Interview
Erscheinungsdatum: 21. Oktober 2024

Eisenbahner Damde: „Jede Modelleisenbahn ist digitaler"

Ralf Damde, stellvertretender Konzernbetriebsrat und Mitglied des Konzern-Aufsichtsrates, über die alltäglichen Störungen im System, den Einsatz von Bodycams und warum manche Verspätungen unaufhebbar sind.

Herr Damde, ein Erlebnis der letzten Tage: Auf der ICE-Strecke Berlin-Hannover ist das Stellwerk bei Wolfsburg vier Stunden lang nicht besetzt. Die Folge: Alle ICEs auf der Strecke müssen über Magdeburg umgeleitet werden und haben 80 Minuten Verspätung. Am helllichten Tag und auf einer der drei Hauptachsen in die Hauptstadt. Wie lässt sich das erklären?

Wir haben teilweise noch Stellwerke aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg bei der Deutschen Bahn – mit alter Technik, Hebel und elektromechanisch. Ich vermute, dass jede Modelleisenbahn im Keller heute schon digitaler ist, als es wir bei der Infrastruktur sind. Junge Menschen wollen mit moderner Technik ausgebildet werden. Wir haben auf den Stellwerken einen Riesenbedarf an jungen Menschen. Die Botschaft der Deutschen Bahn ist aber: Wir bauen 30.000 Arbeitsplätze ab. Da fragt man sich doch: Soll ich mich noch bewerben? Ist mein Arbeitsplatz noch sicher? Warum soll ich überhaupt kommen?

Das Personal im Zug war hinreißend bemüht, die Stimmung aufzuhellen. Aber warum schafft es die Bahn nicht, Schlüsselpositionen wie auf Stellwerken oder den Loks vernünftig zu besetzen, das heißt, mit Ersatz und Springern?

Dass das passiert, ist ja nicht neu. Vor gut zehn Jahren hat der Personalmangel in Mainz bundesweit Schlagzeilen gemacht. Wirklich verbessert hat sich seither nichts. Wir haben das gleiche Problem im Rhein-Neckar Raum, rund um Frankfurt, eigentlich an allen großen Stellwerken. Es sind nicht genügend Kolleginnen und Kollegen ausgebildet, um den Springer zu machen. Und je weniger ausgebildet werden und je weniger wir haben, desto öfter kommt es vor, dass einer oder eine im verdienten Urlaub ist oder mal krank wird.

Die Frage ist doch: Sind es die Löhne, die Arbeitsbedingungen oder stimmt die Personalplanung nicht?

Die Arbeitsbedingungen stimmen insgesamt nicht. Wir arbeiten vom 1. Januar bis 31. Dezember durch, 24 Stunden am Tag. Die jungen Menschen haben heute andere Anforderungen und möchten am Wochenende beispielsweise frei haben. Und das Unternehmen ist nicht bereit, Wochenendarbeit besser zu honorieren.

Sie bekommen keine Wochenendzuschläge?

Doch. Die sind aber nicht vergleichbar mit dem, was in der Industrie oder vergleichbaren Jobs bezahlt wird. Ja, wir bekommen Wechseldienstzulagen, aber auch das ist nicht vergleichbar mit anderen Branchen. In der nächsten Tarifrunde wird das eines der zentralen Themen für die Eisenbahnergewerkschaft sein. Aber es gehören immer zwei zu einem Abschluss.

Und trotzdem stellt sich bei vier Stunden Totalausfall die Frage: In jedem anderen Unternehmen lässt sich das überbrücken – identifizieren sich die Mitarbeiter nicht mehr mit der Bahn?

Nicht nur rund um das Stellwerk bei Wolfsburg. Es gibt eine richtiggehende Identitätskrise im Unternehmen. Zurzeit läuft eine Mitarbeitendenbefragung, es ist schon die vierte innerhalb kurzer Zeit. Nachdem der Vorstand jeden Tag zwei Mails rausgeschickt hat, mit der Bitte, sagt uns doch, wo der Schuh drückt, haben jetzt immerhin 58 Prozent geantwortet. Das Problem ist nur: Warum soll man antworten, wenn man weiß, dass von den Ergebnissen doch nichts umgesetzt wird?

Das nennt man normalerweise ein schlecht geführtes Unternehmen.

Wir haben unter diesen Umständen Schwierigkeiten, die Menschen von dem System zu überzeugen. Wenn die Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter, die Sie ja lobend erwähnt haben, nicht wären, wenn die Lokführerinnen und Lokführer nicht wären….

….die alle auch Überstunden machen müssen, wenn das Stellwerk ausfällt….

Ja, die alle Überstunden machen müssen, aber der Dienst am Kunden ist ihnen eine Herzensangelegenheit. Das wahre Kapital dieses Unternehmens sind doch die Menschen. Wenn die nicht wären, wäre alles noch viel schlechter. Und wenn wir nicht immer noch eine große Eisenbahnerfamilie wären. Deshalb sind auch die Diskussionen mit der Trennung von Netz und Betrieb so kontraproduktiv. Ja, wir müssen im Konzern neue Ideen entwickeln, keine Frage. Aber das Unternehmen zu zerlegen, ist der schlechteste Weg.

Noch eine Frage eines Bahn-Vielfahrers: Oft ist die verspätete Bereitstellung des Zuges schon zum Start Grund für eine Verspätung. Warum kommt das so häufig vor?

In der Regel kommt der Zug dann schon verspätet aus der letzten Fahrt in die Bereitstellung. Er kommt nachts an, es wird daran gearbeitet, aber dann ist da ein Problem mit den Ersatzteilen oder der Reinigung. Oder die Türen funktionieren nicht. Wir sind ja auch bei der Instandhaltung und Bereitstellung unterpersonalisiert. Dinge wurden aufgeschoben, und dann ist es wie überall: Irgendwann ist Schluss. Ich kann die Infrastruktur der Deutschen Bahn nicht 30 Jahre lang schleifen lassen. Irgendwann kapituliert das System, und da sind wir jetzt.

Sie machen ja nicht viel Hoffnung.

Wenn jahrelang Weichen und Gleise rausgerissen, Bahnsteige verkürzt werden, so dass die ICEs nicht mehr ausweichen oder an Bahnhöfen nicht halten können, wenn nicht digitalisiert wird und den Busfahrerinnen und Busfahrern an den Endpunkten die Toiletten und Ruheräume dichtgemacht werden oder unsere Immobilien wie beispielsweise die Bahnhöfe verkauft werden, wundern Sie sich über gar nichts mehr.

Alles ein Managementproblem?

Nicht nur. Ich versuche das mal an der Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt zu erklären, die derzeit generalsaniert wird. Selbst wenn die Lokführerinnen und Lokführer pünktlich aus Mannheim rauskommt, obwohl der Bahnhof dort zu 120 Prozent überlastet ist, können sie so schnell fahren, wie sie wollen – sie kommen in den Frankfurter Sackbahnhof nicht rein, weil dieser auch zu 120 Prozent überlastet ist. Seit mehreren Jahren gibt es Projekte zur An- und Abfahrtspünktlichkeit. Erfolg hatten sie alle nicht.

Das Nadelöhr Frankfurt wird uns also erhalten bleiben?

Richtig. Wir müssen auf demselben Gleis rein und wieder raus. Ich kann einen Bahnsteig nicht nur eine Minute besetzen, es wird also immer Zeitüberschreitungen geben. Und je mehr Menschen mit der Bahn fahren, was ja jeder will und auch gut ist, desto schwieriger wird es, die Abfahrtszeiten einzuhalten.

Haben zur Unpünktlichkeit nicht auch Erfolge der Gewerkschaften beigetragen? Ein Beispiel: Weil das Personal möglichst im eigenen Bett übernachten soll, was man den Lokführern ja gerne gönnt, wechseln sie auf der Strecke von Berlin nach Basel vier- bis fünfmal. Das führt automatisch zu viel mehr Unwägbarkeiten, als eine Lokbesatzung, die nur einmal – etwa in Frankfurt – wechselt.

Ich würde es anders formulieren. Auswärtige Übernachtungen zu minimieren, gehört zur Attraktivität eines Arbeitgebers. Aber es ist vor allem der Kostendruck. Es war ein großer Fehler, alle Bereitschaften abzuschaffen. Früher gab es an großen Standorten Springerinnen und Springer, die eingesprungen sind, wenn Lokführerinnen und Lokführer oder Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter Verspätung hatte. Wir hatten auch mehr Züge in Reserve: Wenn ein Zug Verspätung hatte, gab es einen zweiten. Das ist alles dem Kostendruck zum Opfer gefallen mit dem Argument, das braucht man nicht mehr. Wir haben intelligente Dienstpläne, hieß es, da gibt es keine Verspätungen mehr. Und es hieß: Für außergewöhnliche Dinge planen wir nicht.

Die ersten Zugbegleiter haben jetzt Kameras an der Uniform. Hat sich das bewährt?

Absolut. Wir werden den Bodycam-Einsatz auf das ganze Nahverkehrsnetz der DB Regio ausweiten. Bisher ist der Einsatz nur auf „Strecken mit besonderen Bedürfnissen“ erlaubt. Dies setzt eine Reihe von Übergriffen auf den jeweiligen Verbindungen voraus. Darüber werden wir noch reden müssen, denn jeder Angriff ist einer zu viel.

Wie viele Kollegen sind damit ausgerüstet?

Derzeit knapp 200, stetig steigend. Theoretisch können sich alle Kundenbetreuerinnen und Kundenbetreuer im Nahverkehr melden und bekommen eine Kamera. Alles auf freiwilliger Basis. Ein Erfolg, den wir als Gesamtbetriebsrat durchgesetzt haben.

Was hat sich durch die Kameras verändert?

Es kommt sehr gut an, das ist das eine. Vor allem aber: Mit der Ansage der Kundenbetreuerinnen und Kundenbetreuer, ich schalte die Kamera jetzt an, erledigen sich 95 Prozent aller Fälle.

Die Auseinandersetzung ist beendet?

So ist es. Ich war zu Beginn sehr skeptisch, aber wir haben gute Erfolge damit und werden es weitermachen.

Sie denken an eine Ausweitung?

Ja, in den Zügen und außerhalb. Es ist jetzt auch gestattet, die Kameras auf dem Bahngelände einzuschalten – wenn die Kolleginnen und Kollegen nachts aussteigen und zu ihren Parkplätzen gehen. Oder mit dem Fahrrad zum Dienst kommen. Es gab viele Übergriffe. Neben der Kamera- gibt es jetzt auch da die Tonaufnahme, so dass sich eine mögliche Eskalation gut nachvollziehen lässt.

Die gab es bisher nicht?

Den Ton gab es bisher nicht. Es gibt auch immer noch die Diskussion, was der Datenschutz im öffentlichen Raum erlaubt. Ich sage: Wir filmen ja nicht in der Toilette oder in der Wohnung. Aber wenn sich jemand im Zug danebenbenimmt, rumschreit und Menschen beleidigt, muss ich das aufnehmen können. Auf unserer Seite stehen schließlich auch Menschen und die müssen sich nicht nur beschimpfen lassen.

Wo ist für Sie die Grenze?

Bei der Landes- und Bundespolizei sagen mir: Solange wir im öffentlichen Raum aufnehmen, ist das kein Problem. Die Frage ist doch daher: Wie gehen wir als Bahn damit um? Wir lesen ja nicht aus. Wenn es einen Vorfall gibt, übermitteln wir diesen an die Bundespolizei. Und die liest das Video aus. Für mich ist das eine tolle Geschichte.

Video ist das eine, aber wie ist das in Alarmsituationen?

Wir bekommen jetzt auch einen Notfallknopf, verbunden mit einer App im Handy. Diese App hat auch die Bundespolizei, die ja für uns zuständig ist. Wir werden diese App für unsere Kundenbetreuerinnen und Kundenbetreuer im Nahverkehr verpflichtend machen. Wenn eine Kollegin oder ein Kollege ein Problem hat, werden darüber alle, die sich im näheren Umkreis befinden, informiert und können helfen. Wenn man zu zweit dasteht, entspannt sich die Situation häufig allein schon dadurch.

Wären Kameras auch eine Hilfe im Fernverkehr?

Meine Kolleginnen und Kollegen von DB Fernverkehr sind dran. Auch im Fernverkehr muss das aus meiner Sicht kommen. Aber auch da stellt sich die Kostenfrage. An dem einen oder anderen Bahnhof wäre das sicher auch angebracht, also bei den Kolleginnen und Kollegen, die für die Bahnhöfe zuständig sind. Auch die sitzen ja teilweise Nachts alleine am Schalte oder an der DB Information und brauchen Schutz.

Sie sind seit kurzem auch Aufsichtsrat des Konzerns, also der DB AG. Wer trägt eigentlich Verantwortung für die malade Situation, die fehlenden Stellen, die Dysfunktionalität, die schlechte Gesamtperformance?

Wir haben die DB Regio vor zwei Jahren komplett auf den Kopf gestellt. Der Vorstand dort weiß, dass wir der Budget- und Personalplanung im Aufsichtsrat nicht zustimmen, wenn nicht nachpersonalisiert wird. Wir haben Druck gemacht, und das hat sich ausgewirkt. Wir haben beim Regionalverkehr im letzten Jahr rund 2.000 neue Leute eingestellt.

Eine Antwort auf die Frage ist das nicht. Unabhängig davon: Wenn davon innerhalb von zwei Jahren 800 wieder kündigen, ist ihnen auch nicht geholfen.

Stimmt. Aber die hohe Fluktuation ist in allen Unternehmen so. Wir müssen in Zukunft mehr ausbilden. Daran führt kein Weg vorbei. Wir müssen auch immer eine Reserve haben, denn es wird nun gewechselt, sobald das Unternehmen nebenan auch nur einen Euro mehr bezahlt.

Zum Wettbewerber, der besser bezahlt?

Zum Wettbewerber – oder einem anderen Arbeitgeber. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wechseln, wenn das Angebot anderswo stimmt. Wir wollen als Aufsichtsrat die Budget- und Personalplanung in diesem Jahr genau sehen. Und wenn die nicht stimmt, gibt es von uns keine Zustimmung. Ich glaube, der Vorstand hat erkannt, dass der Plan mit dem Abbau von 30.000 Stellen so nicht aufgeht und er dringend umsteuern muss. Das ist im Übrigen auch ein Thema für den Konzernbetriebsrat. Auch als stellvertretender Vorsitzender werde ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen den Finger in die Wunde legen. Vielleicht sollte ich sagen: Die Finger in die Wunden.

Aber der Aufsichtsrat hebt auch seit Jahren nur mahnend den Finger. Zur Verantwortung hat er bisher niemanden gezogen, stattdessen gewährt er weiter Boni für die Vorstände.

Richtig. Aber die wirtschaftliche Mitbestimmung endet an der Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden. Der heißt Werner Gatzer. Wir können uns immer dagegenstemmen – aber wir sind der Doppelstimme immer unterlegen.

Macht d ie Unterscheidung zwischen DB Regio und DB Fernverkehr eigentlich noch Sinn?

Da stellen sich zwei Fragen. Die Unterscheidung stammt aus der Zeit der Bahnreform. Der eine Verkehr ist eigenwirtschaftlich, der andere wird von den Bundesländern bestellt. Ich glaube tatsächlich, wir müssen über die Struktur des Bahnkonzerns reden. Meine persönliche Meinung ist, dass wir intensiver über Synergien nachdenken müssen. Ich glaube zum Beispiel, das österreichische Modell ist kein schlechtes Modell.

Im österreichischen Modell gibt es keine Trennung?

Nein, dort gibt es nur eine Trennung zwischen Personen- und Güterverkehr.

Und die andere Frage?

Wie kriegen wir den ländlichen Raum angebunden. Wie kriegen wir Landeshauptstädte wie Schwerin oder meine Heimatstadt Saarbrücken in den Fernverkehr eingebunden. Das hat auch mit Ansiedlungspolitik zu tun. Dass das Saarland jetzt zwei zusätzliche ICEs und damit eine Direktverbindung nach Berlin bekommt, ist für die Region unheimlich wichtig. Da gibt es Nachholbedarf, das Ziel müssen immer noch gleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen Regionen sein.

Sie deklarieren eine mögliche Zusammenlegung als Ihre private Meinung. Gibt es dazu eine Diskussion im Bahnkonzern?

Sie wird kommen.

Informell wird schon darüber gesprochen?

Natürlich muss auch über Strukturen im integrierten Konzern geredet werden. Es nützt ja nichts, wenn wir als Mutter einen Konzern haben, dem rund 63.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugerechnet werden, der aber im Wesentlichen von den vier großen Töchtern getragen wird. Da hat sich seit Einführung der Bahnreform das eine oder andere verselbstständigt. Man muss sich immer wieder neu erfinden.

Und die DB Regio hat sich neu erfunden?

Ich glaube schon. Wir stellen alle zwei Jahre die Organisation auf den Prüfstand, und wir haben im Moment eine Gewinnquote, die sich sehen lassen kann. Die liegt zwischen 90 und 100 Prozent.

Ich dachte, die Bahn schreibt rote Zahlen.

Es geht nicht um den Gewinn in EBIT und Euro. Wir stellen uns als DB Regio dem Wettbewerb und sind konkurrenzfähig. Wir haben über Jahre Prozesse umgestellt und das Geschäftsmodell kontinuierlich weiterentwickelt. Wir stehen gut da am Markt, aber wir dürfen nicht schlafen. Wir müssen den nächsten Schritt machen, denn auch der Markt verändert sich.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!