Interview
Erscheinungsdatum: 15. Mai 2024

Chef der DRF Luftrettung: „Wir könnten mehr Menschen in Not retten“

Bei tiefhängenden Wolken dürfen Hubschrauber in Deutschland nachts nicht fliegen. Krystian Pracz, CEO bei der DRF Luftrettung, über ein Schlechtwetter-Navigationsverfahren, für das sein Dienst seit Jahren kämpft. Mit der Krankenhausreform werde es „unerlässlich“.

In unseren Nachbarländern, in der Schweiz oder Dänemark, können Hubschrauber seit Jahren auch bei Nacht und Nebel Menschen retten. In Deutschland geht das nur bei guter Sicht. Grund: Deutschland hat das satellitengestützte Navigationsverfahren „Point in Space“ nicht eingeführt. Was bedeutet das?

Vielleicht eine kleine Korrektur: Wir dürfen schon in der Nacht fliegen ...

… aber nur bei guter Sicht. Bei Wolken in einer Höhe von 400 Metern dürfen die Rettungshubschrauber nachts nicht mal mehr starten.

Flächendeckend ist es in der Schweiz und in Norwegen auch nur bei ausreichend guter Sicht möglich. Das Verfahren gibt es dort für den Anflug von Krankenhäusern oder Skigebieten, etwa zur Bergung Verunglückter. Der „Point in Space“ (PinS) ist dabei ein festgelegter virtueller Punkt im Raum, den man dann mit den Instrumenten zielgenau anfliegen kann. Also auch durch Wolken hindurch. Wenn der Pilot dort ankommt, und der PinS typischerweise tiefer liegt als die Wolken, so dass er ausreichend Sicht hat und entsprechende Minima einhalten kann, kann er landen.

Und in Deutschland muss er oder sie weiterfliegen, bis es eine Lücke gibt? Oder darf womöglich gar nicht erst abheben?

Ein Durchfliegen einer geschlossenen Wolkendecke ist unter Sichtflugbedingungen nicht erlaubt – richtig. Dabei verliert die Luftrettung wertvolle Zeit, die ja eigentlich der Vorteil ist gegenüber der Bodenrettung.

Das Verfahren ist für die gesamte EU inzwischen zugelassen. Warum setzt Deutschland es nicht um?

Wir versuchen seit einigen Jahren, PinS zu etablieren. Dazu gibt es einerseits gewisse Anforderungen an die beiden Besatzungsmitglieder im Cockpit und an die Instrumente des Luftfahrzeugs. Das ist aber die kleinere Hürde. Die viel größere Hürde sind die Genehmigungsthemen. Wir haben durch den Föderalismus 16 Landesluftfahrtregelungen und dazu eine bundesweite Regelung. Es herrschen jeweils unterschiedliche Antrags- und Genehmigungsverfahren. Das Verfahren und seine Möglichkeiten sind noch nicht allen beantragenden Stellen ausreichend bekannt.

Also sind es die Länder, die sich sperren?

Wir haben bisher nur in Schleswig-Holstein echte Fortschritte auf dem Weg zur Genehmigung erzielen können. Allerdings hat der Norden auch den Vorteil, dass er sehr flach ist. Dort ist die Radarabdeckung von Luftfahrzeugen besser gegeben; damit sind die Sicherheitsbedenken auch kleiner. In anderen Bundesländern, mit anderer Topografie, ist die Abdeckung in Bodennähe schlechter und damit das Risiko von Kollisionen auch höher. Und das ist mit Sicherheit die größte Sorge in den Landesbehörden – abgesehen vom Aufwand wie dem Einholen von Lärmschutzgutachten, dem Erstellen von Kartenmaterial und vieles mehr.

Aber ist nicht gerade der Witz bei PinS, dass die Helis unterhalb der Radarabdeckung der Flugüberwachung im Instrumentenflug fliegen dürfen? Dort, wo – besonders bei Schlechtwetter – sowieso niemand anders unterwegs sein sollte? Die PinS-nutzenden Länder Norwegen oder Schweiz sind nun auch nicht gerade flach.

Wir haben in Deutschland eine ganz andere Flugverkehrsdichte als in den genannten Ländern, das muss bei einem Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden. Aber das ist nur eine bedingte Entschuldigung, denn es dauert wirklich sehr, sehr lange. Zumal wir dort, wo man PinS nutzen könnte, definitiv auch mehr Menschen in Not retten könnten.

Könnte der Bund von sich aus aktiv werden?

Ob der Bund dazu die Richtlinienkompetenz hat, weiß ich nicht. Eins ist aber klar: Wenn die Landes- und Bundesbehörden nicht zusammenarbeiten, bleibt es schwierig, das Verfahren zu etablieren.

Wo wirkt sich das Fehlen von PinS besonders aus?

Letztlich fast schon flächendeckend. Ein gutes Beispiel ist der Rheingraben in Baden-Württemberg. Wenn die Wetterbedingungen schlecht sind, können wir zum Teil gar nicht mehr reinfliegen oder müssen große Umwege machen. Wenn man dort einen Point in Space über einem Krankenhaus etablieren würde, könnte man diesen anfliegen und hätte deutlich weniger wetterbedingte Einschränkungen – und zwar nicht nur nachts, sondern auch tagsüber, etwa wenn die Wolken tief hängen.

Nun ist der Rheingraben ja auch nicht gerade hügelig. Könnte es sein, dass die Länder die Kosten von PinS scheuen?

Die Kosten dürften als Grund eigentlich keine Rolle spielen. Wir reden hier ja nicht über eine signifikante Infrastruktur, die aufgebaut werden müsste; die Landeplätze in der Nähe von Kliniken oder auf deren Dächern sind ja vorhanden. Es geht eigentlich nur um die Vermessung der Punkte und die saubere Übertragung in Karten.

Der Bürgermeister von Hallig Hooge hat mal entsetzt von seiner eigenen Rettung berichtet: Wegen Nebel durfte der Hubschrauber nicht landen, wegen Niedrigwasser der Seenotrettungskreuzer nicht anlegen. Erst mit der Flut kam er am Festland an, wo ihn die Feuerwehr in einem Korb vom Schiff auf die Mole kranen musste. Das dauerte fünf Stunden und hätte ihm als Herzpatient das Leben kosten können. Das war 2016 …

… und liefe heute wahrscheinlich nicht anders, wenn die Sicht so eingeschränkt ist. Und das, obwohl Deutschland sich glücklich schätzen kann, eines der besten Luftrettungssysteme der Welt zu haben!

Die geplante Krankenhausreform soll die stationäre Versorgung zentralisieren und dementsprechend ausdünnen. Wäre es jetzt nicht spätestens an der Zeit, dass Verfahren wie PinS eingeführt werden?

Wenn die Anzahl der Möglichkeiten, Patienten in Krankenhäuser zu verbringen, durch Zentralisierung reduziert wird, ist es unerlässlich, die Nutzbarkeit der Luftrettung bei möglichst vielen Wetterlagen zu realisieren. Und da ist das Thema PinS ein extrem wichtiger Faktor.

Die Dänen fliegen seit 2015 mit PinS. Vielleicht, weil sie seit ihrer Krankenhausreform fast viermal weniger Kliniken bezogen auf ihre Einwohnerzahl haben als wir?

Das weiß ich nicht. Fakt ist aber: Wenn man die Krankenhausreform konsequent umsetzt, muss man die Notfallrettung mitdenken. Dann kommt man um das Thema nicht herum, PinS ist dann unerlässlich.

Von den 83 Flugstationen in Deutschland werden heute nur 16 für Nachtflüge genutzt. Reicht das?

Da haben wir das Thema der Randzeiten. Man braucht gewiss nicht alle Stationen rund um die Uhr zu besetzen, aber man muss eine gute 24-Stunden-Abdeckung planen, auch für die zunehmenden Interhospital-Transporte. Und dabei müssen auch die Wintermonate bedacht werden, wenn die Helikopter nur bis zur beginnenden Dunkelheit fliegen, je nach Monat ist das bereits gegen 16.30 Uhr. Bis mindestens 21 Uhr sind die Leute aber noch aktiv und damit etwa verletzungsgefährdet.

Die DRF Luftrettung moniert auch eine schlechte Planung über Bundesländergrenzen hinweg.

Wenn wir auf die Landesgrenzen schauen, sehen wir dieses Phänomen sogar verstärkt: Die Luftrettung funktioniert gut zwischen Österreich und Deutschland oder der Schweiz und Deutschland. Zwischen Frankreich und Deutschland gäbe es einiges zu verbessern. In den Bundesländern werden derzeit Gutachten erstellt, die sich gemäß Auftrag auf die Abdeckung des eigenen Landes fokussieren – Grenzüberschreitung muss jedoch noch mehr Gewicht dabei bekommen. Vor dem Hintergrund der Reform werbe ich für eine Gesamtbetrachtung, so dass die Abdeckung für die Bürgerinnen und Bürger besser wird als nur auf Landesebene. Zumal nicht jedes Bundesland alle spezialisierten medizinischen Zentren vorhält.

Hören Sie dazu Signale aus Berlin? Was sagt Karl Lauterbach zum Beispiel zum Nachtflugproblem – oder zu Point in Space?

Das Problem bei der Luftrettung ist, dass sie insgesamt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Nur drei Prozent aller Rettungen erfolgt auf dem Luftweg …

… immerhin deutlich mehr als 100.000 Fälle im Jahr.

Ich bin froh, dass das Reformpapier überhaupt eine Stärkung der Luftrettung vorsieht. Das Thema PinS wird zwar nicht explizit genannt. Aber ich würde mich jetzt mal so weit aus dem Fenster lehnen, dass, wenn das Ministerium von Stärkung spricht, es dabei diese Möglichkeit nicht ausschließt, sondern diese zu unterstützen bereit ist.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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