Interview
Erscheinungsdatum: 02. April 2025

Andreas Voßkuhle: „Ein Planungsbeschleunigungsgesetz reicht nicht“

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagt, worauf es bei einer Staatsreform ankommt und warum es auch eine Änderung der Rechtskultur braucht.

Sie sind Teil der Initiative für einen handlungsfähigen Staat. Wie kann man die Verwaltung vereinfachen?

Indem man stärker mit Pauschalisierungen statt Einzelfallgerechtigkeit arbeitet. Wichtig wären etwa auch Genehmigungsfiktionen – ein Antrag gilt als stattgegeben, wenn das Amt nicht innerhalb einer Frist antwortet – und Präklusionsregelungen: Wenn man zum Beispiel bei Bauvorhaben seine Einwände nicht innerhalb einer bestimmten Zeit vorbringt, werden sie nicht berücksichtigt.

Ist die Politik mutig genug für eine „echte Staatsreform“, wie sie Union und SPD ankündigen? Bei vielen Politikern sehen wir eine große Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderung. Deshalb darf man neudeutsch wohl von einem window of opportunity sprechen. Ob man in der aktuellen politischen Situation dann auch tatsächlich in der Lage ist, alles durchzusetzen, ist eine andere Frage.

Inwiefern? Wir leben in schwierigen Zeiten und die Fähigkeit, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, ist gerade nicht sehr ausgeprägt. Nur wenn der Problemdruck sehr groß ist, geht es voran. Dann ist spontan auch mal eine Grundgesetz-Änderung drin, wie wir gerade gesehen haben. Also ist der Druck noch nicht groß genug? Alle Parteien tun sich schwer, aus alten Mustern auszubrechen. Das sieht man bei den Koalitionsverhandlungen, bei denen alte Schätzchen wie die Mütterrente, die Pendlerpauschale und das Ehegattensplitting aus dem Schrank geholt wurden. Stattdessen müssten sie ganz neue Prioritäten setzen. Sie haben den Verhandlern ihre Vorschläge vorgestellt. Wie waren die Reaktionen? Sehr positiv. Uns wurde von vielen Seiten versichert, dass man eine Reihe von Vorschlägen umsetzen möchte. Die zuständige Arbeitsgruppe schreibt, man wolle „insbesondere“ Vorschläge der Initiative aufgreifen und ein „Reformsofortprogramm“. Welche drei Punkte wären am schnellsten umsetzbar? Viele Punkte sind schnell umsetzbar. Anfangen könnte man etwa mit der Einrichtung eines neuen Ministeriums für Digitales und Verwaltung, der weitgehenden Abschaffung von Dokumentations- und Nachweispflichten und der Bündelung der verschiedenen Zuständigkeiten für Leistungen der sozialen Sicherung in einem oder zwei Ministerien. Und welche Punkte würden länger dauern? Föderale Fragen, weil es da immer um die Verteilung von Macht und Geld geht. Das wird nicht leicht, aber es muss etwas getan werden. Wir haben überlappende Zuständigkeiten und eine Reihe von Konflikten, die schwer lösbar sind. Dafür müsste man auch wieder das Grundgesetz ändern.

Welche Konflikte meinen Sie? Viele Schwierigkeiten entstehen etwa im Zusammenhang mit Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern und der entsprechenden Mischfinanzierung, die im Grundgesetz nur als Ausnahme vorgesehen ist. In Ihrem Zwischenbericht nennen Sie auch Gesetzgebungsverfahren an sich als Problem. Warum? Schlechte Gesetze führen zu einem schlechten Verwaltungsvollzug und zu unnötigen Bürokratiekosten, das ist mittlerweile allen klar. Deshalb spart man an der falschen Stelle, wenn man versucht, durch mit der heißen Nadel gestrickte Gesetze zentrale Probleme zu lösen. Es braucht insbesondere Praxis-, Sozial- und Energie- und Klimachecks im Vorfeld. Einen großen Bereich haben Sie in Ihren Empfehlungen ausgeklammert: Gerichte. Gibt es da keinen Reformbedarf? Doch, aber die Komplexität der Thematik war zu groß für einen solchen Zwischenbericht.

Wo sehen Sie Änderungsbedarf?

Der Kontrollzugriff insbesondere der Verwaltungsgerichte ist zu kleinteilig geworden, zum Beispiel im Planungsrecht. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten, sich an ein Gericht zu wenden, immer mehr erweitert – wir haben teilweise einen dreistufigen Instanzenzug. All das kostet sehr viel Zeit und führt am Ende häufig trotzdem nicht zu besseren Ergebnissen. Dabei gehört zu einem funktionierenden Staatswesen, dass man Rechtskonflikte schnell beilegen kann. Also einfach weniger Instanzen? Nein, es geht um eine Änderung der Rechtskultur. Es reicht nicht, einfach nur ein Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg zu bringen. Wir brauchen auch eine andere Juristenausbildung, einen anderen Blick auf Konflikte. Wir müssen uns als Juristen immer auch als Problemlöser sehen und nicht nur als diejenigen, die sagen, was nicht geht. Was würden Sie an der Ausbildung ändern? Mediation, Kommunikation, Psychologie, Verwaltungspraxis: Das sind alles Dinge, die dort unterbelichtet sind, im Alltag aber eine große Rolle spielen.

Sie haben kürzlich gesagt, auch das Bundesverfassungsgericht sollte umdenken – seine Entscheidungen seien sehr komplex geworden. Greift es zu sehr in die Politik ein? Die Komplexität einer Entscheidung hat nichts damit zu tun, dass man den Gesetzgeber korrigieren möchte. Im Gegenteil: Die Urteile sind unter anderem auch deshalb so lang geworden, weil man versucht, der Politik alle möglichen Handlungsalternativen aufzuzeigen. Den Vorwurf, dass das Gericht zu übergriffig sei, gibt es seit seiner Gründung 1951. Jedenfalls erklärt Karlsruhe nicht mehr Gesetze für verfassungswidrig als früher. Was meinten Sie dann damit, dass das Gericht umdenken soll? Die Entscheidungen sind zu lang und zu komplex. Ich sage das durchaus selbstkritisch und im Bewusstsein, dass sich dieser Umstand nicht einfach ändern lässt. Schon mehrere – ablehnende – Entscheidungen aus Karlsruhe gab es zur Vorratsdatenspeicherung. Trotzdem wollen Union und SPD sie einführen. Ist die Politik zu uneinsichtig? Nein. Wenn der Gesetzgeber der Meinung ist, dass sich eine bestimmte Rechtsprechung nicht als hilfreich erwiesen hat, kann er das Gericht darum bitten, noch einmal nachzudenken. Gerade der Datenschutz ist so ein Thema, bei dem wir uns fragen sollten, ob alles, was in den vergangenen Jahrzehnten entschieden wurde, Bestand haben muss. Das Gericht ist an seine eigenen Entscheidungen nicht gebunden. In Thüringen können derzeit keine Richter auf Lebenszeit ernannt werden, weil die AfD den zuständigen Ausschuss im Landtag blockiert. Wie geht man damit um? Für das Bundesverfassungsgericht wurde ja ein Ersatzwahlmechanismus beschlossen: Wenn der Bundestag blockiert ist, kann der Bundesrat übernehmen und umgekehrt. Über solche Regelungen muss man auch auf Landesebene nachdenken.

Wie könnten die aussehen? Dort gibt es ja keine zweite Kammer.

Man könnte an einen speziellen Richterwahlausschuss denken, der mit Mitgliedern aus der Politik, der Richterschaft und der Anwaltschaft besetzt ist. Es stellt sich aber noch ein anderes Problem.

Und zwar? Für die Einstellung der normalen Richterinnen und Richter sind die Justizministerien verantwortlich. Und wenn ein solches Ministerium in der Hand einer politischen Partei wäre, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, dann kann diese Partei ihre Gefolgsleute zu Richtern ernennen. Ein Blick nach Polen zeigt, wie schwer ein solcher Vorgang rückgängig zu machen ist. Sie haben das Gesetz zur Stärkung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts erwähnt. Reicht das für Karlsruhe? Ich bin mit der Regelung ganz zufrieden. Aber ich sehe noch einen Bereich, über den man nachdenken sollte. Eine einfache Mehrheit im Bundestag sollte keine prozessualen Regelungen ändern können, da bräuchte es zumindest einen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrats. Können Sie das erläutern? Ein Beispiel: Das Parlament könnte beschließen, dass die Fälle nach der Reihenfolge des Eingangs entschieden werden müssen. Das würde dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht zu aktuellen Debatten aufgrund des hohen Fallaufkommens nichts sagen kann. Das Gericht wäre faktisch kaltgestellt, was zeitkritische Themen angeht. Insofern wäre es wichtig, wenn hier noch mal nachgebessert würde.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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