Herr Nietan, die Polen haben gewählt. Es ist mit einem hauchdünnen Ergebnis zu rechnen. Sollte der nationalkonservative Karol Nawrocki gewinnt, worauf müssen wir uns in Deutschland einstellen?
Wir müssten uns darauf einstellen, dass Polen keine politische Stabilität erlangt. Wir müssen dann damit rechnen, dass die kleinste und konservativste Partei innerhalb der amtierenden Regierungskoalition, die PSL, sich möglicherweise überlegt, mit der rechten Konfederacja und der PIS von Jarosław Kaczyński eine neue Mehrheit im Parlament zu suchen. Wenn man so will, ist die PSL, obwohl an der Stichwahl nicht beteiligt, nach dem Sonntag das Zünglein an der Waage. Sie stellt übrigens mit ihrem Vorsitzenden den Verteidigungsminister.
Sie könnte die Koalition verlassen und ein neues Rechtsbündnis ausrufen?
Die PSL ist die alte Bauernpartei, immer konservativ bis sehr konservativ, nie reaktionär, steht aber jetzt mit dem Rücken zur Wand. Sie wird gerade ein bisschen zerrieben in dem Machtkampf zwischen dem Rechtsextremen Sławomir Mentzen und der alten Auseinandersetzung zwischen Jarosław Kaczyński und Donald Tusk. Und sie könnte ihre Rettung darin sehen, dass sie zum Königsmacher einer neuen Mehrheit wird. Sie könnte dann durchregieren, weil sie dann auch den Präsidenten stellt.
Aber Voraussetzung dafür wären Neuwahlen?
In Polen sind die Hürden dafür niedriger als in Deutschland. Und möglicherweise könnte die Regierung nach der Präsidentenwahl zerbrechen. So ging es übrigens der ersten PIS-Regierung von Jarosław Kaczyński 2007. Sie ging vorzeitig zu Ende, und das ist auch jetzt nicht ausgeschlossen.
Und wenn die PSL in der Koalition verbliebe?
Wenn Nawrocki gewinnt und die PSL in der Tusk-Koalition bleibt, würde wohl das Trauerspiel weitergehen mit einem rechtsnationalen Präsidenten, der die politische Mehrheit im Parlament und den Ministerpräsidenten mit seinen Vetos lähmt. Was zu einer weiteren Frustration der Wähler und weiteren Ineffizienzen führen würde. Und deshalb ist durchaus möglich, dass ein Erfolg von Nawrocki der Anfang vom Ende eines Premierministers Tusk ist.
Was hätte ein Wahlsieger Nawrocki für Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis?
Es würde die Beziehungen sicher belasten. Weil jeder Versuch der Tusk-Regierung, mit Deutschland enger zusammenzuarbeiten, von Nawrocki als Beweis für Deutschlands Dominanz in der EU und als Beleg für die Unterwürfigkeit von Donald Tusk gegenüber den Deutschen gesehen würde. Auch das Thema Reparationen käme wieder auf die Tagesordnung. Das wäre ein ziemlicher Bremsklotz für die Beziehungen.
Der Ruf nach Reparationen wäre ernst zu nehmen?
In jedem Fall. Bis heute wünscht sich die Mehrheit in Polen, dass Deutschland mehr tut, um zu zeigen, dass es seine geschichtliche Verantwortung ernst nimmt. Dass wir auch finanziell mehr tun. Da geht es nicht um Billionen-Reparationen. Aber einen Entschädigungsfonds für die letzten Überlebenden, mehr deutsche Hilfe für die Verteidigungsfähigkeit und Luftsicherheit Polens – da gibt es schon Dinge, wo der Vorwurf, dass sich die Deutschen vor ihrer historischen Verantwortung drücken, auf fruchtbaren Boden fällt.
Was bedeutete ein Wahlsieg Nawrockis für Europa?
Es würde Europa lähmen. Wir erleben doch gerade, wie das Quartett der Regierungschefs aus Polen, Frankreich, Großbritannien und Deutschland so richtig in Schwung kommt. Das funktionierte auch vorher schon; aber jetzt sehen wir noch mal ein anderes Momentum. Und wenn Tusk gelähmt wird, es mittelfristig zu einer neuen Mehrheit im Parlament kommt oder zu Neuwahlen, wird das Quartett nicht mehr funktionieren. Und nur Deutschland, Frankreich und Großbritannien – ohne Polen – haben nicht die Durchschlagskraft, die wir für Mittel- und Osteuropa brauchen.
Was wäre von einem Wahlsieger Rafał Trzaskowski zu erwarten?
Ich will kein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen; aber es würde das Gegenteil von all dem eintreten, was ich eben beschrieben habe. Es gäbe einen Präsidenten, der die Regierung nicht blockiert, sondern sie bei der Wiederherstellung des Rechtsstaates oder der Zusammenarbeit in Europa unterstützt. Es gäbe politische Stabilität, weil die Blockaden aus dem Präsidentenpalast entfielen. Weil er dann zwei parlamentarisch stabile Jahre vor sich hätte, könnte Tusk noch enger mit Merz zusammenarbeiten, als das mit Scholz der Fall war. Tusk wäre das letzte Hindernis los, Polen zu einem entscheidenden Player in der EU zu machen, und diese Chance würde er mit Sicherheit nutzen.
Tusk regiert jetzt eineinhalb Jahre – sind die deutsch-polnischen Beziehungen in dieser Zeit wirklich besser geworden?
Ja, sie sind besser geworden. Und das hat auch mit Olaf Scholz zu tun. Weil man sich wieder vertraut. Weil es wieder gemeinsame Ziele gibt. Die waren noch nicht ambitioniert genug, aber das könnte ja jetzt kommen. Ich glaube, dass aus Freude über den Sieg der Demokratie im Oktober 2023 die Erwartungen auf beiden Seiten zu hoch waren. Nüchtern betrachtet hätte sicher einiges besser laufen können in den vergangenen 18 Monaten. Aber vieles ist auch deutlich besser als vor dem Amtsantritt von Donald Tusk.
Und trotzdem bleibt der Eindruck, dass sich die Polen in diesen eineinhalb Jahren – auch aus Frust über Berlin – eher in Richtung Skandinavien und Baltikum orientiert haben.
Das ist richtig. Aber Polen hatte immer schon gute Beziehungen zu den skandinavischen Staaten, etwa zu Schweden. Und ja, es gab durchaus Enttäuschungen, dass man mit Deutschland in einigen Fragen nicht so vorankam wie erhofft. Aber Nordeuropa war nie die Alternative, allenfalls ein zusätzlicher Baustein. Ich hätte es aus Warschaus Sicht genau so gemacht, weil es immer gut ist, nicht nur auf eine Option zu setzen. Die Polen sind nicht auf uns fixiert, sie sind selbstbewusster geworden. Und das ist eine gute Entwicklung.
Warum hat die Scholz-Regierung die Hand nicht entschlossener ausgestreckt? Die Polen haben doch nur darauf gewartet.
Weil es bestimmte Dysfunktionalitäten gab. In den letzten Monaten der Ampel hat doch der Finanzminister alles für ein schnelles Ende der Regierung getan. Das hatte auch Auswirkungen auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Als es im Juli 2024 die ersten deutsch-polnischen Regierungskoalitionen gab, lag der Plan von Christian Lindner schon in der Schublade. Die Polen hatten sich von den Deutschen eine Geste der Wiedergutmachung erhofft, die auch Geld gekostet hätte. Sie hatten sich ein Sicherheitspaket erhofft, auch gespeist durch deutsche Steuergelder, um sich besser verteidigen zu können. Zu beidem kam es nicht, die Vorbereitungszeit war nicht da, aber auch, weil der deutsche Finanzminister das nicht mitgetragen hätte. Auch ich als Koordinator hätte mir da deutlich mehr gewünscht.
Es ist nicht immer nur das Geld, manchmal sind es auch Symbole und Gesten, um Ketten zu sprengen. Aber auch die gab es von deutscher Seite nicht.
Nun ist gerade Olaf Scholz bekanntlich kein Mann der großen Gesten. Das liegt ihm nun mal nicht. Ja, vielleicht hätte es solcher Gesten bedurft. Als die neue polnische Regierung vereidigt wurde, hat Olaf Scholz im Bundestag eine Regierungserklärung zum Europäischen Rat abgegeben, in der er in den ersten fünf Minuten nur über Polen gesprochen hat. In der er skizziert hat, dass er viel mit der neuen Regierung erreichen will, sich zur geschlichen Verantwortung bekannt hat, auch vom Polen-Denkmal in Berlin gesprochen hat. Ich habe das durchaus als Geste gesehen. Aber vielleicht war sie für die polnische Seite nicht groß genug.
Sie waren drei Jahre Koordinator der Bundesregierung. Was ist liegen geblieben an Aufgaben?
Liegen geblieben ist die Einsicht in die Bedeutung der Zivilgesellschaft, die der entscheidende Faktor für die bilateralen Beziehungen ist. Das gilt für alle Ebenen des Regierungsapparates, fürs Innenministerium, das Auswärtige Amt oder das Verkehrsministerium, wo vieles beim grenzüberschreitenden Verkehr nicht vorangekommen ist. Nach drei Jahren als Koordinator und 22 Jahren grenzüberschreitender Zusammenarbeit muss ich feststellen, dass es in der deutschen Administration im täglichen Tun nur eine begrenzte Wertschätzung für die Bedeutung der Zivilgesellschaft gibt. Lieber arbeitet man mit großen Namen, Stiftungen oder Organisationen zusammen. Lieber gibt man das Geld für einen neuen Think Tank aus, als dass man das gleiche Geld in die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen steckt. Das sind alles kleine Vereine, und weil das nicht groß vorzeigbar ist, lässt man es gleich ganz. Das halte ich für einen Kardinalfehler.
Hat es Ihnen an Unterstützung gefehlt?
Aus der Zivilgesellschaft habe ich jede Menge an Unterstützung bekommen. Aber der hat es umgekehrt an Aufmerksamkeit gefehlt. Beispiel grenzüberschreitende Zusammenarbeit: Je weiter die Entscheidungsträger und ihre Apparate weg sind von der deutsch-polnischen Grenze, desto weniger sehen sie die Notwendigkeit, juristische Dinge zu ändern, zu vereinfachen oder mal Mittel in die Hand zu nehmen. Das liegt dann angeblich nicht in der Kompetenz des Bundes oder man ist nicht entscheidungsbefugt. Wenn nur ein Bruchteil der Energie, die Bundesministerien in Leuchtturmprojekte stecken, in zivilgesellschaftliche Aktivitäten investiert würde, wäre man viel weiter. Mich bekümmert, dass die, die ihre Freizeit opfern und sich ohne viel Geld grenzüberschreitend engagieren, so wenig Rückendeckung erfahren.
Keine Verwaltung liebt kleinteilige Projekte. Sie sind schwer zu kontrollieren, verursachen unverhältnismäßig viel Arbeit und lassen sich kaum darstellen. Bei Leuchtturmprojekten ist das anders.
Wenn du heute als NGO staatliches Geld haben willst, ist der Zeitaufwand – und das nicht zuletzt für Ehrenämter – doppelt so hoch wie vor 15 Jahren. Nicht dass die NGOs damals besser gewirtschaftet hätten. Aber der Kontrollwahn und das Grundmisstrauen gegenüber Menschen, die vom Staat Mittel für ein politisches Projekt beantragen, zerstören die Fundamente des Miteinanders. Denn die Zivilgesellschaft ist das Fundament, nicht der ThinkTank. Oft sind die kleinen NGOs beim sorgsamen Umgang mit den Mitteln besser als die großen Einheiten. Weil es sich die Kleinen gar nicht erlauben können, auch nur einen Cent zu verschwenden.
Was heißt das nun konkret?
Die Zivilgesellschaft zu stärken ist auch ein Akt der Entbürokratisierung. Die Vorgaben sollten so vereinfacht werden, dass es für Menschen im Ehrenamt auch möglich ist, sich zu engagieren. Sie bekommen das Geld ja nicht für sich. Sondern sie tun Dinge, die viel teurer wären, wenn es der Staat selbst machen würde, egal ob es ein Rathaus, ein Landratsamt oder eine Staatskanzlei ist. Nein, die Zivilgesellschaft zu stärken, spart Geld, setzt Mittel effizienter ein und ist auch effektiver.
Wann kommt das Deutsch- Polnische Haus in Berlin?
Man soll als Politiker ja kein Datum nennen. Aber wenn es auf deutscher Seite alle wollen, könnte es in sechs Jahren stehen.
Wann steht das Polen-Denkmal?
Da will ich kein Datum nennen. Aber wenn der Bundestag einen entsprechenden Beschluss fasst, wird das sehr zügig in Angriff genommen werden. Da bin ich sehr zuversichtlich.
Welchen Rat geben Sie Ihrem Nachfolger Knut Abraham mit?
Ratschläge sind immer auch Schläge, wie Johannes Rau sagte. Aber ich würde ihm mitgeben, dass er sich trotz mancher Frustration, die man bei dieser Aufgabe zwangsläufig erlebt, seine Leidenschaft nicht nehmen lassen soll. Was ich an Knut Abraham schätze, ist seine Leidenschaft, mit der er für die deutsch-polnischen Beziehungen streitet. Das wäre mein Rat: Lass es dir von niemandem verdrießen, lieber Knut – bleib so leidenschaftlich für Polen, wie du bist!