Klimakrise, Krieg in Europa, Fachkräftemangel, Inflation, steigende Arbeitsbelastung: Die multiplen Krisen dieser Zeit setzen den deutschen Sozialstaat immer heftigeren Belastungsproben aus. Das Deutsche Rote Kreuz sagt voraus, dass die sozialen Sicherungssysteme die Daseinsvorsorge in Deutschland nicht mehr langfristig gewährleisten können. Das ist schon heute spürbar: Die Betreuungssituation unserer Kleinsten ist genauso prekär wie die Pflegesituation unserer Ältesten. Gesellschaftliches Engagement wird erschwert und Integration soll viel zu oft ohne Unterstützung funktionieren.
In dieser angespannten Situation für den Sozialstaat legt die Bundesregierung die Axt nun ausgerechnet an die Zukunft der Freien Wohlfahrtspflege. So zumindest lesen sich die Pläne zum Bundeshaushalt 2024, in dem für das „Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung“ keine Mittel mehr vorgesehen sind. Inmitten vieler weiterer herber Kürzungen von Leistungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das ein besonders zukunftsfeindliches Signal. Vielmehr bräuchte es einen großen und nachhaltigen Investitionsschub in die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Daseinsvorsorge.
In fast allen Bereichen unseres Zusammenlebens leistet die Digitalisierung längst wertvolle Beiträge. Immer spezialisiertere Software hilft dabei, Arbeitsabläufe und Verwaltungstätigkeiten zu vereinfachen, gewaltige Datenbestände auszuwerten, neue Kommunikationswege aufzubauen und maßgeschneiderte Lösungen für die Anliegen der Bürger:innen bzw. Kund:innen zu finden. Diese Vorteile müssen auch die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege nutzen, um mit digitaler Unterstützung die gesellschaftliche Teilhabe von Einzelpersonen oder auch ganzer Gruppen zu fördern. Zuletzt während der Corona-Pandemie haben viele Wohlfahrtsorganisationen gewaltige Kraftanstrengungen unternommen, um digitaler zu werden. Diese Anstrengungen dürfen nicht aufhören. Denn der flächendeckende Einsatz von digitalen Werkzeugen ist kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung dafür, dass tragende Säulen unseres Sozialstaats leistungsfähig bleiben.
So kann eine KI-gestützte Übersetzung von „Behördendeutsch“ in Leichte Sprache – zum Beispiel bei Amtsbriefen – vielfache Nachfragen erübrigen. Eine Vergabe von Kitaplätzen mithilfe von Algorithmen kann die entnervende Suche für Eltern verkürzen und Erzieher:innen wertvolle Arbeitszeit zurückgeben. In der Jugendhilfe wiederum ließen sich KI-Systeme dazu einsetzen, Verwaltungsprozesse zu verschlanken. Pädagog:innen müssten somit nicht mehr stundenlang Belege kleben und ans Jugendamt schicken, sondern könnten ganz ihrer erlernten Tätigkeit nachgehen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Doch bisher sind das weitestgehend Potenziale, die nicht in die Umsetzung kommen.
Es ist jetzt an der Zeit, dass die soziale Daseinsvorsorge den Sprung ins digitale Zeitalter gelingt und dafür braucht es eine Investitionsoffensive. Als selbsternannte „Fortschrittskoalition“ könnte die Bundesregierung die Weichen dafür stellen, dass die Wohlfahrt nicht nur eine Zukunft hat, sondern sogar zu einer Vorreiterin für gemeinwohlorientierte KI in diesem Land wird.
Das mag auf den ersten Blick paradox klingen, ist es aber nicht: Zwei Millionen Haupt- und drei Millionen Ehrenamtliche in Deutschland engagieren sich über die Wohlfahrtsverbände für vulnerable Gruppen. Sie, die tagtäglich für die die Menschen in diesem Land da sind, wissen am besten um deren Belange und Bedarfe. Wenn diese Nutzer:innenzentrierung um die Fähigkeit erweitert wird, digitale Technologie als Werkzeug für bessere Dienstleistungen und Verwaltungsstrukturen einzusetzen, wäre das ein Turbolader für Innovation.
Dafür ist es aber notwendig, dass die öffentliche Hand in Vorleistung geht. Die aktuellen Strukturen finanzieren existierende Problemlösungen (oftmals schon mehr schlecht als recht), neue Ansätze kommen in den Finanzlogiken hingegen nicht vor. Dabei lassen sich keine strukturellen Verbesserungen vorschlagen oder gar vornehmen, wenn die Personal- und Finanzplanung auf Kante genäht ist und sich mit Ächzen und Stöhnen von Monat zu Monat gerettet wird. Dabei eröffnen digitale Technologien die Möglichkeit, dass nicht mehr jeder Ortsverband eine Leistung anbieten muss. Vielmehr lassen sich über Plattformen Angebote zusammenführen und skalieren. Dafür müssten aber erst einmal Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um diese Anfangsinvestition tätigen zu können. Aufgrund der starren Strukturen sterben aber viele solcher innovativen Ideen oft schon im Anfangsstadium.
Fest steht: An der langfristigen Förderung gemeinnütziger Organisationen, die sich um die gesellschaftliche Daseinsvorsorge kümmern, darf die Bundesregierung nicht sparen. Es kann nicht angehen, dass in Sonntagsreden – auch in Anbetracht steigender Zustimmungswerte für populistische Kräfte – der gesellschaftliche Zusammenhalt beschworen und ab Montag das Fundament dafür zusammengespart wird. Die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist zu wichtig, um sie vom Gezerre um Haushaltspläne zerreißen zu lassen. Die Ampelkoalition muss den versprochenen Fortschritt jetzt ermöglichen, anstatt ihn zu verhindern.
Julia Gundlach ist Expertin für Digitalisierung der Bertelsmann-Stiftung und leitet das Projekt „reframeTech – Algorithmen fürs Gemeinwohl“ .