Als Präsidentin des Deutschen Pflegerats sind Sie die wichtigste Stimme Ihrer Profession. Trotzdem hat Ihr Dachverband erst seit Kurzem eine echte Geschäftsstelle. Ist die Pflege so arm dran?
Sie ist in Deutschland überwiegend ehrenamtlich organisiert. Engagierte Pflegende, die ihren Beruf voranbringen wollen, haben Verbände geschaffen, und zwar sehr viele, weil es viele Versorgungsbereiche gibt, von der Psychiatrie über die Intensiv- bis zur Alten- oder Langzeitpflege. Wir leben von den Beiträgen der freiwilligen Mitglieder. Unseren Dachverband gibt es seit 25 Jahren, aber eine Geschäftsstelle mit zehn fachlich kompetenten Kolleginnen haben wir erst seit 2022. Seitdem unterstützt uns das Bundesgesundheits-ministerium: Weil es einen Ansprechpartner braucht.
Pflegekammern, die sich aus Mitgliedsbeiträgen finanzieren, gibt es bisher nur in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Sie beklagen das.
Die Pflege ist im Blindflug! Wir kennen nur in NRW und in Rheinland-Pfalz die genaue Zahl unserer Fachkräfte, weil es nur dort eine Registrierungspflicht gibt. Das ist in der derzeitig kritischen Weltlage fahrlässig. Was, wenn es morgen zu einer Katastrophe käme? Wir haben keine Übersicht darüber, wieviele Pflegefachpersonen wo und mit welcher Qualifikation arbeiten. Wir haben so gut wie keine spezialisierten „disaster nurses“, kennen kaum Notfallpläne.
1,7 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in der Pflege, heißt es. Stimmt die Zahl?
Das ist nur eine Schätzzahl. Wie gesagt – die wahre Zahl kennen wir genauso wenig wie die Qualifikation diese Leute, ihr Alter, ob sie Voll- oder Teilzeit arbeiten. Das ist ein Riesenproblem. Wir erleben heute den Personalmangel, vor dem wir schon vor 20 Jahren gewarnt haben. Wären unsere Kollegen so registriert wie Ärzte, hätten wir vielleicht mehr vorgebaut, andere Entwicklungen einschlagen können. Stattdessen wurden in den 90ern massiv Ausbildungsplätze abgebaut: Weil jede Einrichtung nur für den eigenen Bedarf geschult hat. Das fällt uns heute auf die Füße.
Schon heute sollen in der Pflege mindestens 80.000 Arbeitskräfte fehlen, in zehn Jahren rechnet man mit dreimal so vielen. Wie stark weichen der best und der worst case voneinander ab?
Die Schätzungen, wieviel Pflegefachpersonen 2034 fehlen werden, differieren zwischen 150.000 und 500.000 – also ein schlimmes und ein noch viel schlimmeres Szenario. Wie gehen wir mit dieser Situation um? Dazu gibt es Überlegungen, die wir aber als Profession nicht durchsetzen können. Weil das deutsche Gesundheitssystem ein Selbstverwaltungssystem ist, mit einem hohen systemischen Machterhalt aller Beteiligter. Pflege kommt darin faktisch nicht vor.
Was wären Ihre zentrale Forderungen?
Komplexe Strukturen zurückbauen und zentrale Entscheidungen fällen! Brauchen alle 16 Länder eigene Gesundheitsstrukturen? Brauchen wir wirklich fast 100 Krankenkassen in diesem Land? In der Pflege geht es so weit, dass in der ambulanten Versorgung die sogenannten Leistungskomplexe, die abgerechnet werden, beispielsweise Körperpflege, sich um bis zu 25 Prozent in den Kosten unterscheiden. Wir halten Strukturen vor, die nicht immer der Versorgung dienen, sondern teilweise nur noch sich selbst. Wir haben Player im Bereich der Krankenkassen, der Ärzte, der Kassenärztlichen Vereinigungen, die in jedem Bundesland anders agieren. Wir müssen die Auswüchse des Föderalismus angehen. Gesundheitssorge muss mehr zum Bund.
Bayern hat gerade die neu geschaffene Pflegepersonalregel abgelehnt, die sei zu bürokratisch …
… und da sowieso nicht genug Personal dafür da sei, brauche man auch die nötige Anzahl nicht zu ermitteln! Das hat mich sehr empört. Wir haben dieses – technisch schlanke – Verfahren namens PPBV im Auftrag des Gesundheitsministeriums gemeinsam mit Verdi, der Krankenhausgesellschaft und Experten über viele Jahre hinweg erarbeitet. Auf Seiten der Pflege übrigens ehrenamtlich. PPBV stellt die Pflegebedarfe jedes Patienten dar. Seit Jahrzehnten dokumentieren wir alles mögliche, nur nie den Bedarf an Pflege – und das will Bayern ausgerechnet stoppen. Es wäre ein Personalbemessungsverfahren, welches sich am Zustand des Patienten orientiert, angelegt als flexibles und hochentwickeltes System.
Der Bundesgesundheitsminister will die Pflege aufwerten und professionalisieren. Als die Eckpunkte des Pflegekompetenzgesetzes im Dezember vorgestellt wurden, haben Sie von einem „vorzeitigen Weihnachtsgeschenk“ geredet.
Karl Lauterbach dient ja oft als Litfasssäule zum Schimpfen. Wir sehen dagegen, dass er dringend nötige Dinge endlich anpackt. Beim Pflegekompetenzgesetz geht es um die Erweiterung unserer Handlungsfähigkeit bis hin zur selbständigen Einstufung einer Pflegebedürftigkeit. Warum soll der Medizinische Dienst dafür Leute schicken, wenn unsere Kollegen vor Ort sind? Es trägt zur Wertschätzung bei, wenn Pflegekräfte nicht immer vom Arzt abhängig sind. Wenn ich als ambulante Pflegekraft zum Beispiel einen fiebrigen Patienten erlebe, kann ich selbst einschätzen, ob der eine Erkältung hat oder ärztlicher Untersuchung bedarf.
Werden die Ärzte da mitmachen? Während der Pandemie durften Pflegefachkräfte ja nicht einmal impfen.
Was da an Geld geflossen ist ... Hunderttausende Pflegefachpersonen gehen jeden Tag in die ambulante Versorgung. Wenn die geimpft hätten, was hätten wir gespart? Zumal Pflegekräfte überall auf der Welt impfen dürfen, ohne Aufsicht eines Arztes. Gut ausgebildete Pflegefachpersonen wissen um die Risiken und Nebenwirkungen und können adäquat – auch in heiklen Situationen – reagieren. Wir wollen den Ärzten nichts wegnehmen, sondern Aufgaben im Gesundheitswesen neu verteilen. In Zukunft wird es darum gehen, dass der- oder diejenige, die überhaupt noch am Patienten ankommt, handlungsfähig ist.
In den USA und Kanada gibt es seit Jahrzehnten die „Advanced Practice Nurse“ (APN), die Niederlande haben diese Fachkraft auch schon. Das neue Gesetz will die APN nun bei uns einführen: Was bringt sie?
Das ist die höchste Qualifikation einer Pflegefachperson in der direkten Versorgung. Sie hat einen Masterabschluss und oft eine Spezialisierung, etwa als Oncology Nurse, Disaster Nurse oder Clinical Nurse Research Consultant.
Ist die Community Health Nurse auch eine APN?
Ja, das sind Kollegen in der ambulanten Versorgung. Die kennen ihre Kommune, die örtlichen Versorgungsstrukturen und die Ansprechpartner. Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, dass dort, wo Community Health Nurses arbeiten, Menschen sehr viel länger in der häuslichen Versorgung bleiben können.
Nur gibt es die bei uns ja bisher nicht, sondern Pflegestützpunkte in den Landkreisen. Wer organisiert die?
Das ist nicht einheitlich. Wir haben ein Gesundheitswesen, in dem wir Lotsen installieren müssen, damit die Menschen sich darin orientieren können. Viele, die eine Pflegestufe haben, rufen nicht einmal die ihnen zustehenden Leistungen ab, weil sie nicht wissen, wie.
Lauterbach will eine weitere Säule für pflegende Anghörige in das neue Gesetz schreiben.
Das ist gut, hoffen aber, dass es das Gesetz insgesamt nicht aufhält. Die Einführung der Community Health Nurse ist ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag. Wenn die Akademisierungsquote von derzeit zwei Prozent in der Pflege steigt, brauchen wir auch Strukturen, in denen hochqualifizierte Pflegekräfte arbeiten können. Eltern entscheiden mit über die Berufswege ihrer Kinder. Und die schauen ganz genau, welche Karrierewege es gibt.
Wird die Krankenhausreform der Pflege helfen? Landesminister äußern die Befürchtung, dass sie Pflegekräfte durch die Schließungen von Kliniken verlieren. Weil die nicht flexibel zu einer anderen Klinik zur Arbeit fahren würden.
Jeder sucht sich halt seine Argumente, die er braucht. Wir wissen, dass wir zu viele Krankenhäuser haben und dass manche bestimmte Krankheitsbilder so selten behandeln, dass ich mich als Patientin fragen muss, ob ich da gut aufgehoben bin. Ich kenne sogar Gebärende, die weit fahren, um zu einer guten geburtshilflichen Abteilung zu kommen. Das sind Scheinargumente von Bundesländern, die jahrzehntelang die Investitionskosten ihrer Kliniken nicht getragen haben. Und keine Landespflegekammern installiert haben.
Sie haben ja einen richtigen Brass auf die Länder ...
… ich kann das Hickhack zwischen Bund und Ländern kaum noch ertragen. Ich wünschte, sie würden zusammenarbeiten bei der wichtigsten Frage überhaupt: Wie schaffen wir in 15 Jahren noch die Versorgung?"
Wie kommt es, dass Deutschland international so abgehängt ist? Wenn spanische Pflegefachkräfte nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, sind viele oft entgeistert.
Viele gehen sogar wieder zurück, weil sie hier zu wenig Kompetenzen haben. Die EU hat Deutschland schon 1964 ermahnt, den Pflegeberuf international tauglich zu machen. Nirgendwo müssen Pflegekräfte so wenig (Schul-) Bildung vorweisen wie bei uns. Als der Bund 2003 Bundesgesetze zur Pflegeausbildung erlassen hat, hat Bayern sogar geklagt: Pflege sei kein Heilberuf und deshalb Ländersache. Das Bundesverfassungsgesetz hat der Klage widersprochen.
Sie leiten mit dem Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe die größte Pflegeausbildungsstätte im Land. Wie erleben Sie den Nachwuchs?
Positiv! Eins ist klar: Kein Mensch geht aus Versehen in die Pflege oder in die Gesundheitsfachberufe. Das ist ein Riesenpfund. Wenn wir dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen gut sind, und die Leute diesen Beruf mit den Kompetenzen, die sie haben, ausüben können und sich darin weiter entwickeln können: Damit wäre schon viel erreicht.
Wieso bürden Sie sich neben dieser Leitungsaufgabe noch ein Ehrenamt auf?
Weil ich mir nicht vorstellen will, in einem Land zu leben, in dem man die Versorgung der Schwächsten aufkündigt. Damit würden wir die Grundwerte von Menschsein verraten. Dafür braucht es motivierte Pflegekräfte! Wenn ich Pflege schon 1989 hätte studieren können, wäre ich in der Versorgung geblieben und hätte nicht Pflegepädagogik studiert, sondern wäre heute eine Advanced Practice Nurse.