Vor zwei Jahren ist Ihr Buch „Über Israel reden“ erschienen. Was hat sich seitdem verändert?
Durch den 7. Oktober hat sich natürlich viel verändert. Aber die Grundthesen aus dem Buch stimmen heute nach wie vor. Die Debatte über Israel und Palästina verläuft in Deutschland sehr selbstreferenziell. Wenn von dem Thema die Rede ist, geht es weniger um die Menschen dort und mehr um das Selbstverständnis von Menschen hierzulande.
Wie meinen Sie das?
Verhandelt werden Fragen wie: Zu welcher Gruppe gehöre ich? Wer sind meine Freunde, wer sind meine Feinde? All das bestimmt die Debatte viel mehr als das, was wirklich vor Ort passiert.
Laut einer Umfrage hat rund die Hälfte der Deutschen wenig bis kein Vertrauen in die Berichterstattung zum Krieg. Medienschaffende selbst sagen, ihre Redaktionen würden einseitig berichten. Wie kann man das ändern?
Das Grundproblem ist: Egal, wie darüber berichtet wird, der Vorwurf kommt immer. Bei anderen Konflikten ist das anders: Wenn es um Bergkarabach oder den Sudan ginge, würden wir erst mal zuhören, uns auf die Infos einlassen. Bei Gaza ist es so: Wenn es nicht zu meinem vorherigen Standpunkt passt, gilt es als einseitig. Das geht in beide Richtungen.
Welche Rolle spielt die Sprache? Jemand, der auf einer „propalästinensischen“ Demonstration ist, muss ja nicht automatisch antiisraelisch sein und umgekehrt.
Es wird mit einzelnen Begriffen versucht, eine moralische Deutungshoheit zu gewinnen. Bist du für oder gegen BDS? Sagst du Genozid oder nicht? Und je nachdem bist du mein Freund oder mein Gegner.
Also kann man gar nicht mehr über Israel und Gaza sprechen, ohne dass jemand sich angegriffen fühlt, weil das eigene Weltbild nicht bestätigt wird?
Genau. Mein 15-jähriger Sohn wurde neulich von Mitschülern in die Zange genommen, die wussten, dass er israelische Wurzeln hat. Sie wollten ihn verprügeln, wenn er nicht zugebe, dass das in Gaza gerade ein Genozid sei. Dabei wussten die sicher nicht, was das überhaupt ist.
Was muss denn passieren, dass wir in Deutschland von dieser Verhärtung der Fronten wegkommen?
Statt Polarisierung brauchen wir mehr Wissen über die Geschichte und die Realität vor Ort. Ich stelle immer wieder fest, dass basale Informationen über die Geschichte und die Komplexität des Nahostkonflikt in der breiten Bevölkerung fehlen.
Was empfehlen Sie?
Der Nahostkonflikt ist für Jugendliche sehr präsent. Allerdings erfahren sie darüber fast ausschließlich aus den sozialen Medien und ihrer Peergroup. Für mich bedeutet das, dass wir schon in der Schule Wissen über die Region und den Konflikt vermitteln müssen – und zwar auf eine Weise, die beide Narrative gleichwertig abbildet. Sonst können wir keine substanzielle und differenzierte Debatte führen.
Medienwissenschaftler kritisieren, der Antisemitismus-Vorwurf werde instrumentalisiert, um Kritik an Israel zu diskreditieren. Sehen Sie das auch so? Ja, er wird ganz eindeutig inflationär gebraucht und oft missbraucht, um die israelische Regierung gegen Kritik zu immunisieren. Die aktuelle rechte Regierung ist sehr bemüht, die Grenzen zu verwischen und harte Kritik an ihrer Politik, die eindeutig nicht antisemitisch ist, mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu überziehen. Aber das Ganze hat zwei Seiten.
Was ist die zweite Seite?
Es gibt auch wahre Antisemiten, die ihre Vorurteile gegen Juden als „Israelkritik“ legitimieren wollen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht mehr salonfähig, antisemitisch zu sein. Die ganzen Antisemiten hatten ab 1948 aber eine Lösung, indem sie sagten, dass sie nicht mehr antisemitisch, sondern israelkritisch seien. Wenn eine rechte Partei zum Beispiel die Parole „Israel ist unser Unglück“ plakatiert, weiß jeder genau, was damit gemeint ist. Legal ist es trotzdem, wie Gerichte in drei Instanzen geurteilt haben.
Was folgt daraus?
Der Ottonormalbürger muss genau unterscheiden: Handelt es sich um einen Antisemiten, der seine Rhetorik mit Kritik an Israel verschleiert? Oder ist es jemand, der tatsächlich eine politische Kritik hat und zu Unrecht mit dem Vorwurf überzogen wird? Es gibt keine einfache Antwort.
Wie blicken Sie auf das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Israel?
Ich plädiere schon lange dafür, dass Deutschland weniger diplomatisch wird und sich – als Freund Israels – klarer positioniert, auch durch eine Anerkennung Palästinas als Staat. Die jetzige israelische Regierung ist vielleicht die größte Gefahr für die Zukunft Israels. Ich habe auch im Rahmen der Verhandlungen zwischen Union und SPD – erfolglos – dafür plädiert, dass die Kriegsführung im Koalitionsvertrag klar verurteilt wird. Ich finde es sehr problematisch, dass der kommende Bundeskanzler schon im Vorfeld klargestellt hat, dass er mit Blick auf den Haftbefehl gegen Netanjahu das internationale Recht ignorieren will.
Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit? Es wurden Demonstrationen verboten, es gab die BMBF-Fördermittelaffäre und mehrere Leute sollen wegen ihrer Teilnahme an Uni-Protesten abgeschoben werden.
Nach meinem Ermessen sind oft zu rigorose Mittel in die Hand genommen worden. Damit wurde dem Kampf gegen Antisemitismus kein Gefallen getan, ganz im Gegenteil. Schülerinnen und Schülern wurden palästinensische Symbole verboten, es wurden Konferenzen und Preisverleihungen abgesagt, Menschen wurden präventiv ausgeladen wie zuletzt Omri Boehm in Buchenwald: Das ist alles problematisch.
Inwiefern?
Zu versuchen, einfach aus der Welt zu schaffen, was einem nicht in den Kram passt, ist auf beiden Seiten nicht zielführend. Das ist antidemokratisch und ein Armutszeugnis für unsere Debattenkultur.
Wenn beide Lager rhetorisch immer weiter aufrüsten und immer weniger Gegenpositionen zu Wort kommen lassen, verhärten sich die Lager. Braucht es da mehr Gelassenheit?
Paradoxerweise werden Leute mehr gehört, wenn sie ausgeladen werden. Ich bin mir sicher, Boehms Rede hat in der Süddeutschen Zeitung mehr Leute erreicht, als wenn er sie vor 300 Leuten bei der Gedenkveranstaltung gehalten hätte. Aber ich stimme Ihnen zu: Die Debatte wird immer polarisierter, es wird mit Stempeln gearbeitet.
Und zwar?
Pro-Palästina, Pro-Israel, Antisemit, Rassist, BDS-Unterstützer. Meine Frau und ich haben mal eine Konferenz organisiert, bei der wir Leute aus beiden Lagern zusammenbringen wollten. Wir haben fast identische Antworten bekommen. Die einen sagten: Ja, ich komme, aber ich werde mich nicht mit Leuten an einen Tisch setzen, die den Begriff Genozid verwenden. Die anderen sagten: Ja, ich komme, aber ich werde mich nicht mit Leuten an einen Tisch setzen, die den Genozid leugnen.
Was muss sich ändern, damit wieder mehr Gespräche möglich sind?
Wir brauchen mehr Streit – aber solchen bei dem die Leute nicht übereinander, sondern miteinander streiten. Nicht in den sozialen Medien, sondern in realen Räumen. Meine Erfahrung aus den letzten Monaten ist, dass Leute massiv von ihren eigenen Communitys bedroht und als Verräter beschimpft werden, wenn sie das tun.
Was kann man da tun?
Es braucht mehr Mut, auch der eigenen Community gegenüber deutlich zu machen, wie wichtig es ist, mit Leuten zu sprechen, die nicht der eigenen Meinung sind. Wir müssen uns trauen, nicht die ganze Zeit diese Selbstbestätigung zu bekommen, auf dem einzig möglichen moralischen Standpunkt zu stehen.