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Erscheinungsdatum: 18. September 2026

Das Wohngeld als Blaupause für einen bürgerfreundlichen digitalen Sozialstaat

Viele Sozialleistungen erreichen Berechtigte zu spät oder gar nicht – beim Wohngeld liegt die Inanspruchnahme bei nur rund der Hälfte. Dabei eignet es sich optimal als exemplarische Digitalisierung einer sozialstaatlichen Verwaltungsleistung.

von Florian Theißing, Agora Digitale Transformation

Der Herbst der Sozialreformen bricht an: Bis Ende 2025 soll die Kommission zur Sozialstaatsreform Empfehlungen erarbeiten, wie der Sozialstaat bürgerfreundlicher, wirksamer und effizienter gestaltet werden kann. Gut so! Denn in der aktuellen Debatte um Kürzungen und Sanktionen gerät ein zentrales Problem unseres Sozialstaates aus dem Blick: Seine Leistungen erreichen die Berechtigten oft zu spät oder gar nicht. Zum einen nimmt ein erheblicher Teil der Berechtigten ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch - beim Wohngeld sind es Studien zufolge rund die Hälfte. Zum anderen bewegen sich viele Sozialbehörden am Rande der Handlungsunfähigkeit. Überlange Bearbeitungszeiten sind die Folge, bei Wohngeldanträgen teils bis zu acht Monaten. Die Gründe: Das kafkaeske Labyrinth unseres Sozialleistungssystems sowie Personalmangel und eine schleppende Digitalisierung in den Behörden.

Diese Dysfunktionalitäten sind nicht nur für die Betroffenen dramatisch, sondern untergraben auch das Vertrauen in Staat und Demokratie. Nötig ist eine Reform, die digitale Möglichkeiten und rechtliche Vereinfachungen konsequent zusammendenkt und die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Vorschläge für eine solche bürgerfreundliche digitale Sozialverwaltung entwickeln wir zurzeit gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband am Beispiel des Wohngeldes – eine mögliche Blaupause auch für andere Sozialleistungen. Einige dieser Ansätze stellen wir im Folgenden vor.

Zugang zu Sozialleistungen an Lebenslagen orientieren statt an Zuständigkeiten

Familien mit Wohngeldanspruch haben oft Anspruch auf weitere Leistungen wie Kinderzuschlag oder die Befreiung von Kita-Gebühren. Dafür müssen sie drei verschiedene Anträge bei drei unterschiedlichen Behörden stellen – mit nahezu identischen Angaben. Werden diese zersplitterten Zuständigkeiten nur durch behördenspezifische Onlineportale ins Digitale verlängert, ist für die Familien wenig gewonnen. Was es stattdessen braucht, ist ein einheitliches Zugangsportal für alle Sozialleistungen, das sich an den Lebenslagen der Menschen statt an den Zuständigkeiten der Behörden orientiert. Dieses Portal nutzt einmal eingegebene Daten automatisch für mehrere Leistungen, schlägt passende Leistungen vor und übermittelt Anträge direkt an die zuständigen Stellen. Erste Modelle für digitale Kombianträge gibt es bereits, rechtlich bedarf es Anpassungen, um den Datenaustausch über Rechtskreise hinweg zu ermöglichen.

Daten nutzen statt Nachweise fordern

Bei der Beantragung von Wohngeld belastet die Flut an erforderlichen Nachweisen, Antragstellende und Behörden gleichermaßen. Dabei liegen viele der erforderlichen Informationen der Verwaltung längst vor: etwa das steuerpflichtige Einkommen, die im Haushalt gemeldeten Personen oder bereits bezogene Transferleistungen. Es wäre also naheliegend, diese Daten direkt zu nutzen, anstatt Antragstellende immer wieder in die Pflicht zu nehmen. Schon heute dürfen Wohngeldstellen nach § 33(2) Wohngeldgesetz Daten beim Bundeszentralamt für Steuern, der Bundesagentur für Arbeit oder den Rentenversicherungen abfragen – allerdings nur zur Missbrauchsbekämpfung. Warum werden diese Möglichkeiten nicht genutzt, um Antragsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen?

Zentralisierung und Automatisierung wagen

Derzeit sind mehrere hundert kommunale Behörden für den Vollzug des Wohngeldes zuständig. Alle prüfen identische Regelfälle auf dieselbe Weise und betreiben parallel eigene Digitalisierungsprojekte. Das kostet Zeit, Geld und Personal. Sinnvoller wäre es, wenn der Bund IT-Verfahren für das Wohngeld zentral bereitstellt – von standardisierten Modulen wie einer Einkommensprüfung bis hin zur weitgehend automatisierten Bearbeitung von Standardfällen. So könnten sich die Kommunen auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist: die Beratung, die Bearbeitung komplexer Fälle und die Unterstützung von Bürger:innen, die keinen digitalen Zugang haben. Vergleichbare Vorschläge wurden bereits für die Kfz-Zulassung vorgelegt – das Wohngeld könnte der nächste Anwendungsfall sein.

Rechtsvereinfachung bleibt unerlässlich

Digitale Möglichkeiten können die Komplexität des Sozialrechtes zwar abfedern, aber nicht auflösen. Je besser es gelingt, das Sozialrecht zu vereinfachen und neu zu ordnen, desto besser können digitale Lösungen ihre Wirkung entfalten. Die Sozialstaatskommission steht daher vor der Aufgabe, Rechtsreform und Digitalisierung konsequent zusammenzudenken. Die gute Nachricht lautet: Viele Bausteine sind bereits vorhanden – Pilotprojekte, neue Ideen und erprobte Verfahren. Die notwendigen Puzzleteile liegen also auf dem Tisch. Nun gilt es, sie zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen – im Interesse der Menschen, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Wenn das gelingt, könnte der Umbau des Sozialleistungssystems auch als Blaupause für die Verwaltungsmodernisierung insgesamt dienen.

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Letzte Aktualisierung: 19. September 2025

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