Interview
Erscheinungsdatum: 25. Juni 2024

Autorin von Rias-Bericht: „Polizei gab ihnen eine Mitschuld, weil sie als Juden erkennbar waren“

RIAS erfasste seit dem 7. Oktober mehr antisemitische Vorfälle als im ganzen Vorjahr. Bianca Loy, Co-Autorin des Berichts, spricht über besonders einprägsame Fälle, Mängel bei der Polizei und die Folgen für Betroffene – den Rückzug jüdischer Menschen aus der Öffentlichkeit in Deutschland.

RIAS hat vergangenes Jahr 83 Prozent mehr Antisemitismus in Deutschland erfasst als 2022. Welche Folgen können Sie infolge der Zunahme schon jetzt erkennen?

Bianca Loy: Uns wurde berichtet, dass jüdische Familien ihre Kinder von Schulen abmelden und sie dann auf jüdische Schulen wechseln oder, dass jüdische Studierende pausieren, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen und die alltägliche Konfrontation nicht mehr bewältigen können.

Hat Sie die Zunahme antisemitischer Vorfälle in Deutschland beim Zusammentragen der dokumentierten Fälle überrascht?

Dass wir sehr viele Vorfälle dokumentiert haben, war mir zwar präsent, aber gerade die 58 Prozent nur zwischen 7. Oktober und Jahresende waren schon sehr eindrücklich.

Welche Erkenntnisse sind Ihnen besonders in Erinnerungen geblieben?

Wir sehen, dass die antisemitischen Massaker in Israel Menschen in Deutschland motivieren, sich antisemitisch zu verhalten. Das auslösende Ereignis bildet sich also als Gewaltform in Deutschland ab. In der Qualität besonders bezeichnend sind Fälle, wo sich Antisemitismus mit Sexismus verschränkt. In Leipzig hat eine Frau ihren Kopf im Vorbeigehen über eine propalästinensische Demo geschüttelt, woraufhin Männer ihr gesagt haben, sie sehe wie eine Jüdin aus und würden sie erst mit ihr anfangen, könne sie sich zwei Wochen lang nicht mehr bewegen.

Was hat sich noch eingebrannt?

In Hessen hat jemand in einem Café gesagt, Gaza sei jetzt wie das Warschauer Getto und Israelis würden wahllos Kinder ermorden – jetzt geschehe es also mal umgekehrt. Solche Fälle sind dann die weniger gewaltvollen. Wir hatten aber auch versuchte Brandanschläge gegen jüdische Familie im Ruhrgebiet. Die Täter haben zwei Nächte nacheinander Bengalos geworfen, in der zweiten sind Gartenutensilien in Brand geraten. An der Hauswand haben sie die Parolen „Geld regiert die Welt“ und „Free Palestine“ hinterlassen.

Und wie würden Sie die Gesamtsituation jüdischer Menschen in Deutschland beschreiben?

Der 7. Oktober war eine Zäsur, weil sie noch stärker mit Antisemitismus konfrontiert sind als zuvor schon. Jüdinnen und Juden wägen ständig zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit ab. Sie versuchen, weniger sichtbar zu sein, vermeiden es, auf der Straße Hebräisch zu sprechen. Jüdisches Leben hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Bei vielen findet eine Ermüdung statt. Was Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober in Deutschland erfahren, ist sehr kräftezehrend.

Hinterlässt das keine Verzweiflung?

Wir kriegen immer wieder mit, dass Jüdinnen sich allein gelassen fühlen mit der Situation, keine Solidarität erfahren. Wir sehen die Gefahr, dass der Antisemitismus sich hier weiter normalisiert. Jüdische Studierendenverbände berichten, dass sie sich mit dem Antisemitismus alleine fühlen. Natürlich braucht es eine starke Zivilgesellschaft, die nicht schweigen darf. In der Bahn, im Supermarkt – wer Antisemitismus mitbekommt, darf nicht schweigen. Aber wir hören immer wieder vom Schweigen der anderen. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich isoliert.

Was sagen Sie den Betroffenen?

Die meisten Meldungen erreichen uns über unser Portal, die Stellen in elf Bundesländern sowie den Bundesverband RIAS. Vielen davon geht es erstmal ums Anerkennen und Dokumentieren. Bei Bedarf vermitteln wir an psychosoziale oder juristische Beratung. Wir sehen, dass der Bedarf nach dem 7. Oktober enorm zugenommen hat. Wir informieren auch bei über die Möglichkeiten einer Anzeige bei der Polizei. Und wir versuchen, Vorfälle umfassend einzuordnen. Manchen Leuten hilft es, zu hören, dass Antisemitismus nicht sie als Individuum meint.

Welche Perspektive gibt es für sie?

Solange der Krieg zwischen Israel und Hamas anhält, werden Menschen ihn weiter als Anlass für antisemitische Taten nehmen.

Wer sind die Täterinnen und Täter?

Wir arbeiten betroffenenfokussiert, erfassen nur die Motive hinter den Taten. Viele Fälle bleiben ohne Zuordnung, Beschmierungen im öffentlichem Raum zum Beispiel oft. Das häufigste Motiv ist antiisraelischer Aktivismus, beispielsweise von säkularen propalästinensischen Gruppen. Das Spektrum kann sehr gut mobilisieren und verschiedene Gruppen zusammen bringen auf Demos, vor allem antiimperialitisch-links und islamisch/islamistisch. Die zweitgrößte Gruppe handelte vor rechtsextremem Hintergrund. Nach dem 7. Oktober haben links-antiimperialistisch und islamisch- islamistisch stark zugenommen. In Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern spielte das rechtsextreme Motiv die größte Rolle.

Tut Politik alles Wünschenswerte?

Nein. Wir würden sagen, dass hier mehr getan werden muss, um dieser fortschreitenden Normalisierung etwas entgegenzuhalten. Es ist nicht hinnehmbar, dass Kinder sich von Schulen und Unis abmelden. Einrichtungen müssten mehr tun, um das Grundrecht auf Bildung zu gewährleisten. Polizei und Justiz müssten sich weiter flächendeckend sensibilisieren für die Perspektive der Betroffenen. Wir brauchen mehr Ausbildungs- und Fortbildungsangebote.

Woran mangelt es konkret?

Es gibt beim Staatsschutz zwar für Antisemitismus sensibilisierte Polizist_innen, aber wenn jemand Anzeige erstattet, landet er eher auf den Wachen bei Beamten, die gerade kodierten Antisemitismus nicht erkennen– israelbezogenen Antisemitismus, moderner Antisemitismus, Verschwörungserzählungen. Immer wieder hören wir auch von Jüdinnen und Juden, die Polizei hätte ihnen eine Mitschuld gegeben, weil sie als Juden erkennbar waren, hätte sie nicht ernstgenommen. Es braucht flächendeckende Sensibilisierung. Auch die Justiz ist gefragt.

Welche Mängel sehen Sie in der Justiz?

Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass das antisemitische Motiv in Verhandlungen keine Rolle spielt oder nicht gehört wird.

Wie erklären sich so heftige regionale Unterschiede wie zwischen Berlin mit 1.270 Fällen und Hamburg mit 43 Fällen oder auch Bayern, das fast sechsmal so viele Fälle verzeichnete wie Baden-Württemberg?

In Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Baden-Württemberg gibt es keine regionalen Meldestellen. In diesen Bundesländer bearbeitet der Bundesverband die Meldungen. Wir erklären es uns vor allem damit. Es ist eigentlich unser Anliegen, in jedem Land vertreten zu sein. Aber am Ende ist es immer eine Entscheidung auf Länderebene, ob es politischen Willen und Finanzierung gibt. In Bremen erstellen wir gerade ein Lagebild zu Antisemitismus in der Hansestadt und führen Gespräche.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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