Interview
Erscheinungsdatum: 02. Januar 2024

Ökonom Acemoğlu: „Wir müssen den naiven Optimismus ablegen, dass KI alles zum Besseren verändern wird“

Daron Acemoğlu gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen weltweit. In seinem neuen Buch geht es um den Zusammenhang zwischen Wohlstand und technologischem Fortschritt.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass neue Technologien wie KI nicht ausreichend reguliert sind und die meisten Arbeitnehmer in einer dystopischen Zukunft irrelevant werden. Ist das realistisch?

Für mich ist das ein Albtraum-Szenario. Aber Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Menschen das für eine schöne Utopie halten. Und das ist in gewisser Weise das Problem. KI wird in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht zu Massenarbeitslosigkeit führen. Aber wir haben in der Vergangenheit gesehen: Auch wenn neue Technologien Arbeitsplätze nicht im großen Stil zerstören, so machen sie die Arbeit doch weniger relevant und weniger gut bezahlt. Ich bin nicht besorgt, dass es keine Büroangestellten oder keine Buchhalter mehr geben wird. Aber ich bin besorgt, dass sie nicht mehr so gut bezahlt werden wie heute. In den USA zum Beispiel gehen die Realeinkommen von Arbeitnehmern ohne Uni-Abschluss seit Jahrzehnten zurück. Der Einsatz von KI wird dieses Phänomen noch verstärken, wenn wir nicht die richtigen Weichen stellen.

Da kommen uns sofort die digitalen Kontrollmechanismen der chinesischen Führung in den Kopf. Sollte das ein Vorbild für demokratische Gesellschaften sein?

Absolut nicht. Aber in den vergangenen 20 Jahren hat die Kommunistische Partei Chinas Milliarden von Dollar in die Entwicklung von KI und anderen Internet-Tools gesteckt und in diesem Zusammenhang Zensur und Überwachung perfektioniert. Es gibt es also einen sehr China-spezifischen Umgang mit KI und anderen digitalen Technologien. Und das ist ein großes Problem. China mag kein allgemeiner KI-Weltmarktführer sein, aber es hat in bestimmten Feldern eine Übermacht – etwa im Bereich der Gesichtserkennung. Auch müssen wir sehen: Technologien, die in China entwickelt wurden, bleiben nicht in China. Huawei etwa hat seine Technologien in mehr als 60 Länder exportiert.

Auch europäische und amerikanische Unternehmen exportieren Überwachungstechnologie. Kann man allein China den Schwarzen Peter zuschieben?

Nein, das will ich überhaupt nicht. Auch in den USA gibt es Tech-Konzerne, die Methoden entwickelt haben dafür, gewaltige Datenmengen zu sammeln und sie für polizeiähnliche Arbeit einzusetzen. Und das ohne jeglichen Regulierungsrahmen. Das kann sogar illegal sein, aber es gibt Polizeibehörden in den USA, die diese Daten trotzdem nutzen.

Wie steht es denn um die Bemühungen, KI zu regulieren?

Das ist eine komplexe Frage. Der Umgang der Chinesen mit dieser Technologie ist fragwürdig. So ziemlich alles, was die KP macht, trägt ein Kontrollelement in sich. Andererseits: China stellt eben auch unter Beweis, dass sich diese Technologien kontrollieren lassen, wenn auch auf drakonische Art und mit Zielen, die wir in demokratischen Gesellschaften nicht teilen. Das Argument, dass sich Tech-Konzerne nicht regulieren lassen, zieht also nicht. Wir sollten China nicht nacheifern. Aber China zeigt, dass es geht.

Gibt es nicht doch einen gewaltigen Unterschied? Wer in China die Regeln nicht befolgt, wird ins Gefängnis gesteckt.

Natürlich gibt es einen Unterschied. Aber ich glaube, die Androhung von Gefängnisstrafen braucht es gar nicht. Wir können es auch so machen: Wir drohen Unternehmen enorme Geldstrafen an – für den Fall, dass sie gegen Regeln verstoßen. Dann werden sie sich wahrscheinlich auch an die Regeln halten. Die EU geht in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran. Es ist ja nicht so, dass die EU diese Unternehmen schließen wollte oder gar könnte. Das sind US-Konzerne. Aber die EU ist ein sehr großer Markt. Das heißt: Die US-Unternehmen haben ein großes finanzielles Interesse, auf diesem Markt präsent zu sein.

Hat die Politik die Gefahren, die von der KI ausgehen, schon auf dem Radar?

Wenn wir uns vor drei Jahren darüber unterhalten hätten, hätte ich gesagt: US-Politiker haben das Problem nicht begriffen. Das hat sich sehr verändert. Viele Regierungsstellen sind mittlerweile sehr besorgt über mögliche Folgen des KI-Einsatzes. Und die EU-Kommission war der US-Regierung in dieser Hinsicht ohnehin schon immer weit voraus. Das dürfte auch für Deutschland gelten, das wirtschaftlich stärkste Mitgliedsland der EU. Aber die EU-Mitglieder stehen vor anderen Herausforderungen als die USA.

Inwiefern?

Einerseits spielt sie eine Führungsrolle bei der Regulierung, was sehr löblich ist. Andererseits muss die EU auch europäische Tech-Konzerne dazu bringen, vor Ort neue Technologien zu entwickeln. Ich will nicht zynisch klingen: Aber ein Grund, warum die EU in Sachen Regulierung den USA voraus ist, besteht darin, dass es bislang fast ausschließlich um die Regulierung von US-Konzernen geht. Europäische Politiker müssen sich also gar nicht davor fürchten, die Gans zu schlachten, die goldene Eier legt. Das ist in den USA anders. Das Silicon Valley trägt in großem Stil zur US-Wirtschaft bei, und das wissen die US-Politiker.

Was also tun?

Ich bin davon überzeugt, dass wir effektive Regeln brauchen. Und wir müssen den naiven Optimismus ablegen, dass KI schon alles zum Besseren verändern wird. Das wird nicht geschehen.

Worauf sollten wir uns vorbereiten? Worauf können wir uns vorbereiten?

Der Geist ist schon aus der Flasche. Künstliche Intelligenz wird viele Aspekte unseres sozialen Lebens und unserer Wirtschaft beeinflussen. Wir dürfen aber nicht fatalistisch werden. Wir haben noch viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Viele Fragen sind noch nicht beantwortet: Wer besitzt Daten? Wer kann sie wie verwenden? Was sind die Rechte von Arbeitnehmern? Wie verhindern wir, dass KI zu Massenüberwachung führt – in der politischen Sphäre ebenso wie am Arbeitsplatz?

Was können wir aus der Geschichte lernen? Wie sehr ist technologischer Fortschritt verantwortlich für Wohlstand?

In den vergangenen Jahrzehnten haben sowohl Politiker als auch Wirtschaftswissenschaftler gerne gesagt: Lasst der Technologie freien Lauf, davon wird schlussendlich jeder Mensch profitieren. Das basiert auf der Annahme, dass Technologie die Produktivität steigert, was am Ende sowohl Unternehmern wie Arbeitnehmern nutzt. Aus der Geschichte lässt sich diese Prämisse allerdings nicht grundsätzlich belegen. Natürlich gab es Fälle, in denen technologischer Fortschritt viel Gutes getan hat. Ohne die industrielle Revolution würde es uns heute nicht ansatzweise so gut gehen. Wir wären nicht so wohlhabend und auch nicht bei so guter Gesundheit. Aber es gibt eben auch Beispiele, die weniger erfolgreich waren. Es gibt also keinen Automatismus, dass technologischer Fortschritt zu mehr Wohlstand führt.

Nennen Sie bitte ein positives Beispiel.

Ab den 1950er- und 1960er-Jahren haben neue Produktionstechnologien mit fortschrittlichen Maschinen für ein paar Jahrzehnte zu einer gewaltigen Veränderung geführt. Die Produktivität stieg, aber auch die Reallöhne quer durch alle demographischen Gruppen stiegen in den USA im Durchschnitt um 2,5 Prozentpunkte im Jahr. In Deutschland war der Anstieg sogar noch steiler. Und in beiden Ländern nahm die soziale Ungleichheit nicht zu, sondern sogar ab. Es gibt also für diesen Zeitraum keinen Beleg, dass technologischer Fortschritt zu mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wohlstand geführt hätte.

Und ein negatives Beispiel?

Denken Sie an die Maschine, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Baumwoll-Produktion revolutionierte. Die Entkörnungsmaschine hat aus den zuvor wirtschaftlich völlig abgehängten US-Südstaaten eine der dynamischsten Regionen der Welt dieser Zeit gemacht. Es wurden gewaltige Vermögen angehäuft. Aber die Arbeitskräfte in der Baumwollindustrie, die Sklaven, hatten gar nichts davon. Es ging ihnen sogar schlechter. Wirtschaftlich war dieser technologische Fortschritt also ein voller Erfolg. Doch für die meisten Arbeiter waren die ersten 100 Jahre der industriellen Revolution von etwa 1750 bis 1850 eine schreckliche Zeit. Die Reallöhne stagnierten, die Arbeitsbedingungen wurden schlechter, die Arbeitsstunden stiegen.

Welche dieser Folgen wird der verstärkte Einsatz von KI haben?

Das wissen wir noch nicht, aber wir stehen an einer Weggabelung. Wenn wir KI, vor allem generative KI, richtig einsetzen, dann können wir sehr viel Gutes damit bewirken. Denken Sie an den Fachkräftemangel. Überall fehlen Elektriker, deren Arbeit ohnehin in Zukunft viel komplexer sein wird als sie es heute ist. Generative KI könnte helfen, dieses Problem zu lösen. Ein Elektriker müsste sich nicht mehr nur auf seine eigene Expertise verlassen, die natürlich beschränkt ist. Er könnte stattdessen von dem akkumulierten Wissen von Tausenden von Elektrikern profitieren. Und das in Echtzeit: Probier doch diese Methode, nimm doch dieses Teil. Ein Elektriker könnte dadurch ein Problem sehr schnell lösen.

Klingt gut.

Im Grunde geht mit dem Einsatz von generativer KI eine Neuorganisation der Arbeitsabläufe in vielen Branchen einher. Das Gesundheitswesen würde freundlicher zu Patienten und überdies weniger kostenintensiv. Und in Schulen fiele es Lehrern leichter, sich um lernschwache Schüler zu kümmern. Unglaublich eigentlich, dass solche guten Ideen nicht umgesetzt werden.

Woran liegt das?

Die Antwort ist simpel. Die Tech-Konzerne kümmern sich nicht darum. Die wollen mit KI Geld verdienen - in Form von zum Beispiel digitalen Anzeigen. Und wir dürfen die ideologische Komponente nicht vergessen. Ziel der Konzerne ist es, durch den Einsatz von Computern und KI autonome Maschinenintelligenz zu generieren. Um die Arbeitskräfte geht es nicht. Das ist eine bösartige Ideologie, die in Silicon Valley weit verbreitet ist.

Wenn sich schon die Tech-Konzerne nicht kümmern, wäre das doch eine Aufgabe für die Politik.

Da sind wir wieder bei der Frage nach der Regulierung. Die Politik kann neue Technologien nicht entwickeln. Aber sie kann Regeln aufstellen. Und sie kann zusammen mit der Zivilgesellschaft versuchen, Werte und Normen zu definieren, damit Technologie den Menschen zugutekommt und nicht nur den Konzernen.

Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Medien müssten eine wichtige Rolle übernehmen und aufklären. Sie tun es aber nicht. Stattdessen gehen sie Tech-Größen wie Elon Musk auf den Leim und glorifizieren sie sogar noch. Kritische Stimmen schaffen es dagegen kaum, sich Gehör zu verschaffen.

Es heißt, die neuen Technologien könnten bei Menschheitsaufgaben wie dem Klimawandel helfen. Müssten wir nicht gerade deswegen offener gegenüber diesen Technologien sein?

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Technologien ein wichtiger Bestandteil sind, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Niemand wird widersprechen, dass der Ausbau der Erneuerbaren wichtig ist. Ich finde übrigens auch, dass Deutschland einen großen Fehler gemacht hat, als es aus der Atomkraft ausgestiegen ist. Dadurch geht saubere Energie für die Zeit verloren, die es für den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas braucht. Aber: Das heißt noch lange nicht, dass Technologie ein Wundermittel ist. Wir brauchen immer noch Regeln, anhand derer wir die Technologien einsetzen. Das heißt aber wiederum nicht, dass die Regierungen Mikromanagement betreiben und sich in unternehmerische Entscheidungen einmischen sollten.

Haben wir angesichts des rasanten Klimawandels denn noch Zeit, auf das Mikromanagement des Staates zu verzichten?

Wir haben in der Tat keine Zeit zu verlieren. Aber ich glaube nicht, dass staatliches Mikromanagement die Lösung ist. Regierungsbürokraten sind keine Experten auf dem Gebiet der Innovation. Der Staat sollte lieber viel stärker als bisher klare Regeln aufstellen und zum Beispiel die Erneuerbaren pushen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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