wir begrüßen Sie zum Berlin.Table, dem Late-Night-Memo für die Hauptstadt.
Es ist Zeitenwende, hat der Kanzler gesagt – und sie begegnet uns auch in Deutschland immer unmittelbarer. Mit sehr konkreten Folgen. Jahrzehnte war es ein Tabu; jetzt führt der Ukrainekrieg dazu, dass die Bundeswehr erstmals dauerhaft Kampftruppen ins Ausland entsendet. An die NATO-Ostflanke nach Litauen. Nicht auf Zeit, nicht zur Übung, nicht rotierend, sondern für den Ernstfall und dauerhaft – samt schwerem Gerät und samt Familien.
Zeitenwende auch im Inland: Anderswo haben sich Rechtsnationalisten längst hineingearbeitet, nicht nur in die Parlamente, sondern auch in die Exekutive. In Deutschland schickt sich seit diesem Sonntag die AfD an. Wir beschreiben, was im Osten los ist, wie lange das Bündnis der Demokraten gegen die Rechtsextremen noch hält und ob es überhaupt eine erfolgversprechende Strategie gegen Demagogen und Hetzer gibt.
Außerdem haben wir den Mediensoziologen Andreas Ziemann zu medialen Kampagnen befragt, zu mehr und weniger anrüchigen, und wir erklären, warum der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in Südafrika so schwierig ist.
Viel Vergnügen bei der Lektüre.
Heute haben Annette Bruhns, Enno Eidens, Viktor Funk, Lisa-Martina Klein, Franziska Klemenz, Horand Knaup, Andreas Sieren, Vera Weidenbach und Lucia Weiß mitgewirkt. Wir freuen uns über Ihr Interesse.
NATO: Deutsche Kampftruppen nach Litauen
NATO: Deutsche Kampftruppen nach Litauen. Die Bundeswehr schickt zur Verteidigung der NATO-Ostflanke erstmals Kampftruppen ins Ausland. “Deutschland ist bereit, dauerhaft eine robuste Brigade in Litauen zu stationieren”, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius bei einem Besuch im Baltikum. Es handele sich um rund 4.000 Soldatinnen und Soldaten samt Gerät – und bei dauerhafter Stationierung auch um ihre Familien.
Pistorius verband die Zusage mit zwei Vorbehalten. Zum einen müsse Litauen die Infrastruktur bereitstellen, neben Kasernen auch Übungsplätze. Das sagte der litauische Präsident auch umgehend zu. Zum anderen verlangte Pistorius die Zustimmung des Nato-Oberbefehlshabers: Die Allianz müsse ihre Flexibilität bewahren und deshalb prüfen, ob die dauerhafte Stationierung deutscher Truppen in Litauen mit ihren Verteidigungsplänen vereinbar sei. Dafür werde unter anderem der Nato-Gipfel im Juli in Vilnius entscheidend sein.
Schon Olaf Scholz hatte eine Kampfbrigade versprochen. Im vergangenen Jahr hatte er dem litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda zugesagt, die Bundeswehr werde zusätzlich zur von Deutschland geführten NATO-Battlegroup in Litauen eine Kampfbrigade zum Schutz bereitstellen. Allerdings war bisher nur ein Kommandostab in Litauen stationiert; die einzelnen Truppenteile wurden jeweils für Übungen in Marsch gesetzt. Die litauische Regierung hatte bislang erfolglos auf eine dauerhafte Präsenz gedrängt.
Das Vorbild heißt Deutschland. Bis Anfang der 1990er Jahre waren in Westdeutschland zahlreiche Truppen aus verbündeten Nato-Staaten stationiert, um bei einem möglichen Angriff schnell reagieren zu können. An diesem Modell orientiert sich Pistorius nun. Zwar hat die Bundeswehr über Jahre Kontingente nach Afghanistan oder Mali geschickt – jedoch stets nur für einige Monate und nicht dauerhaft. Mehr über die Situation in Russland und mögliche bevorstehende Säuberungen lesen Sie in der Analyse von Viktor Funk.
Politologin zur AfD: “Seriöse Parteien schüren Stimmung”
Politologin zur AfD: “Seriöse Parteien schüren Stimmung.” Nachdem die AfD erstmals ein politisches Spitzenamt gewonnen hat, bezeichnet es die Politologin Ursula Münch gegenüber Table.Media als “Geschenk an die AfD, dass seriöse Parteien die Stimmung mit schüren”. Alle Parteien hätten ihren Anteil am Ergebnis. Auch mit Blick auf die drei ostdeutschen Landratswahlen im nächsten Jahr müssten sie dringend Konsequenzen aus dem Wahlausgang vom Sonntag ziehen. Infolge einer Reihe von Krisen seien viele Menschen verunsichert. Die Ampel-Regierung habe teilweise den Eindruck erweckt, Politik für Eliten zu betreiben. Auch am Vorwurf, die Union hätte die AfD “entschmuddelt”, sei einiges dran.
“Alarmsignal, Denkzettel und Warnung.” So interpretiert Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer das Wahlergebnis: Die Motive seien “Wut, Frust, Enttäuschung und Angst vor neuen Umbrüchen, aber auch teilweise ein positiver Resonanzboden für völkisch-nationalistische Politik und Rechtsextremismus.” Dass der Kandidat einer als erwiesen rechtsextremistisch eingestuften Partei gewonnen hat, sei ein sehr deutlicher Hinweis, gleichzeitig nach Erfurt, Berlin und Brüssel. Es zeige die Stimmung nicht nur in Sonneberg. Eine ausführliche Analyse von Franziska Klemenzzu möglichen Gründen für das Ergebnis und Folgen daraus lesen Sie hier.
Lähmung beim Wohnungsbau, bis es zum Stillstand kommt? Ein Naturgesetz ist das auch in angespannten Zeiten nicht. Entscheider(innen) in Bund, Ländern und Kommunen können einiges tun, um den Prozess wieder anzukurbeln – z. B. mit vergünstigten Krediten und einer Sonder-AfA, die ihren Namen verdient (weiterlesen). Fragen zur Immobilienwirtschaft: ZIA
Presse-Briefing von morgen
26. Juni Presseschau
FAZ: Mindestlohn-Wehen. Arbeitsminister Heil hatte es zwar anders erhofft, ist der Empfehlung für eine Erhöhung des Mindestlohns um 41 Cent aber gefolgt. Die zuständige Kommission aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sei sich das erste Mal in ihrer Geschichte nicht einig gewesen, schreibt Manfred Schäfers. Entsprechend harsch fällt die Kritik der Gewerkschaften aus; aber auch der Arbeitnehmerflügel der CDU moniert: Bei den hohen Inflationsraten reiche es nicht, nur die Tarifentwicklung nachzuzeichnen. (“Sieg für Arbeitgeber beim Mindestlohn”, Seite 15)
Lösungsansätze gegen den Personalmangel in der Pflege. Die “Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform” hat Wege zur Sicherung der Pflege in Deutschland aufgezeigt. Dazu gehören unter anderem die Steigerung der Attraktivität von Pflegeberufen sowie mehr Prävention zur Vermeidung und Herauszögerung von Pflegebedürftigkeit. (Mehr)
Süddeutsche: Brandenburgs CDU-Chef gegen AfD-Verbot. Im Gespräch mit Jan Heidtmann erläutert Jan Redmann seine Skepsis gegenüber “Brandmauern”. Wenn sich Parteien mit unterschiedlicher Programmatik bei kommunalen Wahlen gegen die AfD unterhakten, könne das undemokratisch wirken. Sie müssten schon Gemeinsamkeiten dafür finden. (“Ein Verbot würde der AfD würde nicht guttun”, Seite 5)
Handelsblatt: Audi-Chef liefert nicht. Markus Duesmann startete vor drei Jahren als Hoffnungsträger bei Audi. Jetzt wird kritisiert, dass er zu wenig bewegt hat. Was den Kritikern fehlt, berichtet ein Autorenteam ausführlich. Unter anderem fehle Audi ein Standort in den USA im Gegensatz zu BMW und Mercedes. (“Audi-Chef unter Druck”, Seite 1)
Welt: Wirtschaft im Sinkflug. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist überraschend eingebrochen, Deutschland fällt in der EU zurück. Schuld sei auch Chinas schwache Ökonomie, berichtet Holger Zschäpitz. Er stellt die schwachen Wachstumsprognosen der Bundesbank den besseren des Wirtschaftsministers gegenüber. (“Heftiger Absturz entlarvt Habecks falschen Optimismus“)
Afrika-Strategie 2023 – das Spitzentreffen für die Afrika-Szene in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft. Am 4. Juli spricht Africa.Table-Redaktionsleiter Christian von Hiller mit Christoph Kannengießer (Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft), Deborah Düring (Deutscher Bundestag), Dr. Christoph Hoffmann (Deutscher Bundestag), S.E. Botschafter Phumelele Sizani (Republik Südafrika) und anderen hochkarätigen Experten. (Hier kostenfrei anmelden!)
Mediensoziologe: “Kampagne wollte Habeck aus Amt drängen”
Mediensoziologe: “Kampagne wollte Habeck aus Amt drängen”. Die Negativkampagne gegen den Wirtschaftsminister habe sich gegen Robert Habeck als Person gerichtet und nicht mehr gegen eine politische Sache, sagt Andreas Ziemann, Professor für Kultur- und Mediensoziologie im Gespräch an der Bauhaus-Universität in Weimar. Dabei ging es erst um den Heizungsstreit und dann die Causa Graichen. BILD-Zeitung, Union und AfD hätten teils zu unlauteren Mitteln gegriffen – wobei das bei Kampagnen natürlich nicht verboten sei. So habe die Behauptung, über die Hälfte der Deutschen wünschten Habecks Rücktritt, ein eher dubioses Meinungsforschungsinstitut in die Welt gesetzt. Der Forscher beobachtet die Tendenz, dass Massenmedien zunehmend Politik machen. Welche Gefahren er noch darin sieht, lesen Sie im Interview von Franziska Klemenz.
Baerbock: Komplizierter Besuch in Südafrika
Baerbock: Komplizierter Besuch in Südafrika. Es geht um binationale Themen, um den von Russland angezettelten Krieg und um Energiefragen. Doch der Besuch der deutschen Außenministerin in Südafrika hat auch Fußangeln. So nachhaltige, dass der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa keine Zeit für ein Treffen mit Annalena Baerbock hat. Die Vorstellungen der deutschen Außenpolitik nämlich, dass die westlichen Werte der Maßstab für alle sein sollen, sei nicht mehr zeitgemäß. Finden sie in Südafrika, und nicht nur dort.
Größter Konfliktpunkt bleibt der Ukrainekrieg. Baerbock macht sich dafür stark, dass Wladimir Putin verhaftet wird, sollte er im August zum Gipfel der BRICS-Staaten in Pretoria kommen. Sie hat gute Gründe, denn Putin wurde im März vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt. Südafrika müsste ihn als Unterzeichnerstaat eigentlich festnehmen. Das jedoch wird kaum passieren. Warum nicht und mit welchen Europäern sich Ramaphosa durchaus getroffen hat, lesen Sie in der Analyse von Andreas Sieren.
Pflege: Initiative fordert mehr Eigenverantwortung
Pflege: Initiative fordert mehr Eigenverantwortung. Deutschland droht ein Pflegenotstand. Das zeigen nun auch Zahlen der “Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform”, die der Verband der privaten Krankenkassen mit fünf weiteren Verbänden am Montag in Berlin vorstellte. Bis 2030 würden 130.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt für prognostizierte 5,7 Millionen Pflegebedürftige. “Wir müssen uns darauf einstellen, die Altenpflege künftig mit weniger Personal zu organisieren”, sagte Isabell Halletz vom Arbeitgeberverband Pflege. Die Initiative gruppierte Lösungsvorschläge um vier Stichworte: Akademisierung, um den Beruf attraktiver zu machen, Digitalisierung für mehr Effizienz, Deregulierung für mehr Eigenverantwortung und Prävention, damit Menschen gar nicht erst pflegebedürftig würden. Annette Bruhns hat die schwierige Lage und die vorgeschlagenen Lösungen für Sie analysiert.
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Aus den Professional Briefings
26. Juni Professionals
China.Table: Heftige Debatte um 5G-Netze in Europa. Es geht um Sicherheit, Schnelligkeit und Kosten. Nun kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Reziprozität. Denn während China sein 5G-Netz für den schwedischen Anbieter Ericsson öffnet, darf Huawei in Schweden keine 5G-Netze mehr aufstellen. Auch die Sicherheitsfrage wird falsch angegangen. Mehr
Europe.Table: Eskalation zwischen Pristina und Belgrad. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat die Außenminister der EU-Staaten am Montag in Luxemburg über den Konflikt informiert. Aus dem Europaparlament wird Kritik am Vermittler laut. Mehr
Research.Table: Soziologe Mau sieht keine Spaltung. Der Berliner Soziologe Steffen Mau widerspricht seit Jahren der Diagnose von einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft. Seine Forschung zeigt viel Einvernehmlichkeit unter den Menschen. Es gebe aber bestimmte neuralgische Punkte, an denen Konflikte aufbrechen. Durch wiederholte falsche Behauptungen könne man Polarisierungen regelrecht herbeireden. Mehr
China.Table: Wie gut sind Chinas Universitäten? Die Volksrepublik hat sich vorgenommen, die führende Weltmacht in Wissenschaft und Forschung zu werden. Der bekannte Nature Index wähnt China tatsächlich auf einem guten Weg. Doch bei Effizienz oder Renommee hinkt man noch hinterher. Mehr
Morgeninterviews am 27. Juni
26. Juni Morgeninterviews am 27. Juni
Informationen am Morgen (Deutschlandfunk)
ca. 6:50 Uhr: Mario Czaja, CDU-Generalsekretär: “CDU-Brandmauer” gegen Rechtspopulisten
ca. 7:14 Uhr: Riho Terras, MdEP und Ex-General aus Estland: Bundeswehr-Soldaten nach Litauen
ca. 8:10 Uhr: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes: Mindestlohn-Kommission
Unser Tipp führt Sie heute ins Jahr 2031. Große Umwälzungen haben stattgefunden, Endzeitsekten bevölkern die Straßen und eigentlich sind die Frauen an der Macht – aber einer lehnt sich erfolgreich gegen sie auf: Sebastian Bürger. Dank einer Verjüngungspille trifft er seine Jugendliebe in alter Schönheit wieder und entbrennt für sie. Beim anschließenden Versuch, seine mächtige Frau loszuwerden, löst er eine mörderische Katastrophe nach der anderen aus. Karen Duve entwirft eine beklemmende und dabei hochaktuelle Dystopie in herrlich schnoddrigem Ton.
Das war’s für heute. Das nächste Late-Night-Memo erhalten Sie am Dienstagabend.
Good night and good luck!
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