Berlin.Table : Herr Mützenich, Wladimir Putin hat offenbar 36 Stunden Feuerpause angeordnet. Wie viel Hoffnung macht Ihnen das?
Rolf Mützenich : Ob es das Kampfgeschehen in jeder Form betreffen wird, das können wir erst nach den 36 Stunden bewerten. Zumal es keine unabhängige, internationale Überwachung geben wird. Wichtig wäre, wenn in diesem Zeitraum die Zivilbevölkerung durch humanitäre Korridore und Hilfen erreicht werden könnte. Ob daraus mehr erwachsen kann, wird man sehen. Gleichwohl ist der Schritt ein wichtiges Signal, dem weitere folgen müssen.
Wie sollte Berlin darauf reagieren?
Wir sollten das Momentum nicht verstreichen lassen. Sicher war die Aufforderung durch den türkischen Präsidenten Erdogan an Russland, zu einer einseitigen Waffenruhe zu kommen, hilfreich. Die Türkei hatte schon beim Getreideabkommen zusammen mit den Vereinten Nationen gute Dienste geleistet und etwas möglich gemacht, woran vorher nur wenige geglaubt haben. Jetzt sollte auch die deutsche Außenpolitik helfen, den Pfad der Diplomatie auszubauen. Durch Passivität würde sich das Fenster der Gelegenheit schnell wieder schließen.
Kurz davor hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Ukraine die Lieferung schwerer Panzer versprochen. Ist das nicht kontraproduktiv?
Seit vielen Monaten leisten wir intensiv Unterstützung für die Ukraine - humanitär, wirtschaftlich und auch militärisch, immer in enger Abstimmung mit unseren Partnern, insbesondere Frankreich und den USA. Es gibt von uns und unseren Partnern keine Alleingänge. Gemeinsam achten wir darauf, dass die Nato nicht Kriegspartei wird und wir nicht selbst eskalieren. Das ist auch jetzt der Fall. Noch besser wäre gewesen, nicht nur die Entscheidung gemeinsam vorzubereiten, sondern auch die Bekanntgabe.
Das heißt: Sie unterstützen Macrons Entscheidung?
Gerade im militärischen Bereich war und ist es wichtig, situationsgerecht zu handeln. Deswegen haben wir auch nie rote Linien bei den Waffenlieferungen an die Ukraine gezogen. Wenn wir uns nun mit den Partnern auf die Lieferung weiterer Waffensysteme verständigen und die anderen Kriterien nicht außer Acht lassen, dann findet das auch meine Unterstützung.
Was bedeutet der Krieg für die Ostpolitik der SPD?
Die Ostpolitik war immer viel mehr als nur das Agieren gegenüber Russland oder der Sowjetunion. Ostpolitik bedeutete auch die Herstellung der Souveränität von unterdrückter nationaler Staatlichkeit und von Nationen. Sie hat dazu beigetragen, dass sich Gesellschaften, die im großen Gefüge der Sowjetunion eingezwängt waren, friedlich und souverän befreien konnten. Wandel durch Annäherung war ein ganzes Bündel an Maßnahmen, begonnen bei der Abrüstung bis hin zu kulturellen Begegnungen. Den anderen respektieren und verstehen lernen war das Ziel, aber niemals sich mit ihm gemein machen. Insofern ist die Ostpolitik immer noch ein Vorbild für andere Regionen und für unsere zukünftige Politik in Europa.
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.
Ja, Putin hat das zertrümmert; er hat das Ende des Kalten Krieges aufgehalten und die Etablierung einer europäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands nicht gewollt. Das ist natürlich eine nachhaltige Schwächung unserer Friedens- und Sicherheitspolitik, die immer viel mehr als den militärischen Kontext beinhaltete.
Hat der Krieg auch Ihre persönliche Sichtweise verändert?
Ich habe wiederholt meine Überzeugungen kritisch hinterfragt, ohne einem gewissen modischen Trend zu folgen, gleich die ganze Ostpolitik für falsch zu halten oder mich demonstrativ in den Staub zu werfen. Natürlich halte auch ich bestimmte Entscheidungen im Zusammenhang mit Russland im Nachhinein für fehlerhaft. Dennoch ändert das nichts an meinen Grundüberzeugungen, dass weiter am Frieden gearbeitet werden muss, in Europa und weltweit. Und da mache ich mir große Sorgen.
Was haben Sie aus dieser Zeitenwende gelernt?
Wir haben Fehler begangen in der Einschätzung der imperialen Denkkategorien Russlands. Für mich persönlich zum Beispiel gilt: Obwohl ich Putins Vorgehen spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 sehr kritisch sah, habe ich einen Beitrag Putins, der in der Zeitschrift Osteuropa im Sommer 2021 auf Deutsch erschien, nicht ernst genug genommen. Eigentlich lag da seine Gedankenwelt schon offen vor uns.
Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?
Wenn wir über Fehler sprechen, müssen wir auch über Versäumnisse reden und daraus Konsequenzen ziehen. Möglicherweise war es mein Fehler, zu sehr auf Vernunft und Rationalität zu setzen und die Begleiterscheinungen brutaler Machtpolitik zu unterschätzen. Das heißt dann aber auch, dass oft gegenseitiges Misstrauen Pfade der Konfliktlösung unmöglich macht. Versäumnisse liegen auch darin, dass mit Ende des Kalten Krieges die Überlegenheitsphantasien in Teilen des sogenannten Westens Konjunktur hatten. Einige waren geradezu besoffen vom Sieg kapitalistischer, demokratisch organisierter Gesellschaften. Das war für manche eine Provokation, nicht nur für Russland. Die Folgen erleben wir heute innerhalb der Vereinten Nationen, wenn etwa über den russischen Angriffskrieg abgestimmt wird und bei weitem nicht alle auf unserer Seite sind.
Leben wir in einem neuen Kalten Krieg?
Wir betreten auf jeden Fall eine Phase des Misstrauens, der Aufrüstung und der Versicherheitlichung vieler Lebensbereiche. Wir werden mit Wehrhaftigkeit und Resilienz in einem viel breiteren Begriff als nur dem des Militärischen konfrontiert sein - bis hin zur Überwachung und Unterdrückung von Gesellschaften, die versuchen, sich Freiheitsrechte zu erkämpfen. Reflexe, die wir aus dem Kalten Krieg kennen, werden auch unser politisches Handeln beeinflussen.
Welche meinen Sie?
Nehmen Sie beispielsweise die Begründung des Verkehrsministers für den Aus- und Neubau der Autobahnen. Man müsse, und jetzt wörtlich „jederzeit in der Lage sein, militärisch notwendige Transporte mit erhöhten Lasten (…) aufzunehmen“. Das deutet schon einen deutlichen Wandel des innenpolitischen Diskurses an und ich bin gespannt, wie die reagieren werden, die einerseits dem Militärischen einen neuen Daseinszweck geben und gleichzeitig eine ökologische Modernisierung anstreben.
Der Kanzler weist gerne darauf hin, dass die Verteidigungsminister zuletzt immer von der CDU kamen. Welchen Anteil hat die SPD, die sich stets gegen das Zwei-Prozent-Ziel wehrte, am Zustand der Bundeswehr?
Verantwortung allein bei den anderen zu sehen, wäre sicher falsch. Auch die SPD hat früheren Rüstungsetats zugestimmt. Gar keine Frage. Die Vorlagen kamen aus den Ressorts, wurden im Kabinett auf den Weg gebracht, und der Haushaltsausschuss hat entschieden. Von daher tragen wir ebenso Verantwortung. Aber an eines würde ich doch erinnern wollen: Wir haben immer wieder feststellen müssen, dass die freigegebenen Summen nie komplett verausgabt wurden. Immer wieder hat es im Beschaffungswesen, bei Großprojekten und Sonderwünschen gehakt. Deswegen ist die Forderung nach endlich mehr Geld im System zu kurz gegriffen. Das ist die Herausforderung für Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Sie muss das Geld so verwenden, dass es einerseits die Sicherheit erhöht, sich andererseits die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.
Christine Lambrecht hat sich durch ein - vorsichtig formuliert - unglückliches Silvestervideo erneut in die Schlagzeilen gebracht. Ist sie dem Amt noch gewachsen?
Christine Lambrecht hat einen der schwierigsten Jobs in der Bundesregierung. Ich finde die Kritik an ihr oft unsachlich und reichlich überzogen, insbesondere wenn sie mit persönlicher Herabsetzung und Häme vorgetragen wird.
Einen der schwierigsten Jobs - und dann eine solche Ansammlung von Patzern und Fehltritten. Ist das noch entschuldbar?
Man kann von dem Video halten, was man will – die Verteidigungsministerin setzt sich jeden Tag mit großem Engagement für Verbesserungen bei der Bundeswehr ein und steht fest an der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Daran habe ich keinen Zweifel.
Wir haben ein Jahr Ampel hinter uns, und nichts scheint mehr so zu sein, wie es war. Die SPD muss Rüstungsvorhaben mittragen, die FDP Stützungsprogramme für die Wirtschaft finanzieren, die Grünen müssen AKW-Laufzeiten verlängern. Wie oft haben Sie gedacht: Das halten wir nicht mehr lange aus?
So weit bin ich in meinen Überlegungen nicht gekommen. Aber ich habe in diesem Jahr immer wieder erlebt, wie schwierig die Kompromissfindung geworden ist, weil man es ja nicht nur mit drei sehr unterschiedlichen Koalitionspartnern zu tun hat, sondern auch mit verschiedenen institutionellen Machtzentren innerhalb der Koalitionsparteien. Es sind einfach mehr Akteure geworden.
Welches ist das Schlüsselgremium?
Sicher ist der Koalitionsausschuss von seiner institutionellen Verankerung her das Gremium, wo Entscheidungen zu treffen sind. Allerdings: Dass das von der Problemdurchdringung bis hin zum Ergebnis nur in diesem Gremium stattfindet, würde ich bezweifeln.
Gibt es eine Instanz, die dann korrigierend eingreift und belastbare Ergebnisse liefert?
Es gibt natürlich das Dreieck Finanzminister Lindner, Wirtschaftsminister Habeck, Bundeskanzler Olaf Scholz. Aber ich sage sehr deutlich: Es gibt auch die drei Koalitionsfraktionen. In der Woche vor Weihnachten etwa haben wir bewiesen, dass wir Gesetzentwürfe, in diesem Fall die Gas- und Strompreisbremse, quantitativ und qualitativ doch deutlich verändern können. Und dass manch ein Kabinettsmitglied lernen muss, damit zu leben.
Die Krisen der letzten zwölf Monate haben die Prioritäten des Koalitionsvertrages verändert. Schmerzt das?
Nein, weil ich so die Realität nicht beschreiben würde. Im Gegenteil, wir haben im vergangenen Jahr über 100 Gesetze verabschiedet, ein großer Teil davon stammt aus dem Koalitionsvertrag. Was für mich aber viel wichtiger ist: Du musst als Sozialdemokrat in Verantwortung die Dinge immer so regeln, dass andere politische Mehrheiten sie später nur noch schwer korrigieren oder aushebeln können. Deswegen bin ich nach diesem ersten Jahr sehr zufrieden. Wir haben es zum Beispiel geschafft, den Mindestlohn endgültig zu einem Bestandteil des Sozialstaats und unserer Arbeitsgesellschaft zu machen. Das wird nicht wieder verändert werden können, nicht in der Höhe, nicht in der Qualität.
Was macht Sie da so sicher?
Keine noch so konservative Bundesregierung wird noch mal Hand anlegen an den Mindestlohn. Er bleibt das letzte Auffangbecken für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht in tariflich gebundenen Lohnverhältnissen stehen. Zweitens haben wir einen Systemwechsel durch das Bürgergeld hinbekommen, nachdem sich der Arbeitsmarkt grundlegend verändert hat und inzwischen von der Nachfrageseite geprägt ist. Zum dritten glaube ich, dass niemand mehr das Kindergeld absenken oder Kinder bei der Auszahlung unterschiedlich bewerten wird. Die Zahl der Wohngeldempfänger kann reduziert werden von nächsten Regierungen. Aber das System der Unterstützung, gerade für diejenigen, die sich Eigentum nicht leisten können, ist noch stärker verankert worden. Insofern blicke ich auf 2022 durchaus auch mit Selbstbewusstsein und Stolz zurück. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wir haben an vielen Stellen soziale Rechte verankert, die einklagbar sind. Wir greifen dort in die Marktwirtschaft ein, wo das System außer Rand und Band geraten ist. Ich glaube, das Zeitalter des Neoliberalismus ist mit dieser Regierung endgültig vorbei.
Der Krieg und die durch ihn ausgelösten Krisen zwingen zu einem höheren Tempo bei Reformen, beim Umbau etwa der Energiepolitik. Ist das ein Kollateralnutzen dieser Krisen oder fürchten Sie eher die gesellschaftlichen Verwerfungen, die das mit sich bringt?
Unabhängig vom Krieg wissen doch viele, dass tiefgreifende Veränderungen vor uns liegen. Die Gewerkschaften sprechen seit Jahren von der Transformation der Arbeit. Wenn Kinder oder Enkelkinder von uns einfordern, anders zu leben, geht auch das nicht spurlos an den Älteren vorbei. Ich glaube, vielen ist klar, dass man sich auch selbst verändern muss. Aber der Krieg hat natürlich Beschleunigungseffekte ausgelöst. Es ist einfacher geworden, dem Staat wieder Kompetenzen zuzuweisen und ihn mit neuem Rüstzeug auszustatten, sowohl finanzieller Art als auch rechtlicher Natur.
Es gibt Kinder und Enkelkinder, die über die Klimapolitik so unzufrieden sind, dass sie sich auf Straßen festkleben. Haben Sie dafür Verständnis?
Mich beeindrucken die Konsequenz und zum Teil auch der Rigorismus. Er ist nicht der meine, aber ich glaube, dass die meisten der Demonstranten Gutes wollen. Deswegen sollte man diese Proteste nicht pauschal verurteilen. Ich würde mich auch ärgern, wenn ich nicht zur Arbeit komme oder mein Kind nicht aus dem Kindergarten holen kann. Aber insgesamt sollten wir ein bisschen gelassener auf junge Leute reagieren, die berechtigte Angst um den Planeten und die Menschheit haben. Allerdings nehme ich gleichzeitig die Hinweise ernst, dass es auch in dieser Gruppe einen kleinen Teil gibt, der zu Gewalt neigt. Da ist für mich die Grenze, wo der Rechtsstaat klar handeln muss – ohne gleich wie in Bayern diese Menschen in Gewahrsam zu nehmen. Das halte ich für überzogen.
In den nächsten Tagen trifft sich die SPD-Fraktion zu ihrer Jahresauftaktklausur. Womit wollen Sie der Fraktion eine Identität geben im neuen Jahr?
Wir werden nicht wiederholen können, was wir im vergangenen September in Dresden geschafft haben - nämlich den Takt für die Entlastungspakete und für einige soziale Verankerungen und Eingriffe in das Wirtschaftssystem vorzugeben. Aber wir bleiben am Ball. Das Jahr 2023 sollte nach dem Motto beginnen: „Aus der Krise eine Chance machen“. Dafür haben wir bereits viele Grundsteine gelegt und gezeigt, wie es gehen kann. 300 Milliarden stehen für den sozialen Zusammenhalt bereit, innerhalb weniger Monate haben wir die Energieversorgung umgestellt. Ein erstes LNG-Terminal wurde in kürzester Zeit errichtet. Dieses Tempo brauchen wir auch in anderen Bereichen – zum Beispiel beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, bei der Modernisierung der Infrastruktur und der Fachkräftezuwanderung. Dabei ist uns klar: ein moderner Staat muss immer die Menschen im Blick haben. Deswegen werden wir uns auch mit den gesellschaftlichen Verwerfungsprozessen und der Verteilungsfrage im Land befassen. Und uns weiter um die Punkte kümmern, die noch nicht abgearbeitet sind. Zum Beispiel um die Probleme im Krankenhauswesen oder eine nachhaltige Rentenpolitik. Und schließlich wollen wir auch bald über das neue Wahlrecht entscheiden.
Was haben Sie vor?
Eine sehr knifflige Operation, aber es geht voran. Wir werden Mitte Januar einen Gesetzentwurf einbringen. 299 Wahlkreise mit einer Begrenzung auf 598 Abgeordnete. Das ist ein schwerwiegender Eingriff in das Wahlrecht. Und es dürfte politisch und rechtlich hoch umstritten sein.
In der Union werden Sie dafür kaum Unterstützung finden.
Nicht nur dort nicht. Kommt das Gesetz, heißt das für einige Abgeordnete, dass sie möglicherweise in der nächsten Wahlperiode nicht mehr dabei sein werden. Das ist allerdings auch nicht anders denkbar, wenn man den Bundestag verkleinern will.
Eine der Folgen könnte sein, dass Wahlkreissieger dem Bundestag trotz des ersten Platzes im Wahlkreis nicht in den Bundestag einziehen?
Es gibt in unserem Wahlrecht keine einfache Lösung für eine Begrenzung der Zahl der Mandate. Es wird ein schwerwiegender Schritt sein, der nicht jedem passt und nicht gleich für alle nachvollziehbar ist. Wenn wir auf Überhang- und Ausgleichsmandate verzichten, die den Bundestag so aufgebläht haben, werden wir gezwungen sein, auch bei Erststimmen und Wahlkreisgewinnern einzugreifen.
Es wird ein Entwurf der drei Koalitionsfraktionen sein?
FDP und Grüne denken in die gleiche Richtung. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir im Januar einen guten gemeinsamen Vorschlag vorlegen werden.
Es gab in den letzten 20 Jahren viele SPD-Fraktionsvorsitzende. Anders als viele Ihrer Vorgänger arbeiten Sie, so scheint es, weitgehend ohne Drohungen und Sanktionen gegenüber Ihren Abgeordneten. Wie geht das?
Druck und Sanktionen gehören selten zu meinem Vokabular oder Arbeitsverständnis. Dennoch wird jeder und jede meinen Stil unterschiedlich bewerten. Ein Kollege hat mal gesagt, ich würde in der Fraktion soft power ausüben durch respektvolles Agieren, um so andere zu überzeugen. Das mag sein. Aber ich will mein Bild ein bisschen korrigieren. Ich habe als Fraktionsvorsitzender inhaltlich und personell durchaus auch Entscheidungen getroffen, die nicht jedem gepasst haben und bei denen ich haarscharf an einer Niederlage vorbeigeschrammt bin. Trotzdem würde ich heute sagen, dass meine Entscheidungen auch von denjenigen, die es damals anders sahen, im Nachhinein eher als richtig angesehen werden.
Und wann greift Rolf Mützenich zum autoritären Ton?
Wenn ich hintergangen werde. Wenn ich beleidigt werde. Und wenn ich von einer getroffenen Entscheidung der Fraktionsmehrheit fest überzeugt bin, dann muss ich auch denjenigen sagen, die anderer Meinung sind: ab jetzt gibt es eine gemeinschaftliche Kommunikation.
Sie treten öffentlich eher zurückhaltend und mit einer gewissen Nachdenklichkeit auf. Ist das nicht frustrierend, wenn man im Wettbewerb der Lautesten und Pointiertesten oft übertönt wird?
Ich befürchte, dass unser Verständnis von Politik oft danach ruft, sich laut und als Marktschreier zu verhalten. Und mich hat manches auch geschmerzt in den 20 Jahren, in denen ich jetzt Abgeordneter bin, aber natürlich insbesondere in den drei Jahren als Fraktionsvorsitzender.
Was und warum?
Vor allem, wenn ich mich missverstanden gefühlt oder vielleicht auch nicht richtig kommuniziert habe und dabei Kolleginnen und Kollegen nicht ausreichend mitgenommen habe. Aber ich nehme mir mittlerweile die Freiheit, meinem Stil treu zu bleiben. Woran ich mich nur schwer gewöhnen kann, und das mag jetzt merkwürdig klingen: Ich bin, obwohl ich von so vielen Menschen jeden Tag umgeben bin, in diesem Amt einsamer geworden. Und das macht was mit mir.
Was ist es, was einsam macht?
Es mag ein Wesenszug sein, den man gut oder schlecht finden kann. Bei mir ist es das Verständnis, die volle Verantwortung und Konsequenz für die Entscheidungen allein tragen zu wollen. Das ist nicht ganz leicht in diesen Zeiten mit so vielen Ungewissheiten.