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Erwartungen an Parteivorsitzende: „Vertrauen ist ein ganz zentraler Wert"

Parteimitglieder erwarten von ihren Vorsitzenden Vertrauenswürdigkeit, Integrität und Kompetenz. Das geht aus einer Studie des Trierer Politikwissenschaftlers Marius Minas hervor, der mehr als 20.000 Antworten ausgewertet hat.

22. Dezember 2025
Marius Minas (privat)

Sie haben sich umfassend mit den Erwartungen von Parteimitgliedern an ihre Vorsitzenden beschäftigt. Was ist den Mitgliedern besonders wichtig an ihren Führungsleuten?

Ganz einfach ist das gar nicht zu beantworten. Parteimitglieder haben bestimmte Vorstellungen, aber keine einheitlichen. Es gibt drei idealtypische Profile vermeintlich guter Parteivorsitzender, die wir herausgearbeitet haben.

Wie sehen die aus?

Da ist zum einen die politische Medienfigur, die charismatisch ist, gute Kommunikationsfähigkeiten nach außen besitzt, in Medienformaten im Fernsehen oder über soziale Medien gut abliefert und sich nach außen durch Strahl- und Führungskraft auszeichnet.

Haben Sie ein anschauliches Beispiel für diesen Typus?

Für mich würde Heidi Reichinnek von der Linkspartei dazu zählen, die durch ihre Auftritte zu einer Führungsfigur geworden ist. Wir haben diesen Typus Political Media Idol genannt, die politische Medienfigur.

Gilt das nicht auch für Sahra Wagenknecht?

Ja, wobei die eher ein anderes Profil verkörpert.

Wie sieht das aus?

Wir haben dieses Profil Smart Commander genannt – ein Typ Führungskraft, bei dem zwei Arten von Eigenschaften zusammenkommen: zum einen Intelligenz und Bildung, zum anderen Dominanz, Entschlossenheit und Selbstbewusstsein. Ein Typus, der klug und umsichtig Entscheidungen für die Partei trifft, aber auch ein eher hierarchisches Modell.

War Oskar Lafontaine ein solcher Typ?

Ja, oder auch Anke Rehlinger, die sich über Wirtschaftskompetenz definiert und einen Führungszirkel um sich gebildet hat. Es sind Personen, die zum einen inhaltlich herausragen, und zum anderen aufgrund ihrer Führungsstärke nicht infrage gestellt werden.

Und der dritte Typ?

Das ist ein eher integrativer Führungstyp, der eher moderierend auftritt und dessen Führung auf gewachsenem Vertrauen basiert. Wir haben diesen Typus Trust Beacon genannt, eine Art Vertrauensanker. Dazu fallen mir Daniel Günther oder Robert Habeck ein. Das ist der Typ, der in Reinform am schwierigsten zu finden ist, weil sich Vertrauen immer erst über längere Zeit aufbaut.

Würde der SPD-Chef Lars Klingbeil auch dazu zählen?

Nicht eindeutig, weil auch er über die letzten ein, zwei Jahre eine hierarchische Führungsstruktur aufgebaut hat. Den würde ich eher zwischen Trust Beacon und Smart Commander sehen. Überhaupt kommen die Reinformen eigentlich eher selten vor, die Regel sind Mischformen.

Sind das nun die Projektionen der Mitglieder oder sind das die Typen, die Sie versucht haben zu kategorisieren?

Das sind Idealtypen. Wir kennen aus der Parteienforschung und -literatur 33 Eigenschaften, die mit guter Führung in Zusammenhang gebracht werden. Die Parteimitglieder haben diese Attribute mit „überhaupt nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“ bewertet. Und daraus haben wir Muster herausgearbeitet.

Wie viele Mitglieder aus welchen Parteien haben Sie befragt?

Um die 20.000 Mitglieder haben geantwortet, unterstützt haben uns die CDU, SPD und die Grünen.

Gibt es in den Parteien unterschiedliche Erwartungen an ihre Führung?

Da muss man sorgfältig differenzieren. In der Bewertung der einzelnen Eigenschaften gibt es erstaunlicherweise kaum signifikante Unterschiede. Nicht nur über die Parteien hinweg, sondern auch in puncto Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad. Das einfache Mitglied hat ähnliche Erwartungen wie der Funktionär oder der Mandatsträger.

Das heißt, alle haben an die drei Typen ähnliche Erwartungen?

Einerseits ja. Vertrauen ist ein ganz zentraler Wert, über alle Parteien und Kohorten hinweg. 83 Prozent der Befragten messen dem vertrauenserweckenden Anführer eine sehr hohe Bedeutung zu. Gut 14 Prozent präferieren den umsichtigen Commander und nur zweieinhalb Prozent wollen am liebsten die politische Medienfigur. Immer unter der Maßgabe, dass man sich für einen der Typen entscheiden muss – da ist die Präferenz für die Vertrauensfigur eindeutig.

Und es gibt auch keine Abweichungen innerhalb der Parteien?

Doch. Innerhalb der CDU etwa gibt es eine etwas höhere Affinität zum umsichtigen, klugen Kommandeur – aber auch in der Union liegt der Vertrauenstyp mit 76 Prozent weit vorne.

Was erwarten Sozialdemokraten von ihren Vorsitzenden?

Den Sozialdemokraten liegt sehr viel an Integrität. Es ist der bei ihnen höchste gemessene Wert. Auf einer Skala von 0 bis 6,0 erreicht Integrität den sehr hohen Wert von 5,6. Die Ehrlichkeit liegt als Wert mit 5,5 ähnlich hoch, genauso wie auch der konstruktive Umgang miteinander. Das sind drei Eigenschaften, die sehr auf den Vertrauenstyp hinweisen. Dann ist noch Intelligenz und Fachkunde gefragt, die wir aber eher dem Typus Smart Commander zuordnen. Sozialdemokraten legen zudem mehr als andere Wert auf Kommunikationsfähigkeiten und eine politische Vision.

Sind persönliche Eigenschaften wichtiger als Inhalte?

Natürlich ist Persönlichkeit nicht alles. Ein guter Vorsitzender muss auch inhaltlich mit den Vorstellungen der Mitglieder übereinstimmen. Der gute Parteivorsitzende ist die Person, der am ehesten zugetraut wird, gemeinsam definierte Ziele zu verfolgen. Solange diese Erwartungshaltung existiert und die Mitglieder sich dabei abgeholt fühlen, ist die Führung stabil. Wenn nicht, erodiert sie.

Wie viel Beinfreiheit haben Vorsitzende? Erlauben die Mitglieder gewisse Spielräume oder haben sie eher eng begrenzte Erwartungen?

Gute Frage. Aber im Grunde können politische Führende ihre Kraft nur maximal entfalten, wenn ihnen Beinfreiheit gewährt wird. Führungsleute müssen sich einerseits diese Beinfreiheit erwerben, gleichzeitig muss Führung auch die Mitgliederlogik beachten.

Das ist ja ein schmaler Grat.

Absolut. Deshalb ist es auch so wichtig, dafür Mechanismen zu entwickeln, die eine gewisse Beinfreiheit erlauben. Das ermöglicht Handlungsfähigkeit und schnelle und effektive Reaktionen. Gleichzeitig braucht es umgekehrt Kontrollmechanismen gegenüber der Führung, damit diese einen gewissen Korridor einhält. Aber klar ist auch: Alle Mitglieder kann man in dieser schnelllebigen Zeit nicht mehr mitnehmen.

Haben Frauen andere Erwartungen als Männer an ihr Führungspersonal?

Auf der Ebene der Eigenschaften kaum. Es gibt kleine Abweichungen: Frauen lassen eine leicht höhere Präferenz für den Vertrauenstyp erkennen, beim Mann ist die Wahrscheinlichkeit etwas höher, dass er die politische Medienfigur bevorzugt.

Haben konservative Parteimitglieder andere Erwartungen an ihr Führungspersonal als zum Beispiel Grüne?

Konservative Mitglieder erwarten mehr Kompetenz, während grüne Mitglieder eher auf Charaktereigenschaften achten. Das habe aber nicht ich erhoben, darauf haben schon andere, frühere Untersuchungen hingewiesen.

Wie unterscheiden sich ältere von jüngeren Parteimitgliedern?

Jüngere tendieren leicht häufiger zur Medienfigur. Die Älteren bevorzugen eher den umsichtigen Kommandeur. Das hat vermutlich auch etwas mit der persönlichen Sozialisierung der Generationen zu tun, ist aber nicht empirisch unterlegt.

Gibt es in der Erwartungshaltung einen Unterschied zwischen dem einfachen Parteimitglied und dem Funktionär oder Abgeordneten?

Die Funktionäre und Mandatsträger tendieren eher zur Medienfigur. Vermutlich, weil gerade die Mandatsträger ja abhängig sind von einer starken Führung. Die einfache Basis wünscht sich eher den Smart Commander. Die hätten gerne eine einheitliche, dominante Person an der Spitze, die auf ihre Interessen eingeht.

Sie behaupten, Parteimitglieder wollten bessere Versionen ihrer selbst als Führungsfiguren. Hat sich das geändert in den letzten Dekaden, denn Adenauer, Brandt und Schmidt waren ja sehr eigene Typen und hatten wenig mit dem Durchschnittsdeutschen gemein?

Auch das sind nicht meine Forschungsergebnisse. Aber wichtig ist: Ich habe Mitglieder untersucht und nicht Wähler, und beide Kohorten haben ganz verschiedene Erwartungen an Führung. Wähler tendieren eher in Richtung Mitte und zu moderaten Typen, etwa zu Angela Merkel, die sicher moderater war als der Rest ihrer Partei. Auch Olaf Scholz gehörte ja nicht unbedingt dem linken Flügel der SPD an.

Noch einmal: Wollen die Mitglieder Typen, wie sie sie selbst darstellen?

Das ist ein bisschen paradox: Ich hatte nebenbei auch die Ähnlichkeit zu sich selbst abgefragt. Häufig hieß es, Geschlecht, Bildung oder Alter seien egal. Aber was die Befragten dann angekreuzt haben, entsprach hoch überdurchschnittlich Parametern, die sie selbst darstellen. Frauen, denen nicht alles egal ist, wollen in der Regel eine weibliche Vorsitzende. Jüngere Leute wollen jemand Junges, Ältere jemand Älteren. Niedriger Gebildete wollen einen niedriger Gebildeten, höher Gebildete auch einen ihresgleichen.

Wie ist in diesem Licht zu bewerten, dass nur neun Prozent der SPD-Mitglieder einen Hochschulabschluss für wichtig erachten, ein akademischer Abschluss ihres Vorsitzenden aber über 20 Prozent der Unionsmitglieder wichtig ist?

Da geht es immer um das Mindestniveau an Bildung, liegt aber bei den Sozialdemokraten tatsächlich unter zehn Prozent.

Sie schreiben auch: Weniger verträgliche Politiker sind erfolgreicher. Soll das heißen, ein bisschen Rauflust gehört für erfolgreiche Politiker dazu?

Das ist ein älterer Befund, den ich zitiere. Man kann einfach niemanden an die Spitze einer Partei stellen, der bei Gegenwind gleich umfällt. Es braucht jemanden, der auf dem Boden steht und für seine Werte und Ideale auch eintritt.

Ein weiterer Befund: Persönlichkeitsmerkmale spielen bei Wahlentscheidungen eine zunehmende Rolle. Heißt das im Umkehrschluss, Inhalte und Programme rücken in den Hintergrund?

Vor allem die Parteiorientierung der Wähler rückt in den Hintergrund. Zum einen lässt die Parteibindung nach, zum anderen fallen Themen- und Kandidatenorientierung zunehmend kurzfristiger aus und rücken erst kurz vor der Wahl in den Vordergrund. Außerdem: Themen und Personen sind gar nicht mehr voneinander zu trennen. Viel mehr als früher transportieren und verkörpern Personen auch Themen.

Ist das ein aktiver Prozess der Protagonisten oder ist das ein eigener Automatismus?

Ich würde es mit der Medienlogik erklären. Personen sind nun mal viel interessanter als Texte, um Inhalte zu vermitteln. Zudem kann man Nachfragen stellen. Je näher der Wahltag rückt, desto wichtiger werden Thema oder Person und desto unwichtiger die Partei.

Ihre Befragung fand vor zwei bis vier Jahren statt. Hat sich unter dem Eindruck des letzten kurzen, heftigen Bundestagswahlkampfs an ihren Ergebnissen etwas geändert?

Führung ist immer kontextabhängig. Natürlich sind meine drei Typen nicht in Stein gemeißelt. Aber sie haben doch etwas relativ Beständiges. Die Frage wäre höchstens, ob der Vertrauenstypus immer noch der gefragteste ist. Natürlich verändert sich das Anforderungsprofil. Die Frage ist auch, welchen Typus der Vorgänger in der Führung darstellte. Oft gibt es ja eine Wahrnehmung „Jetzt hatten wir diesen Typus eine Zeit lang, jetzt wollen wir doch mal was anderes“.

Gab es deshalb nach Angela Merkel und Olaf Scholz, vom Typus nicht ganz weit auseinander, eine Sehnsucht nach einem lauteren, impulsiveren Friedrich Merz?

In der Tat, Angela Merkel würde man eher dem Vertrauenstyp zuordnen, während Friedrich Merz eindeutig dem Typus des Smart Commanders entspricht.

Und Olaf Scholz gehört auch dem Lager des Trust Beacon an?

Eher nicht. Er ist ja auch bei der Wahl zum Vorsitzenden gescheitert. Das heißt, ein immenses Vertrauen seitens der Partei hat es nicht gegeben. Er wurde eher aufgrund seines Pragmatismus aufgestellt. Mit ihm verbunden wurde ja der Satz „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“. Ein Satz, an dem er letztlich aber auch gescheitert ist. Deshalb würde ich ihn auch nicht in den Typus Smart Commander aufnehmen.

Wo sortieren Sie den Populisten ein, der als Typus bei Ihnen gar nicht vorkommt?

Wir müssen trennen zwischen Wählerwirksamkeit und Mitgliederwirksamkeit. Parteien sind deutlich homogener als das Wahlvolk. Und wir müssen trennen zwischen Parteivorsitzendem und Spitzenkandidat. Jemand, der die Partei gut führt, muss nicht zwangsläufig einer sein, der besonders wählerwirksam auftritt.

Sie gelangen auch zu dem Ergebnis, dass das Negativ-Framing im Wahlkampf wenig bringt. Warum ist das so?

In Deutschland ist das schlichtweg nicht Teil der politischen Kultur. Es ist wichtiger, selbst positiv in Erscheinung zu treten. Positive Emotionen in Bezug auf Spitzenkandidaten tragen jeweils auch zu höheren Wahlbeteiligungen bei.

Kleiner Widerspruch: Das harte Grünen-Bashing im Wahlkampf von Union und AfD hat sich durchaus ausgezahlt. Zu Beginn des Wahlkampfs standen die Grünen deutlich höher im Kurs als dann am Wahltag.

Sie haben insofern recht, als das Negativframing in einer Studie von 2015 untersucht wurde, und sich dieser Befund im Zuge einer zunehmend affektiven Polarisierung nur noch bedingt halten lässt. Je mehr wir in Freund-Feind-Kategorien argumentieren, umso mehr hat das Negativ-Campaining möglicherweise auch in Deutschland Erfolg. Wir haben ja die AfD, deren Hauptinstrument ist, Wut zu kanalisieren. Und die Übertragung von Wut auf Personen ist dann nur noch ein kleiner Schritt. In bestimmten Gruppen dürfte das inzwischen auch funktionieren. Aber nicht bei Leuten, die nicht aus einem Wutimpuls heraus ihre Stimme abgeben.

Sie blenden Emotionen in ihrer Typisierung eher aus, dabei spielen Emotionen im politischen Wettbewerb eine Rolle wie nie zuvor. Ein Versäumnis?

Ein absolut richtiger Punkt. In einer Anschlussstudie wäre das eine Frage, die man unbedingt mit aufnehmen müsste. Gleichzeitig würde ich doch behaupten, dass das vor allem die Medienfigur betrifft, weil die nach außen wirkt. Der geht es nicht darum, Vertrauen aufzubauen oder nach innen zu wirken oder durch kluge Umsicht zu glänzen, sondern das ist eine Eigenschaft, die jemand hat, der seine Führung durch Strahlkraft nach außen definiert. Im Sinne von: Ich kann mich sehr gut von meinen Gegnern abgrenzen.

Die AfD-Führung beherrscht das Spiel mit Negativ-Emotionen so gut wie niemand sonst. Ist das nicht längst auch Teil des Erwartungstableaus ihrer Mitglieder?

Genau. Deshalb würde ich diese Eigenschaft der politischen Medienfigur zuordnen. Das ist der Typ, der durch seine Strahlkraft nach außen die Führung nach innen stabilisiert. Die negative Emotion soll ja nicht nach innen wirken, sondern vor allem in Richtung des politischen Gegners.

Die Untersuchung von Marius Minas ist seine Promotion an der Universität Trier und soll im Frühjahr 2026 auch als Buch erscheinen.

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Letzte Aktualisierung: 22. Dezember 2025