Interview
Erscheinungsdatum: 03. Dezember 2024

Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf: „Die tägliche Höchstarbeitszeit ist nicht mehr zeitgemäß“

Die CSU-Politikerin wird 2025 neue Vorsitzende der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK). Sie fordert einen Kurswechsel, vor allem bei Arbeitszeit und Bürgergeld.

Was sind die größten Baustellen in der Sozialpolitik?

Das Bürgergeld braucht einen kompletten Neustart. Mir geht es nicht um die Höhe des Regelsatzes. Aber das Ganze hat sich in eine solche Spirale hineinentwickelt, dass es weder bei der Akzeptanz noch bei den Finanzen reicht. Im Bundeshaushalt steuern wir auf Kosten von 50 Milliarden Euro zu. Das zeigt, dass die Ausrichtung nicht stimmt. Es geht schließlich darum, Menschen – so schnell es geht – in Arbeit zu bringen. Damit ist auch der soziale Frieden in Gefahr.

Ist er vielleicht auch deshalb in Gefahr, weil unter anderem von der Union verbreitete Falschinformationen im Umlauf sind? Jemand, der arbeitet, hat immer mehr Geld als jemand, der nicht arbeitet.

Klar ist: Das Lohnabstandsgebot muss eingehalten werden. Wenn man Bürgerinnen und Bürger fragt, die wenig verdienen, sagen sie: Wenn ich das durchrechne, habe ich im Vergleich kaum mehr in der Tasche. Entscheidend ist, dass sich die Kosten insgesamt in einem Maße entwickelt haben, das nicht mehr stemmbar für den Sozialstaat ist. Noch dazu in einer Situation, in der es uns wirtschaftlich nicht gut geht. Da braucht es andere Bedingungen, zum Beispiel bei den Mitwirkungspflichten und den zu hohen Freibeträgen. Erschwerend kam noch etwas hinzu.

Und zwar?

Der Rechtskreiswechsel im Juni 2022: Alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu uns kamen, bekamen statt Asylbewerberleistungen sofort Bürgergeld. Das hat eine wahnsinnige Schieflage ergeben. Allein in Bayern sind das 91.000 Menschen, bundesweit mehr als 700.000.

Welche Schwerpunkte wollen Sie als ASMK-Vorsitzende setzen?

Mir ist wichtig, dass wir die Flexibilisierung der Arbeitszeit angehen. Die tägliche Höchstarbeitszeit ist nicht mehr zeitgemäß. Die europäische Arbeitszeitrichtlinie kennt nur eine wöchentliche Arbeitszeit, eine solche Flexibilität brauchen wir. Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen am besten, wie das System auszutarieren ist. Und wenn wir den Fachkräftemangel mit in Betracht ziehen, dann ist es geradezu himmelschreiend, dass man nicht längst reagiert hat.

Gibt es noch ein weiteres Thema?

Wir brauchen eine Rente, die nicht nur für alle sicher ist, sondern eine, die vor allen Dingen auch die Beitragshöhe mit in den Blick nimmt. Sie muss auch für die Unternehmen, die sie ja mitfinanzieren, und die jungen Menschen stemmbar sein. Das Rentenpaket II, wie es die Ampel auf den Weg bringen wollte, ist aus meiner Sicht total schief. Denn ich kann nicht auf der einen Seite 48 Prozent Rentenniveau sicherstellen und auf der anderen Seite die Beitragszahler außer Acht lassen. Das ist eine Ungerechtigkeit, die beseitigt werden muss. Und es braucht noch etwas!

Was?

Die Mütterrente III. Mit der Mütterrente II wurde ja geregelt, dass Mütter und Väter für jedes Kind, das vor 1992 geboren wurde, ein halbes Jahr zusätzlich bei der Rente angerechnet bekommen. Warum wurde das noch nicht erweitert auf Mütter, deren Kinder danach geboren wurden? Das ist unfair und muss geändert werden.

Die Kommunen ächzen unter steigenden Sozialausgaben. Muss man in anderen Bereichen sparen, um das in den Griff zu bekommen?

Nein, mein Ansatz ist ein anderer: Wenn unsere Wirtschaft wächst, dann haben wir mehr Spielräume, im Sozialen stark zu sein. So, wie wir jetzt etwa mit Blick auf die Industrie und Autobranche aufgestellt sind, ist es fast eine Katastrophe. Dass so viele Menschen Angst haben, ihren Job zu verlieren, ist die größte Gefahr für den sozialen Frieden. Darum brauchen wir mehr Menschen in Arbeit: Denn sozial ist, was fördert, fordert und die Existenz sichert.

Sie sind nicht nur für Arbeit und Soziales zuständig, sondern auch für Familie. Würden Sie diesen Zuschnitt weiterempfehlen?

Das müssen jedes Bundesland und der Bund für sich entscheiden. Wir machen seit Jahrzehnten gute Erfahrungen. Gerade den Bereich Kinderbetreuung in das Sozialministerium zu integrieren, halte ich für die richtige Entscheidung. Die Leistungen für Familien und Kinder machen mehr als die Hälfte unseres Sozialhaushalts aus. Da spielt vor allem die frühkindliche Bildung eine wesentliche Rolle. Hier ist hochwertige Qualität von großer Bedeutung.

Kinderarmut ist noch immer ein großes Problem, eine Kindergrundsicherung wird es erst mal nicht geben. Wie geht es jetzt weiter?

Es braucht eine Neuberechnung des Existenzminimums für Kinder. Hätte man das von Anfang an mitgedacht, wäre das jetzt schon fertig. Stattdessen wollte man ideologisch mit einer Kindergrundsicherung vorpreschen, die mittlerweile wirklich mausetot ist. Ob zumindest das Kindergeld zum Jahreswechsel noch – wie von der Ampel geplant – erhöht wird, müssen wir sehen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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