Interview
Erscheinungsdatum: 28. August 2024

Ilko-Sascha Kowalczuk: „Vielleicht kann man an die Unentschlossenen herankommen“

Der Historiker beklagt in seinem neuen Buch „Ostdeutschtümelei“, die „wie eine Seuche“ grassiere – und fordert eine Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik.

Was haben die anstehenden Landtagswahlen mit Geschichte zu tun?

Was bei den Wahlen im Osten auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die repräsentative Demokratie, die Freiheit, die offene Gesellschaft. Da interessiert mich als Historiker schon die Frage: Wie kam es, dass sich das alles so zuspitzt?

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, die Menschen in Ostdeutschland würden einen „Rucksack“ mit sich herumtragen, der sie prägt. Was meinen Sie damit?

Warum gibt es dort so eine große Zustimmung zu AfD und BSW, warum so eine Affinität zu Putin und Russland? Das lässt sich nicht nur mit rational nachvollziehbaren Gründen wie dem großen Reformstau und den vielen ungelösten Problemen erklären. Vielmehr muss man das in einen historischen Kontext stellen und das versuche ich im Buch.

Sie bezeichnen AfD, BSW und Linke als „autoritäre, antiwestliche und kremlnahe Parteien“. Sind alle drei für Sie gleich schlimm?

Es sind alles Parteien, die sich klar gegen das liberale Staatssystem stellen – natürlich gibt es dennoch Unterschiede. Bei AfD und BSW sind diese vor allem in der Sozialpolitik zu suchen. Gleichzeitig streben beide in meinen Augen ein autoritäres System an und ähneln sich in Fragen wie der nach der Außenpolitik, die sie anstreben. Bei der Linken hat sich die Situation seit dem Auszug des Wagenknecht-Flügels etwas verändert, aber die Partei droht ja ohnehin in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen.

Sie greifen in Ihrem Essay auch Autorinnen wie Katja Hoyer und Jenny Erpenbeck an und werfen Ihnen „Ostdeutschtümelei“ vor. Warum?

Ich attackiere keine Menschen, sondern Bücher – das ist ein großer Unterschied. Wenn Personen angegriffen werden, stelle ich mich vor die. Das habe ich neulich auch bei Sahra Wagenknecht gemacht, als sie in meinen Timelines auf Social Media wegen ihrer Kinderlosigkeit angegangen wurde. Mir geht es um den öffentlichen Diskurs, um die Debatte. Auch über mich selbst ist gerade eine Hasswelle gerollt, die ich interessant finde.

Wie meinen Sie das?

Viele dieser Menschen bestätigen das, was ich konstatiere: dass sie demokratie- und freiheitsunfähig sind. Ich bewundere all die Politikerinnen und Politiker, die sowas seit Jahren Tag für Tag aushalten müssen und sich nicht unterkriegen lassen. Wir müssen aber auch nicht über jedes Stöckchen springen, das uns die Extremisten hinhalten. Wir sollten mehr über die Ehrenamtler reden; über all die, die unser Land alltäglich am Laufen halten. Dafür braucht es auch mehr konstruktiven Journalismus.

Sie sprechen von einer „Spirale der Empörung und Geringschätzung“. Wie kommt man da heraus?

Das weiß ich nicht. Was ich hoffe, ist, dass wir Mittel und Wege finden, um die Partizipationsmöglichkeiten in der Demokratie zu erhöhen. Die Menschen müssen selbst in Entscheidungsfindungsprozesse – gerade auch auf kommunaler Ebene – einbezogen werden, um festzustellen, wie kompliziert das ist. Aber wir müssen auch damit leben lernen, dass 20 oder 25 Prozent einer jeden Gesellschaft für das herrschende politische System nicht empfänglich sind. Deswegen sollten wir uns mehr um die anderen kümmern.

Sie haben im Rahmen einer PEN-Gesprächsreihe anlässlich der Wahlen mit Dirk Oschmann über Meinungsfreiheit gesprochen. Was hat das gebracht?

Ich glaube nicht, dass solche Veranstaltungen die Milieus erreichen, um die es eigentlich geht. Aber man kann damit das demokratische Milieu stärken, Argumente anbieten und vielleicht an die Unentschlossenen, die Wankelmütigen herankommen. An die Passiven, die glauben, Demokratie realisiert sich irgendwie von allein – die aber noch nicht an das extremistische Lager verloren sind. In dieser Hinsicht fand ich die Diskussion, die wir in Chemnitz geführt haben, ermutigend.

Zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie soll es einen Bürgerrat und eine Enquetekommission geben. Bräuchte es sowas auch für die Zeit seit 1989?

Ich war Mitglied der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Da wollten wir solche Instrumente ausprobieren, aber das war durch Corona dann nicht mehr möglich. Ich bin dafür, dass man Kommissionen einsetzt auf Bundes- und Landesebene, um über partizipative Elemente wie Bürgerräte nachzudenken.

Sie schreiben: „Eine Zeitenwende würde es bedeuten, die Schuld Deutschlands am Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine selbstkritisch aufzuarbeiten.“ In welcher Form sollte das geschehen?

Das wäre etwas für eine Enquetekommission. Die deutsche Russlandpolitik hat in den letzten Jahrzehnten viele Fehler gemacht. Und die meisten, die dafür verantwortlich sind, hatten keine böse Absicht. Sie glaubten einfach, das sei der richtige und der beste Weg, obwohl es immer viele warnende Stimmen gab. Es wäre zukunftsweisend, das aufzuarbeiten.

Inwiefern?

Es würde uns bei der Frage helfen, wie wir in Zukunft Außenpolitik machen wollen. Wie gehen wir mit Diktaturen um, inwiefern spielen Menschenrechte eine Rolle? Das sind Fragen, die uns weiter begleiten werden.

Sie sind beurlaubter Projektleiter des Stasiunterlagen-Archiv. Gibt es Bereiche der ostdeutschen Geschichte, die aus Ihrer Sicht noch zu wenig erforscht sind?

Ja, beispielsweise die Frage, warum People of Color in Ostdeutschland so einen schweren Stand haben. Ein anderer Punkt ist die Geschlechterfrage, die trotz viel Forschung bisher eher klischeebehaftet betrachtet wird. Oder die Umweltsituation: Die schlimme Lage in der DDR war ein zentraler Grund für den Sturz des Systems, heute sorgen sich im Osten immer weniger Menschen um dieses Thema. Was ist da in den letzten 35 Jahren passiert? So könnte man im Prinzip jeden Punkt durchgehen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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