Baubranche und Wohnungswirtschaft schlagen seit Wochen Alarm und nehmen Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) und Bundeskanzler Olaf Scholz in Haftung: „Wir leben wir noch von den relativ hohen Auftragsbeständen, die aber rasant abgebaut werden“, warnt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie. Während im Februar die Auftragsbücher noch für die kommenden fünf Monate gefüllt waren, sind es nach Auskunft der Bauindustrie ein gutes halbes Jahr später nur noch 3,6 Monate. Müller warnt: „Dies lässt, angesichts der schwachen Auftragseingänge für 2024, nichts Gutes erwarten.“ Die nachgefragten Kapazitäten seien auf ein 12-Jahres-Tief gefallen. Gelinge es nicht, die Baunachfrage und damit auch die Baukonjunktur zu stabilisieren, sei damit zu rechnen, dass Personal im Bauhauptgewerbe spätestens ab 2024 abgebaut würde.
Da passt es gut ins Bild, dass Deutschlands größter Wohnungskonzern Vonovia einen Baustopp angekündigt hat. 60.000 Wohnungen wolle der Bochumer Wohnriese nicht bauen, hieß es vor wenigen Wochen in zahlreichen Medien. Allerdings fehlte hier ein entscheidender Hinweis: Die Zahl beschreibt den Ausbauhorizont insgesamt. Denn Vonovia gehört, obschon Vermieter von 549.000 Wohnungen, nicht zu den Neubauriesen. Etwa 3.500 Wohnungen baut die Firma 2023, 2022 waren es 3.749 und 2021 nur 2.200. Die 60.000 Wohnungen wären bei etwa gleichbleibender Bautätigkeit die Vorhaben der kommenden 20 Jahre. Diese sollen nun zu Ende geplant – aber vorerst nicht gebaut werden.
Und damit sind die Vonovia-Wohnungen nicht allein: 884.900 geplante und genehmigte Wohneinheiten standen Ende 2022 zu Buche. Dieser sogenannte Bauüberhang ist vor allem aus einem Grund bemerkenswert: Zwar spricht, so das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, wenig für eine Baugenehmigungs-Lagerhaltung. Aber seit 2015 wächst der Unterschied zwischen tatsächlich gebauten Wohnungen und Baugenehmigungen immer weiter an.
Hauptsächlich liege die Krise im Bau an zwei Faktoren, rechnet das ifo-Institut aktuell vor: Einmal den massiv gestiegenen Zinsen, die Projekte enorm verteuerten. „Die Boomjahre waren vor allem auf die niedrigen Zinsen zurückzuführen, das hat auch dazu geführt, dass viel Baufinanzierungen 'auf Kante genäht' waren“, erklärt Klaus Wohlrabe vom ifo-Institut. „Dass wir uns in einer Krise befinden, zeigen die Daten, noch nie gab es so viele Stornierungen.“ Auch beim Zentralen Immobilien-Ausschuss (ZIA) sieht man eine Krise heraufziehen. „Zinsen sind um den Faktor 4 gestiegen, entsprechend weniger können Einzelerwerber anfänglich tilgen“, rechnet ein Sprecher vor. „Dies führt zu längere Tilgungszeiträume oder dazu, dass den Erwerbern weniger Kapital zum Kauf zur Verfügung steht.“ Erste Projektentwickler haben bereits Insolvenz angemeldet.
Der zweite Faktor ist das Material. Zwar ist der Materialmangel, ausgelöst unter anderem durch den Angriff Russlands auf die Ukraine, zwischenzeitlich weitgehend behoben. Doch die Preise für Materialien sind in einigen Bereichen enorm gestiegen, zeigen die Daten des Statistischen Bundesamtes. Allerdings keineswegs einheitlich: Insbesondere einige energieintensive Baustoffe wie Zement und Beton und Rohstoffe wie Frischkies und Sand haben sich enorm verteuert – andere Baustoffe sind inzwischen wieder deutlich günstiger geworden. Der Marktpreis für Gitter und Geflechte und viele Holzbaustoffe aber hat sich seit Juni 2022 wieder deutlich verringert.
Zinsen und Baumaterialpreise bieten viel Sprengstoff für die Ministerpräsidentenkonferenz im November, bei der das Bauthema eine große Rolle spielen soll. Die Bundesländer sind für die Bauordnungen gemeinsam mit den Kommunen zuständig – der Bund spielt hier eine vergleichsweise kleine Rolle. Wo der Bund aber helfen könnte, heißt es aus der Branche, wäre bei den finanziellen Rahmenbedingungen. Bereits beschlossen sind schnellere steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten im Wohnungsbau.
Die aber würden nicht ausreichen, mahnt Tim-Oliver Müller vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie. „Bevor abgeschrieben wird, muss investiert werden – und genau hier hakt es.“ Sprich: wer mangels Gewinnen keine Steuern zahlen muss, kann auch keine Steuern sparen. Müller fordert daher ein viel größeres Besteck – massive staatliche Intervention: „Ein starres Festhalten an der Schuldenbremse ist in dieser Situation nicht zielführend.“ Es gehe eben nicht nur um eine Wirtschaftsbranche, sondern auch um ein sozialpolitisches Thema. „Um den finanziellen Spielraum zu erweitern, würde ein KfW-Programm mit einem Zinssatz von zwei Prozent helfen und für die Bestandshalter in der Wohnungswirtschaft für eine substanzielle Zinsverbilligung für den Neu- und Umbau sorgen“, sagt ein ZIA-Sprecher.
Allerdings verändert sich bereits jetzt das Preisniveau langsam zugunsten der Bauherren: Die Bauindustrie rechnet mit einem weiteren Rückgang der Rohbaupreise in den kommenden Monaten. Und während die Baugewerke in den vergangenen Jahren auslastungsbedingt Preise aufrufen konnten, die weit über dem eigentlichen Preisniveau der Dienstleistung lagen, sind die Auftragsbücher nun leerer. Sogenannte Abwehrangebote, also überhöhte Preise, die trotzdem akzeptiert wurden, fallen jetzt weg, berichten Projektentwickler. In der Branche rechnen einige mit einer Konsolidierung der Dienstleistungspreise im kommenden Jahr. Kommen die Aufträge allerdings weiterhin in großem Stil nicht und wird aus einer Normalisierung eine Krise, könnte bald vor allem eines drohen, was die Baubranche schon einmal in den 2000ern erlebt hat: eine massive Abwanderung von Fachkräften in andere Bereiche. Aber die gewünschten Wohnungen entstehen dadurch weiterhin nicht.