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Oliver Nachtwey: „Die Mitte kann schnell zum Faktor der Destabilisierung werden"

Der Soziologe Oliver Nachtwey („Zerstörungslust") über die Frustration großer Teile der Gesellschaft, die enttäuschte und in ihrem Status bedrohte Mitte, das Gefühl der Blockade und warum Faktenchecks gegen die Destruktivität nicht helfen

24. November 2025
Autor und Soziologe Oliver Nachtwey (Suhrkamp Verlag)

Herr Nachtwey, Ihre Betrachtung der Gesellschaft ist ja ziemlich deprimierend. Sie attestieren der deutschen Gesellschaft einen Destruktions- oder gar Todestrieb. Oder habe ich es falsch verstanden?

Ich würde es anders formulieren: Wir sind sehr weit gekommen mit dem gesellschaftlichen Fortschritt. Die Gesellschaft hat sich in vielerlei Hinsicht entwickelt, ist egalitärer geworden. Aber diese Fortschritte haben sich jetzt über einen längeren Zeitraum verlangsamt, sind teilweise sogar blockiert. Und um diese Fortschritte haben sich Konflikte entwickelt.

Gibt es nicht sogar Bestrebungen, einen Teil der Fortschritte umzukehren?

Ja, einige Gruppen, die sich als Verlierer in diesem Fortschritt sehen, haben diesen Zerstörungstrieb oder sogar eine Zerstörungslust. Aber ich würde nicht sagen, dass die deutsche Gesellschaft einen Todestrieb hat.

Warum wollen viele Menschen zerstören, anstatt zu reformieren?

Wir haben eine Gesellschaft, in der sich viele Menschen blockiert, ausgeschlossen und um ihren Anteil betrogen sehen – und das in einer Gesellschaft, die sie liberal durchdrungen und liberal beherrscht sehen. Es ist nicht so, dass sie alles zertrümmern wollen, sie wollen vor allem die liberalen Institutionen der Demokratie zerstören, etwa jene Institutionen, die für Chancengleichheit sorgen.

Von welchem Milieus sprechen wir da? Insbesondere von dem prekären, das keine Chance mehr auf einen eigenen Aufstieg sieht?

Es ist eher eine Koalition verschiedener Milieus, die sich aus unterschiedlichen Gründen zusammenfinden. Das verwundert vielleicht auf den ersten Blick. Aber die Leute, die wir als destruktiv beschreiben, sind vorwiegend jüngere Männer mit niedriger Qualifikation und schlechteren Jobs. Insofern gehören Menschen aus den unteren Soziallagen maßgeblich dazu. Und deshalb kann sich die AfD auch viel stärker und schneller als Partei sehen, die eine mittlerweile stärkere Basis unter Arbeiter und Arbeiterinnen hat als die SPD und die Linke. Aber wir haben auch Leute dabei, die eher zur Mittelschicht gehören, die zwar ihren Job nicht gleich verlieren werden…..

….aber Ängste entwickelt haben?

Genau. Technologische Ängste, Ängste über die Weltwirtschaft, aber auch Ängste, dass man die nationale Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr halten kann. Viele Teile dieser Milieus oder der Gruppen, die sich in dieser Destruktivität zusammenfinden, streben einen stark entgrenzten muskulären Kapitalismus an.

Was heißt das?

Donald Trump hat ihn „Drill, Baby drill“ genannt. Ein Kapitalismus, der nicht durch Diversity- Maßnahmen, Gleichstellungsmaßnahmen, Antidiskriminierungsstellen oder Umwelt- und Ökologiemaßnahmen behindert wird. Für sie soll sich der Kapitalismus entfalten können. Auch die Rücksichtnahme auf Minderheiten, Schwächere oder die Umwelt sind lauter Elemente, die man gerne zerstören möchte.

Sie deuten an, dass diesen Hang zur Destruktion auch Teile mittlerer oder gar gehobener Milieus teilen.

Ja, die AfD hat ja selbst eine Metamorphose durchlaufen. Sie hat zwar als Professorenpartei begonnen. Aber der Weg, den sie später gegangen ist, war im Grunde damals schon angelegt.

Ein nationalchauvinistischer Weg?

Genau, Eurokritik, Souveränismus, die Forderung, Griechenland aus dem Euro zu werfen, das war von Anfang ein Werben um das Pegida-Milieu. Und keine Solidarität – das war alles schon enthalten. Und wenn man in die USA schaut und sich fragt, warum sich alle Tech-Oligarchen Trump unterwerfen, gibt es auch da Erklärungen. Die Tech-CEOs sahen sich zunehmend mit Versuchen gewerkschaftlicher Organisierung konfrontiert, vor allem aber mit firmeninternen Begrenzungen ihrer persönlichen Macht durch die Politik von Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (Diversity, Equity und Inclusion, „DEI“), die sich in den Boards und den Personalabteilungen etabliert hatte. Trump war für sie eine günstige Gelegenheit: Er hatte so viel Macht, dass sie sich ihm gerne unterwarfen. Sie sicherten damit ihre Geschäftsbeziehungen, aber gleichzeitig auch ihre Position als männliche CEOs, die sich neuerdings ja auch immer muskelbepackt zeigen.

Sehen Sie eine Rechtsverschiebung der Eliten auch in Deutschland?

Man muss differenzieren. In vielerlei Hinsicht ist die Gesellschaft durchaus liberaler geworden. Die gleichgeschlechtliche Ehe hat sich bis in die konservativen Milieus hinein etabliert. Da wäre die Kritik höchstens, dass es jetzt zu viele Optionen gibt. Aber es gibt den grundsätzlichen Konsens, dass Homosexuelle heiraten können sollten. Und niemand würde in diesen Milieus heute infrage stellen, dass eine Frau Kanzlerin werden kann – solange sie anders ist als die letzte. Aber ja, wir beobachten auch hier eine Rechtsverschiebung der politischen Eliten, die gesehen haben, dass die AfD wahnsinnig stark auch in den Nichtwählermilieus mobilisiert.

Geht das auch konkreter?

Ja. Wenn man sich einige bekannte Journalisten anschaut oder die CEOs von Medienhäusern und wie die zuletzt über Robert Habeck oder Ricarda Lang geredet haben, dann hat sich auch da innerhalb weniger Jahre eine Rechtsbewegung vollzogen. Die sehen, wie das deutsche Modell im globalen Kapitalismus unter Druck gerät. Auch in den Parteien erhöhen die Anhänger den Druck. Selbst Christian Lindner hatte, als er angefangen hat, eine gewisse Offenheit für den Sozialliberalismus. Davon ist nicht viel geblieben.

Aber wo sind die Motive für den Rechtstrend?

Es gab eine Mobilisierungsspirale, in der sich Bürgerinnen und Bürger geradezu ermutigt gefühlt haben. In verschiedenen Parteien sind Politikerinnen und Politiker durch die Wahlerfolge der AfD in eine Art rechtspopulistischen Panikmodus verfallen und haben rechte Frames normalisiert. Die neuere politikwissenschaftliche Forschung zeigt ziemlich gut, dass dies rechte Parteien nicht schwächt, sondern stärkt. So wie die Linke nie die bessere Ökologiepartei im Vergleich zu den Grünen werden kann, kann die Union nicht die bessere Antimigrationspartei werden gegenüber der AfD. Das hat vor allem die Union noch nicht verstanden, da sind Merz und Co. noch sehr im alten Modus.

Was heißt alter Modus?

Wenn Sie sich an den Aufstieg der Republikaner oder der DVU erinnern, war das Denken so: Wir verschärfen Gesetze und rücken selbst programmatisch für eine gewisse Zeit nach rechts. Dadurch nehmen wir ihnen die Dynamik und können dann wieder das gesamte Spektrum rechts der Mitte besetzen. Das hat in der alten Bundesrepublik, in der die Volksparteien eine hohe Integrationskraft besaßen, noch geklappt. Heute funktioniert das nicht mehr, sondern verleiht der AfD sogar noch Legitimität.

Eine Ihrer Thesen lautet, vor allem enttäuschte Hoffnungen befeuerten den Impuls, die Demokratie zerstören zu wollen.

Wir sehen zwei Mechanismen. Den eine nennen wir das blockierte Leben und der andere – und das macht es wirklich explosiv – ist das Nullsummendenken. Beim blockierten Leben geht es um enttäuschte Hoffnungen – Hoffnungen, die man durch Bildung, Arbeit und Fleiß ja durchaus haben konnte. Das Münchner ifo-Institut hat gerade noch einmal bestätigt, wie schwach das Aufstiegsversprechen in Deutschland hinterlegt ist, mittlerweile ähnlich schwach wie in den USA. Und dass der Weg, den sozialen Aufstieg zu schaffen, selbst wenn man ambitioniert ist, deutlich steiler und steiniger geworden ist.

Ist das nicht ein bisschen übertrieben?

Es ist nun mal in den unteren Einkommensklassen schwieriger geworden, an eine anständige Wohnung zu kommen oder eine kleine Immobilie zu kaufen. Vor allem subjektiv fühlen sich diese Menschen in Ihren Aufstiegsambitionen enttäuscht und blockiert. Und wenn Sie dann noch Probleme mit den Lebenshaltungskosten haben, und das haben viele, heißt es schnell, die Linksliberalen investierten alles Geld nicht in den Standort, sondern in Flüchtlingsunterkünfte oder Migranten.

Das ist aber keine Mehrheitsmeinung.

Die AfD steht bundesweit bei 25 Prozent, im Osten teilweise bei 40 Prozent. Aber auch diejenigen, die nicht nach rechts driften, sagen, die Innenstädte waren schon mal besser in Schuss, die Brücke in Lüdenscheid oder Leverkusen sollte man besser meiden, und der Zug zwischen Hamburg und Berlin braucht jetzt auch eine Stunde länger.

Früher war alles besser?

Sicherlich nicht. Aber die Weltwahrnehmung hat sich fundamental gewandelt. Ich spitze mal zu: In den 1960er Jahren und danach haben die Menschen die Gesellschaft als sich öffnend und differenzierend wahrgenommen. Es gab mehr Jobs und auch immer mehr bessere Jobs. Und deshalb war der Abschied von der Kohle oder dem Stahl zu verkraften. Auch wenn es für einige Gruppen mit Problemen verbunden war. Aber die Menschen hatten mehrheitlich den Eindruck: Wenn die Kinder ein Abitur schaffen oder auch ein solides Handwerk lernen, gibt es die Möglichkeit des Aufstiegs.

Was ja auch vielen gelungen ist.

Ich beschreibe das gerne so: Wenn mein Nachbar einen guten Job bekommen hat, war in den 60-ern die Vorstellung, cool, das kann ich auch schaffen. Der Kuchen hatte jedes Jahr mehr Zutaten, konnte immer ein bisschen größer werden. Und deshalb war es dann auch nicht schlimm, dass das Stück der Reichen, die mit am Tisch saßen, immer noch ein bisschen größer wurde.

Und das hat sich geändert?

Jetzt wird der Kuchen nicht mehr größer. Das Wachstum nimmt nicht mehr richtig zu. Wir können zwar buntere Kuchen backen, aber nicht mehr größere. Und dass mein Stück zumindest gleich bleibt, ist auch nicht mehr selbstverständlich. Aber es wird nicht dabei thematisiert, dass das Stück der Reichen weiter größer wird, und dass die mittlerweile an einem ganz anderen Tisch, in einem anderen Raum sitzen. Die sieht man gar nicht mehr. Das ist ja die wirkliche Parallelgesellschaft. Die Menschen sehen, der Kuchen wächst nicht mehr und nehmen die Gesellschaft als eine wahr, in der immer mehr illegitime Mitesser an den Tisch gelassen werden. Die Frauen, die jetzt auch um die Jobs konkurrieren, die Migrantinnen und Migranten…..

Sie werfen Frauen und Migranten in einen Topf?

Nein, aber es gibt eine Ressourcenkonkurrenz auf verschiedenen Ebenen. Das sogenannte Male-Breadwinner-Modell war bis in die 70er Jahre das typische Erwerbsmodell. Der Mann geht zur Arbeit, die Frau bleibt zu Hause, und der Mann verdient genug, um für die Familie zu sorgen. Aber die alten Rollenverteilungen funktionieren nicht mehr, weil die Gesellschaft fortschrittlicher geworden ist: Frauen sind emanzipierter. Sie haben inzwischen bessere Abschlüsse, höhere Bildungstitel und lassen sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr so leicht diskriminieren. In vielen Bereichen ist die Konkurrenz um die bestehenden Jobs erhöht.

Welche Rolle spielen dabei die Migranten?

Bis in die 70-er Jahre haben Migranten und Migrantinnen als Gastarbeiter die Jobs gemacht, die die aufgestiegenen Deutschen nicht mehr machen wollten. Jetzt bräuchte man durch den Fachkräftemangel wieder Arbeitsmigration, aber betrachtet Geflüchtete vor allem als Gruppe, die das Gemeinwesen belasten. Zu diesen Verteilungskonflikten kommt die alltägliche Begrenzung der eigenen Lebensführung dazu. Auf einmal sind Gendertoiletten, Gleichberechtigung oder Gleichstellungsbeauftragte ein Thema. Es hat sich das Gefühl ausgebreitet, da sitzen auf einmal andere mit am Tisch, die aus unterschiedlichen Gründen entweder Mitesser sind oder denen man sonst etwas abgeben muss. Deshalb sieht man auch in den Transfergeldempfängern eine unproduktive Belastung.

Lange galt die Mittelschicht als Stabilisator des demokratischen Systems. Weil der permanente Aufstieg ausfällt, entfällt nicht nur der Stabilisator, die Mitte wird auch unruhig.

Sehr unruhig sogar. Die Mittelschicht wurde mit diesen wohlfeilen, wohlklingenden Worten immer als Maß und Mitte gesehen, das seien die Kohorten, die die Gesellschaft zusammenhalten. Das ist auch nicht ganz falsch. Natürlich wird die bundesrepublikanische Gesellschaft wie alle Industriegesellschaften stark von der Mitte getragen. Aber die Mitte kann schnell zum Faktor der Destabilisierung werden, wenn auch sie sich in ihrem Status bedroht sieht. Und hier kommt das andere Element zum Tragen, das Nullsummendenken.

Was meinen Sie damit?

Das ist neu und meint: Wenn man den Nachbarn sieht, der einen besseren Job bekommt, ist die Wahrnehmung nicht mehr, oh, es gibt gute Jobs, vielleicht ist auch einer für mich dabei. Heute ist das vorherrschende Gefühl: Oh, da ist ein guter Job weniger, den ich hätte erreichen können. Das heißt, die Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Gesellschaft der Win-Win-Situation. Jetzt ist die Situation eine des permanenten Verteilungskampfes. Der Vorteil der anderen ist mein Nachteil. Das ist die gefühlte Grundkonstellation.

Und was resultiert daraus?

Der amerikanische Soziologe Seymour Lipset hat einmal überspitzt formuliert, der Autoritarismus oder Nationalismus sei das radikale Bürgertum, der Kommunismus die Radikalisierung der Arbeiter, und der Faschismus die Radikalisierung der Mitte. Bei der Mitte gehört immer auch das Statusdenken dazu. Man will nicht nur eine Perspektive für die Zukunft, sondern man grenzt sich auch von den anderen ab.

Und wenn die Mitte keine Perspektive sieht, wird sie vom Stabilitätsanker zur Gefahr?

Wenn die Mitte ihre Zukunft blockiert sieht oder sogar fürchtet, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können, ist das ein entzündliches, gefährliches Gefühl. Das führt dann schnell zu dem Gefühl, dass wir nicht noch mehr Geld für Migranten, Bürgergeldempfänger oder Gendermaßnahmen ausgeben können. Das sind scheinbar ökonomische Motive, die schnell abgleiten in kulturalistische Vorurteile, die vor allem ressentimentgetrieben sind. Da wird ganz schnell ein Urteil gefällt über Leute, die anders sind als man selbst, weil man ja für sich in Anspruch nimmt, den gesellschaftlichen Durchschnitt darzustellen. Markus Söder macht das instinktiv und exzessiv, indem er die Andersartigkeit der anderen thematisiert und sich als Verkörperung dessen, was normal sein soll. Sahra Wagenknecht auf ihre Weise auch. Es findet eine Selbstvergewisserung in der Verunsicherung statt, es ist aber auch ein Element einer Radikalisierung der Mitte.

Welche Erklärung haben Sie für die Menschenfeindlichkeit, die insbesondere Populisten beim Thema Migranten an den Tag legen? Wo ist bei diesem Thema das christliche Menschenbild, wo die Aufklärung?

Für die Populisten sind Migranten illegitime Akteure, die den Status der einheimischen Bevölkerung bedrohen. Sie projizieren in der Gesellschaft angelegte Verteilungskonflikte, etwa um Wohnraum, auf Migranten, die sie zudem als Bedrohung der kulturellen Ordnung deklarieren. Die systematische Abwertung der anderen gehört in diesem Verteilungs- und Machtkampf unverzichtbar dazu.

Ein Gefühl der Ohnmacht?

Ja, auch. Wir wurden ja immer als wirkungsmächtig erzogen. Aber das funktioniert nicht mehr. Das Blockiertsein, das Sichbedrängtfühlen, das klaustrophobische Gefühl, das diese Leute häufig haben – sie erleben das Zerschlagen, das Nachuntentreten, das Gewaltvolle als Befreiung. Und nicht selten auch als Lustgewinn, weil sie nur in dieser Form wieder Souveränität empfinden. Und dann gibt es die zweite, die bösartige Destruktivität. Das hat schon Erich Fromm herausgearbeitet. Da entstehen potentiell faschistische Charaktere, die auch viel über den Tod phantasieren.

Wie muss sich das politische System neu erfinden, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden?

Man wird das System wird nicht mit den Mitteln des Liberalismus, also den Mitteln der Vergangenheit erneuern können. Factchecking, Bildung, Bildungsinvestitionen – das wird nicht funktionieren. Weil die Neue Rechte eine Gefühlsstruktur adressiert, eine Gefühlstruktur der Entfremdung und des Ressentiments. Da kommt man mit Faktenchecks nicht weit. Das wird eher als erweiterte Form der Herrschaft wahrgenommen. Außerdem hat sich diese Gefühlsstruktur oft über lange Zeit aufgebaut.

Und wie geht man nun damit um?

Sicher nicht so wie der aktuelle Kanzler, der diese Gefühle noch verstärkt. Er verwendet bewusst eine Sprache, die Migranten und Migrantinnen pauschal unter Verdacht stellt. Eine gewisse Selbstkritik, auch liberale Selbstkritik wäre ein Anfang, um sich wieder Glaubwürdigkeit zu erarbeiten. Sich einzugestehen, wir haben es schlecht gemacht bei den Innenstädten oder bei der Bahn. Oder wir haben zu viele Sozialwohnungen dem Markt überlassen, zu wenig gebaut, zu viele Genehmigungen für Bürobauten erteilt. Immer sind die anderen schuld, aber nie die Leute, die in Verantwortung waren.

Aber Politik steckt nun manchmal in Zwängen.

Ach, Austerität und das immerwiederkehrende Argument der Sachzwänge ist das, was die Bürger am tiefsten entfremdet hat. Wir müssen das tun. Oder jenes. Oder wir haben kein Geld, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und dann genügt ein Anruf des Deutsche-Bank-Chefs bei Peer Steinbrück und dann ist doch über Nacht Geld da. Genauso bei den Flüchtlingen, bei Corona oder beim Wehrdienst. Selbst wenn man diese Entscheidungen begrüßt, spürt doch jeder, dass dem Argument des Sachzwangs immer Interessen und ideelle politische Entscheidungen zugrunde liegen.

Was folgt daraus?

Man sollte politische Entscheidungen als das darstellen, was sie sind: Nicht Sachzwang, sondern Entscheidungen, die mit Welt- und Wertvorstellungen zusammenhängen. Diese Entpolitisierung hat viel mit Angela Merkel zu tun. Sie hat die Entpolitisierung der Politik inklusive ihrer asymmetrischen Demobilisierung am stärksten vorangetrieben. Bei ihr war Politik nur noch Technokratie und ein Ausbalancieren von Mehrheiten – aber nie wurde wirklich für Politik gekämpft.

Oliver Nachtwey, 50, ist Soziologie-Professor an der Universität Basel. Zusammen mit Caroline Amlinger, ebenfalls Soziologin in Basel, hat er den SPIEGEL-Bestseller „Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus“ verfasst. In dieser Woche bekommt das Duo den Geschwister-Scholl-Preis in München verliehen.

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Letzte Aktualisierung: 24. November 2025