Interview
Erscheinungsdatum: 11. Februar 2024

Can Dündar: „Solange Europa keine richtige Türkei-Strategie hat, stellt Erdoğan die Regeln auf und gewinnt jedes Mal“

Der türkische Journalist Can Dündar ordnet die Gründung der DAVA-Partei mit Blick auf Erdoğan kritisch ein. Auch wenn Dündar das Mobilisierungspotenzial nicht sehr hoch einschätzt: Der türkische Präsident wolle seinen Einfluss in Deutschland und Europa stärken.

Im Januar wurde die Gründung der Partei Dava bekannt, der eine Nähe zu Erdoğan und der AKP nachgesagt wird. Wie schätzen Sie die Partei ein?

Zuerst einmal eine Gegenfrage: Wissen Sie, was Dava neben dem Kürzel „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ noch bedeutet? In türkisch-konservativen Kreisen steht „Da’Wa“ für den Auftrag und die Mission. Ihre Anführer nennen sie Da’wa-Glaubende oder Männer des Da’wa. Die Grauen Wölfen haben einen Spruch: „Erschießt jenen, der verleugnet“, also Da’wa betrügt. Eine Art Lizenz zum Töten. Und so ist auch der Name Dava zu verstehen. In diesem Kontext dann von Vielfalt zu sprechen, ist natürlich irre: Genau diese Menschen haben die Vielfalt in der Türkei zerschlagen, heute schreiben sie sich Vielfalt in den Parteinamen.

Wie schätzen Sie das Mobilisierungspotenzial der Partei ein?

Dahingehend nehme ich sie nicht so ernst. Zwar haben rund 70 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland bei den Türkei-Wahlen für Erdoğan gestimmt. Aber in deutschen Wahlen wählen sie traditionell für SPD, Grüne oder die CDU. Dava bietet ihnen nichts Neues. Deswegen wüsste ich nicht, warum sie viele Stimmen bekommen sollte. Selbst wenn sie zwei Prozent erreicht, ist sie nicht besonders relevant.

Die deutsche Öffentlichkeit scheint trotzdem alarmiert zu sein.

Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund für die Panik um die Partei. Ich glaube, Erdoğan geht es um etwas anderes: Wir sprechen wieder über ihn. Aber zu seinen Bedingungen, er stellt wieder einmal die Spielregeln auf. Damit zwingt er Deutschland ein Auswärtsspiel im eigenen Land auf. Bereits beim EU-Türkei-Deal war er es, der die Parameter der Verhandlungen aufgestellt hat.

Deswegen muss Europa aufhören, jedes Mal so überrascht zu sein und endlich aus der Verteidigungshaltung herauskommen. Kaum ein europäischer Politiker hat eine Idee, wie man mit der Türkei umgehen soll. Deutschland braucht dringend eine strategische Politik gegenüber der Türkei. Solange es keine richtige Strategie gibt, stellt Erdoğan die Regeln auf und gewinnt jedes Mal.

Glauben Sie, dass es einen direkten Befehl aus Ankara für die Parteigründung gab?

Höchstwahrscheinlich.

Wie könnte die Dava-Partei Erdoğan nutzen?

Nach der Europawahl könnten ihm die möglichen Sitze von Dava, auch wenn es wenige sein werden, nützlich werden. Dann könnte er eine Stimme im Europäischen Parlament haben. Und wenn die Partei es schaffen sollte, einen Sitz im Bundestag zu erlangen, hätte er ein Druckmittel in Koalitionsverhandlungen.

Wir sollten uns daran erinnern, dass Erdoğan 2019 seine Unterstützer aufrief, nicht mehr die Parteien zu wählen, die „gegen die Türkei“ sind, wie Grüne, SPD oder CDU. Aber wen sollen sie sonst wählen? Dava könnte eine politische Bewegung sein, die für diese Leute infrage kommt. Das haben sie schon in der Vergangenheit mit der „Europäischen Union der türkischen Demokraten“ probiert, die heute vom Verfassungsschutz beobachtet wird, aber das hat nicht funktioniert.

Warum wurde die Partei gerade jetzt gegründet?

Das Timing für die Parteigründung ist schlecht gewählt. Türkeistämmige hierzulande sind nach den Diskussionen um die doppelte Staatsbürgerschaft in einer schwierigen Situation. Die AfD stellt Ausländer und ihre politische Teilhabe infrage: „Wählen Sie in der Türkei oder fühlen sie sich als deutsche Staatsbürger?“ Wenn die türkischstämmigen Wählerinnen und Wähler die offensichtlich eng mit der Türkei verbundene Dava wählen, würde die AfD das mit Sicherheit sofort als Beweis für eine fehlgeschlagene Integration benutzen.

Wie erklären Sie sich den großen Erfolg Erdoğans bei in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken?

Deutschland muss aufhören, mit dem Finger auf die Türkinnen und Türken zu zeigen und sich selbst hinterfragen: Was ist schiefgelaufen, was können wir besser machen? Es läuft etwas schief, wenn Erdoğan nach drei bis vier Generationen hierzulande rund 30 Prozent mehr Stimmen erhält als in der Türkei. Könnte das mit gleichberechtigter Staatsbürgerschaft, Diskriminierung, Isolation oder Rassismus zu tun haben?

Mangels besserer Angebote schauen diese Leute am Tag stundenlang türkisches Staatsfernsehen. Dabei werden sie durch Erdoğans Propaganda vergiftet. Deutschland muss ihnen etwas Besseres anbieten.

Was könnte das sein?

Es werden meist Moscheen gebaut, dabei wissen wir, dass auch dort politische Propaganda stattfindet. Warum werden nicht mal Kulturzentren, Museen, Büchereien, Theater oder Kinos zusammen mit den Moscheen gebaut? Solange Deutschland keine einladende Annäherung gegenüber Türkinnen und Türken beweist, müssen wir uns nicht wundern, dass Erdoğan hohe Zustimmungswerte hat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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