Interview
Erscheinungsdatum: 08. September 2024

Melanie Stein: „Vielen Vermögenden fehlt das Verständnis für die Region"

Seit 2019 will die Initiative Wir sind der Osten die Vielfalt Ostdeutschlands sichtbar machen. Die Geschäftsführerin sieht Fortschritte in der Debatte, erwartet aber auch Änderungen von der Politik.

Wie reden wir in der Gesellschaft über Ostdeutschland?

Vor der Gründung von „Wir sind der Osten“ wurde häufig medial von „dem Ostdeutschen“ gesprochen und der rechtsextreme Wähler gemeint – das habe ich für eine wehrhafte Demokratie als problematisch empfunden. Gleichzeitig haben viele Menschen aus der ostdeutschen Region ihre Herkunft nicht sichtbar gemacht. Wir haben sie ermutigt, genau das zu tun und ihre Perspektiven zu zeigen. Heute ist die Medienberichterstattung deutlich differenzierter.

Sie waren rund um die Landtagswahlen viel in den Medien. Wie erleben Sie die aktuelle Berichterstattung?

Mich freut es, dass in Talkshows häufiger ostdeutsche Stimmen vorkommen. Gleichzeitig werden Narrative bevorzugt, die die Ursachen für die Probleme in der DDR sehen. Umfragen zeigen aber, dass die AfD vor allem von Menschen gewählt wird, die durch die Nachwendezeit – also Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg – geprägt worden sind. Das ist natürlich unbequem für die Politik, weil sie die Verantwortung für diese Zeit trägt. Aber genau darüber müssen wir sprechen. Und noch etwas ist mir aufgefallen.

Und zwar?

Während die Gegenproteste wie jene bei Pegida-Demos vielen Nachrichten oft nur einen Halbsatz wert waren, gibt man engagierten Menschen mittlerweile mehr Raum. Das wurde vor allem Anfang des Jahres deutlich. Kurz vor den Wahlen lag der Fokus dann aber leider wieder stark auf der AfD. Das zeigt auch eine aktuelle Medienanalyse : Demnach liegt die AfD hinsichtlich ihrer Sichtbarkeit bei ARD und ZDF auf dem dritten Platz. Das ist ein Problem.

Warum?

Mediale Sichtbarkeit kann zu Gewöhnung und letztlich zur Beeinflussung des Wahlverhaltens bei Unschlüssigen führen. Gerade in der entscheidenden Phase vor Wahlen wurde über die Linke oder die Grünen kaum berichtet – obwohl beide Parteien in den Landesregierungen waren und die Grünen in der Bundesregierung sind. Besonders am Wahltag fand ich das problematisch.

Inwiefern?

Der Spiegel hat beispielsweise am 1. September einen Post mit Björn Höcke auf Instagram gepostet, auf dem er seinen rechten Arm hebt. Die Überschrift „Warum rechte Kräfte in Thüringen so erfolgreich sind“. Ich finde es problematisch, dass diejenigen, die die Inhalte planen, sich der psychologischen Mechanismen und ihrer Verantwortung offenbar nicht ganz bewusst sind.

Der AfD-Vorsprung in den sozialen Netzwerken gilt als ein Grund für ihren Erfolg unter jungen Menschen. Welche Gründe sehen Sie?

Die Überrepräsentanz auf Tiktok spielt ganz klar eine zentrale Rolle. Außerdem werden Desinformationen oft in Gruppenchats geteilt. Dazu kommt ein starkes Bedürfnis junger Menschen nach Identität, Zugehörigkeit und Gerechtigkeit. Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt beispielsweise, dass junge Menschen ihre Eltern rächen wollten für das, was sie in den Jahren nach der friedlichen Revolution durchgemacht haben. Wir sehen aber auch deutlich, dass ein gutes Abschneiden der AfD in dieser Altersgruppe kein ostdeutsches Phänomen ist.

Wie sollte man damit umgehen?

Wichtig ist, dass Schulen und Lehrer Haltung beziehen. Außerdem braucht es mehr Angebote von außen. Bislang gibt es vor allem Mentoring-Programme für Schülerinnen und Schüler in den westdeutschen Bundesländern. Dabei ist der Ort Schule vor allem für junge Menschen bedeutsam, in deren Umfeld rechtsextreme Narrative normal sind. Politische Entscheidungen werden maßgeblich vom familiären Umfeld geprägt.

Was empfehlen Sie?

Es gibt gute digitale Bildungsangebote, die Lehrkräfte bei ihrer Arbeit unterstützen – zum Beispiel die Plattform „Und heute“ von den Arolsen Archives, dem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung. In Thüringen ist mit dem neuen Schuljahr außerdem das Fach Informatik und Medienbildung gestartet. Für Schüler und Schülerinnen ist es essenziell, zu verstehen, wie man Fake News erkennt. Natürlich spielt auch das Thema politische Bildung eine Rolle: Mit welchen Mitteln kann ich in einer Demokratie neben Wahlen mitgestalten? Wie kann ich in Parteien mitwirken und wie funktionieren zum Beispiel Bürgerentscheide?

Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft?

Mit dem Wegfall des SED-Regimes ist auch ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens weggebrochen. Der vorpolitische Raum mit Vereinen und Initiativen musste größtenteils neu entstehen. Es gab noch keine wehrhafte Zivilgesellschaft. Das hat sich verändert, aber auch hier gibt es Ungleichheit. Laut einer Umfrage von uns sehen sich etwa 70 Prozent der Initiativen finanziell nicht für ihre aktuellen Aufgaben gewappnet. Und rund 40 Prozent machen sich Sorgen um ihre Sicherheit, wenn sie für ihre Organisation im Einsatz sind.

Was kann man da machen?

Mehr Strukturförderung statt Projektförderung und weniger bürokratische Hürden. Man sollte auch gemeinnützigen Organisationen die Möglichkeit geben, sich spezialisieren zu können und die eigene Expertise auszubauen. In Deutschland geben meist Stiftungen und Bundesprogramme zum Teil sehr spezifische Richtlinien vor, was Organisationen immer wieder zwingt, von ihrem Kerngeschäft abzuweichen. In der Wirtschaft wäre das so nicht denkbar.

Im Juli haben mehrere Stiftungen einen Gemeinschaftsfonds „Zukunftswege Ost“ gestartet. Was halten Sie davon?

Ich bin dankbar für jede Initiative, die etwas verändern will und ostdeutsche Organisationen fördert. Zum 1. September gab es die ersten Ausschüttungen, allerdings können die meisten Organisationen mit maximal 5.000 Euro pro Projekt ihre Kosten natürlich nicht decken. Der Fonds „Vereint für Demokratie“ schüttet deutlich höhere Beträge aus. In Anbetracht der Situation müssten allerdings mehr Vermögende ihrer Verantwortung gerecht werden.

Das heißt?

Aktuell fällt uns in Sachen Demokratieförderung die Vermögensungleichheit zwischen Ost und West auf die Füße. Insgesamt werden zu wenige ostdeutsche Organisationen gefördert. Vielen Vermögenden fehlt das Verständnis für die Region, aber auch für den Ernst der Lage.

Wie schauen Sie in die Zukunft?

Es ist wichtig, nicht schwarzzumalen, sondern auf Lösungen zu schauen. Strukturelle Ungleichheit kann überwunden werden, dafür braucht es aber politischen Willen. Wenn die CDU sagt, es gebe keine Lösung für Vermögensungleichheit – wie beim Gespräch mit uns in den Tagesthemen –, dann ist das nicht richtig. Die Maßnahmen sind hinlänglich bekannt.

Welche meinen Sie?

Beispielsweise höhere Erbschaftssteuern oder ein Grunderbe. Ohne politische Maßnahmen wird sich die Situation weiter zuspitzen. Deshalb sehe ich besonders konservative Parteien in der Verantwortung, an Lösungen mitzuarbeiten – und mit Blick auf das Demokratiefördergesetz auch, Demokratie nicht zum links-grünen Thema zu erklären. Demokratieförderung geht uns alle an.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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