populistische Reflex stark vereinfachter Antworten auf diese Hyperkomplexität bietet nur Scheinlösungen – bestes Beispiel sind die überschwänglichen Versprechungen und die ernüchternde Realität des Brexits.

Jedoch sind auch viele nicht-populistische Regulierungsansätze in meinen Augen unterkomplex. Aus Mangel an einer tragfähigen und eleganten Architekturidee gehen sie davon aus, dass sich politische Ziele in messbare Kriterien übersetzen lassen, die zur Umsetzung dann nur noch nachgehalten werden müssen. Solche Reduktionismen funktionieren vielleicht noch in einfachen Zusammenhängen.

Aber selbst bei vergleichsweise simplen Aufgaben wie der Steuerung von Vertrieb oder Call-Centern lernen Managerinnen und Manager – trotz der vermeintlich smarten Rufe „you get what you measure“ –, dass messbare Ziele meist für ungewollte Nebeneffekte sorgen, vor allem wenn sie mit finanziellen Anreizen gekoppelt sind. Oft wollen dann die Verantwortlichen ungewollte Kollateraleffekte vermeiden, indem sie weitere Metriken zur Kontrolle der Kontexte ergänzen. Damit wachsen dann Komplexität und Bürokratie. Regulierungen in Wirtschaft und Politik erschöpfen sich schließlich in Ordnungsmäßigkeit, ohne in modernen, komplexen Kontexten effektiv zu wirken.

Dieser Prozess der stetigen Komplexitätssteigerung führt unweigerlich zu einem gefährlichen Ohnmachtsgefühl bei Unternehmern und allen übrigen Bürgern, welches Rechtspopulisten für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Diese Entwicklung hat lange vor dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien begonnen. Das deutsche Steuerrecht ist ein über viele Jahrzehnte gewachsenes, leidvolles Beispiel. Auch die gut gemeinten Brüsseler Ansätze zu Berichtspflichten in Sachen Nachhaltigkeit in Form der EU-Taxonomie und der Corporate Sustainability Reporting Directive verlangen aufwendige bürokratische Prozesse genau vorgegebener Datensammlung und -sortierung. Sie führen aber in meiner Wahrnehmung nicht dazu, dass Führungskräfte notwendig das Ziel der Nachhaltigkeit tiefer in Strategie und Tagesgeschäft verankern, auch wenn Wirtschaftsprüfer aufwendig „limited assurance“ für dieses nicht-finanzielle Berichtswesen geben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass oft nur ein Zurschaustellen moralischer Werte („virtue signaling“) und nicht realwirtschaftliche Relevanz gefördert wird, was zu Zynismus in den Unternehmen führt.

Sebastian Turner und ich stimmen überein, dass die Einbindung von Menschen mit vielfältiger Welterfahrung hilfreich ist, um ineffektive Regulierungen zu identifizieren. Die familiäre Bildungshistorie ist aber nur eine von vielen relevanten, untereinander verschränkten Diversitätsdimensionen: Einkommen und Vermögen, Stadt-Land-Gegensätze, Migrationshintergrund, professionelle Kulturen, Generationenunterschiede, globale vs. nationale vs. regionale Erfahrungshorizonte und so weiter. Auch wenn es gelänge, alle relevanten Aspekte von Vielfalt einzubeziehen und zu aggregieren – was bei hoher Heterogenität der Interessen höchst unwahrscheinlich ist –, würde das nicht automatisch zu effektiven Regulierungsarchitekturen mit hoher Akzeptanz führen.

Systemarchitekten betonen in ihren Heuristiken die Bedeutung von eleganten Architekturen, die sowohl klare Orientierung geben als auch lokale Freiräume maximieren. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Internet-Protokoll TCP/IP, welches Freiräume und Adaptionsfähigkeit maximiert, indem es minimalistisch die Interaktionen zwischen den Subsystemen und Abstraktionsebenen im Web reguliert. Wir benötigen ähnlich elegante Architekturen als Alternative zu Bürokratieauswüchsen, wie sie in vielen Gesetzen angelegt sind. Ich bin mir bewusst, dass diese Form des konstruktiven Vereinfachens sehr anspruchsvoll ist. Neben den genannten Komplexitätstreibern beeinflussen Lobbying und die Macht lauter Minderheiten den Prozess der Problemerkennung, Lösungssuche, Willensbildung und Kompromisse.

Die strukturelle Herausforderung hatte Oliver Wendell Holmes, langjähriger Richter am Obersten Gerichtshof der USA, früh erkannt: „For the simplicity on this side of complexity, I wouldn't give you a fig. But for the simplicity on the other side of complexity, for that I would give you anything I have.” Einfachheit jenseits der Komplexität ist dann erreicht, wenn nicht nur Inhalte in die eigene Weltsicht integriert werden, sondern das Wesen einer Idee so erfasst wurde, dass es sich auch Menschen mit anderer Weltsicht vermitteln lässt. Wir benötigen dazu insbesondere ein Denken in systemischen Zusammenhängen und End-to-end-Prozessen, welches traditionelle Silos von Zuständigkeiten und Funktionen überwindet. Fundamentale Prinzipien müssen klar erkennbar definiert und synchronisiert werden, um überbestimmte Systeme und nicht mehr nachvollziehbare Komplexität für Bürger und Unternehmen zu vermeiden. Ein Beispiel für fundamentale Prinzipien bei der Bewältigung des Klimawandels wäre die Synchronisation eines Sektor-übergreifenden und steigenden CO₂-Preises zur Abbildung der Externalitäten mit einem Klimageld zur Bewältigung der Verteilungseffekte. Dabei gilt es, der Versuchung immer feinerer Regulierung des Einzelfalls zu widerstehen. Außerdem sind eine kommunikative Einbettung und Vermittlung notwendig, bei der die Substanz nicht einer populistischen Verpackung geopfert wird.

Das Ziel eleganter Regulierungsarchitekturen ist ein Ideal, welches angesichts der Überforderungssymptome Orientierung liefern kann, Freiräume für Bürger und Unternehmen sinnvoll zu erweitern und Adaptionsfähigkeit zu steigern. Das würde dem Gefühl von Unverständnis und Ohnmacht entgegenwirken – und so den Resonanzraum für Rechtspopulisten verkleinern.

Dr. Johannes Meier ist Honorarprofessor für Leadership an der HHL Graduate School of Management und ehemaliger CEO der European Climate Foundation.

Lesen Sie hier alle bereits erschienen Beiträge der Serie „Hacking Populism“.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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