Analyse
Erscheinungsdatum: 10. Januar 2023

„Wir sind zu sehr auf unseren Vorteil bedacht“

Mathias Mogge
Mathias Mogge, 58, ist seit 2018 Vorsitzender der Welthungerhilfe und seit gut einem Jahr Vorsitzender des Bundesverbandes entwicklungspolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen (Venro). Er staunt über die Spendenbereitschaft der Deutschen im Ukraine-Krieg, beklagt die Sonntagsreden der politischen Entscheidungsträger und kritisiert deren unablässigen Blick auf den eigenen nationalen Vorteil.

Berlin.Table: Zeitenwende war das Wort des Jahres 2022. Gibt es die auch in der humanitären Hilfe – oder anders gefragt: Können Sie als Hilfsorganisationen in einer völlig veränderten Weltlage weiter machen wie bisher?

Mogge: Veränderungen gibt es für uns schon seit den 90er-Jahren. Das Erdbeben in Haiti, der Tsunami, der Sahel – seither ist für uns klar, es muss sich was tun. Viele Prozesse sind immer noch zu bürokratisch, wir müssen insgesamt noch schneller werden, Reformen anstoßen und stärker in Vorsorge investieren.

Was heißt das konkret?

Wir müssen die Probleme neu betrachten. Wir müssen neue Netzwerke knüpfen, wir müssen noch viel stärker mit lokalen Akteuren kooperieren und deren Expertise in unsere Arbeit einbeziehen.

Das gilt für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit?

In der Entwicklungszusammenarbeit hat die Verknüpfung der Systeme eine neue Bedeutung bekommen. Wir müssen die einzelnen Teile, etwa Zugang zu Wasser, Bildung oder Ernährung, ganzheitlicher denken. Wir müssen die Ressourcen vor Ort früher einbinden, wir müssen aber auch intensiver mit der Wissenschaft zusammenarbeiten. Es ist klar geworden, dass wir humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedenssicherung mehr zusammendenken müssen und nicht jeden Ansatz isoliert betrachten können. Bei der Welthungerhilfe haben wir dafür die Weichen gestellt.

Hilfsorganisationen bekommen Milliarden an Spenden überwiesen, die Globalisierung betrifft alle, und trotzdem ist das Nord-Süd-Thema in Deutschland ein Nischenthema geblieben. Warum?

Das sehe ich anders. Minister Gerd Müller zum Beispiel hat einiges für das Thema getan. Er ist viel an die Öffentlichkeit gegangen und er hat sich auch in schwierige Debatten eingemischt. Das Thema Lieferketten war ein dickes Brett.

„Im Vergleich zum angelsächsischen Raum haben Nord-Süd-Zusammenhänge bei uns einen geringeren Stellenwert.“

Das hat er aber erst mit Hilfe des SPD-Arbeitsministers durchbohrt. Richtig ist, dass Minister Müller große Reden gehalten hat. Für Menschenrechte, für einen gerechteren Handel, und er hat mehr Geld aus dem Bundeshaushalt erstritten. Aber hat er in seiner Partei, innerhalb der Regierung oder in Brüssel wirklich gekämpft – für fairen Handel, für saubere Lieferketten, für humane Arbeitsbedingungen? Das Thema in der Gesellschaft zu verankern, ist ihm nicht gelungen.

Wenn Sie ihn mit früheren Ministern vergleichen, hat er dem Thema einen größeren Push verliehen, als es einigen seiner Vorgänger gelungen ist. Aber im Vergleich zum angelsächsischen Raum haben Nord-Süd-Zusammenhänge bei uns einen geringeren Stellenwert.

Hat die humanitäre Hilfe, die ja eher beim Auswärtigen Amt angesiedelt ist, bei uns den Stellenwert, den sie verdient?

Es gibt sicher auch da Nachholbedarf. Aber es tut sich was: Zum Beispiel hat sich vor kurzem in Berlin das Center for Humanitarian Action gegründet, ein Think Tank, um genau diese Lücke zu füllen. Und ich habe den Eindruck, dass inzwischen auch mehr intellektuelle Ressourcen in dieses Thema fließen.

Es gibt hier keinen renommierten Lehrstuhl mehr, der sich mit dem Thema befasst. Niemand ist in die Fußstapfen von Dieter Senghaas, Franz Nuscheler oder Dieter Nohlen getreten, und die maßgebliche Literatur zum Thema kommt aktuell aus Großbritannien, Frankreich oder Afrika. Und wenn Angela Merkel Rat gesucht hat, erging die Einladung wiederholt an Paul Collier, einen britischen Experten.

Das stimmt nicht ganz. Der Studiengang Humanitäre Hilfe in Bochum etwa besteht seit vielen Jahren. Einige unserer Mitarbeiter, etwa unsere Programmdirektorin, haben an der Uni Bochum Humanitäre Hilfe studiert. Aber ich gebe Ihnen recht, im angelsächsischen Raum ist das anders, auch weil, etwa in Großbritannien, das Thema immer auch eine wichtige außenpolitische Funktion hatte. In Deutschland ist man da eher zurückhaltend.

Warum ist das so, und wo bleibt Venro, der Dachverband der entwicklungspolitischen und humanitären Nichtregierungsorganisationen, in diesem Diskurs?

Für Venro sind nun mal unter anderem der Bundestagsausschuss für Humanitäre Hilfe und Menschenrechte sowie die Regierung Zielgruppen der Arbeit. Das ist für uns per Mandat festgelegt. Und bei den Haushaltsverhandlungen haben wir zuletzt mit Überzeugungsarbeit auf den letzten Metern eine Menge erreicht. Am Ende sind wir im Etat beinahe auf das Niveau der Vorjahre gekommen. Aber ja, der Diskurs bleibt letztlich in einem interessierten Fachkreis und erreicht häufig nicht die allgemeine Öffentlichkeit. Und doch ist Venro die wichtige zivilgesellschaftliche Stimme.

„Die mittelfristige Finanzplanung sieht nicht gut aus."

Und doch ist absehbar, dass der BMZ-Haushalt künftig schrumpfen wird.

Stimmt, die mittelfristige Finanzplanung sieht nicht gut aus. Da zeichnen sich Rückgänge ab. Deutschland hat als viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt und als Mit-Hauptverursacher des Klimawandels eine Verantwortung, und insofern sind das ganz schlechte Signale. Da müssen wir als Verband aktiv sein und da werden wir auch nicht locker lassen.

Sind Sie am Puls? Früher gingen die Menschen auf die Straße, gegen die Apartheid oder für Nicaragua, die Nord-Süd-Frage war politisch hoch aufgeladen. Ja, der Etat des BMZ ist lange gewachsen und Deutschland erfüllt die ODA-Quote. Aber es gibt den politischen Diskurs dazu nicht. Warum nicht?

Ich denke, dass Sie die Möglichkeiten von NGOs insgesamt überschätzen. Wir können nicht eine ganze Gesellschaft verändern, egal ob hier oder in unseren Projektländern. Heute wird der politische Diskurs junger Menschen ganz stark von der Klimakatastrophe geprägt. Entsprechend weniger Raum gibt es für die Gerechtigkeitsfrage und die soziale Ungleichheit in Ländern, die für uns wichtig sind. Wir sehen aber auch, dass viele junge Menschen bereit sind, sich zu engagieren. Wir müssen sie nur mit anderen Formaten erreichen als früher.

„Die Jugend interessiert sich nicht nur für die Klimakrise.“

Mit welchen?

Wir nutzen als als Welthungerhilfe neue Formate: Wir arbeiten mit Influencern zusammen, posten auf Twitter, Instagram oder TikTok und bekommen durchaus Resonanz. Aber für junge Menschen sind die Formen des Protests heute anders und kurzfristiger, das kann heute dieses sein und morgen jenes. Nein, die Jugend interessiert sich schon sehr für die Zukunft, auch für andere Länder, für andere Menschen und nicht nur für die Klimakrise.

Liegt vielleicht auch ein Problem in der Vielfalt der deutschen NGO-Szene, die ja über die letzten 30 Jahre enorm gewachsen ist? Es gibt selten eine klare Linie und dadurch auch nicht die Möglichkeit, mit einer starken Stimme aufzutreten. Fehlt es Ihnen dadurch nicht an Flexibilität oder auch an der Möglichkeit, Brücken zu schlagen zu Bewegungen wie Fridays for Future?

Wir sind nun mal in der Mischung unserer Organisationen sehr divers. Die einen sind aktionistischer, andere eher vorsichtig, und diese Mischung bietet vielfältige Möglichkeiten. Venro schafft es, diese Diversität unter einen Hut zu bringen. Ich halte das eher für einen Vorteil als für ein Problem. Wir genießen dafür hohen Respekt.

Das mag ja sein, aber mit welchen Themen dringen Sie durch?

Das gelingt uns immer wieder. Die Zivilgesellschaft hat regelmäßig auf die massive Ungleichheit hingewiesen und darüber durchaus einen Diskurs entfacht. Das wurde auch von den Medien aufgegriffen, und die Zusammenhänge zwischen unserem Wirtschaftssystem, dem Finanzsystem, Handelssystem wurden durchaus beschrieben. Dass arme Länder einfach keine richtige Chance bekommen, haben wir doch recht erfolgreich zum Thema gemacht.

Die Globalisierung, jahrelang gefeiert, ist für viele Menschen zu einer Bedrohung geworden. Überall, siehe USA, Polen oder den Brexit in Großbritannien, sehen wir den Rückzug ins Nationale, teilweise auch ins Private. Spüren Sie das bei Ihrer Arbeit auch?

Ich sehe das ein bisschen anders. Ich glaube, im Moment merkt jeder, der in eine Apotheke geht, dass bestimmte Medikamente knapp sind. Warum? Wegen Globalisierung, Arbeitsteilung, Kostendruck, unterbrochenen Lieferketten. Was Millionen regelmäßig in Afrika oder Asien erfahren, erleben wir heute bei der Versorgung mit Medikamenten. Ich glaube, dadurch ist vielen Menschen bewusst geworden, dass die Globalisierung auch zu Problemen führt. Ich denke, dass auch das eine gewisse Rückbesinnung auf nationale Kapazitäten gefördert hat und überhaupt den nationalen Gedanken stärker betont.

„Was Millionen regelmäßig in Afrika oder Asien erfahren, erleben wir heute bei der Versorgung mit Medikamenten.“

Die EU war dabei kaum ein Vorbild. Im Fall von Covid haben Europa und Amerika alles dafür getan, die eigenen Impfstoffe zu bunkern. Wir haben kein globales soziales Gewissen entwickelt, sondern eher das Gegenteil. Jetzt beim LNG ist es ähnlich: Wir kaufen den ärmeren Staaten das Gas weg. Ja, wir organisieren viele kleine Projekte. Aber bei den global existenziellen Fragen ist wenig Verantwortung erkennbar.

Ich stimme völlig überein, da ist auf der einen Seite das Bewusstsein, dass unsere Lebensweise massive Auswirkungen auf arme Länder hat, insbesondere auf die des globalen Südens. Da sind wir, insbesondere in der Handelspolitik, zu sehr auf unseren Vorteil bedacht. Und erst sehr viel später wird darüber nachgedacht, welche Folgen könnte das auf andere haben. Selbst Ländern mit guten Voraussetzungen wird es sehr, sehr schwer gemacht.

Aber unser Anspruch ist doch, zumindest offiziell, ein anderer.

In der Tat. Aber dem, was in Sonntagsreden immer wieder als Augenhöhe betitelt wird, folgt zumeist nicht wirklich eine konkrete politische Umsetzung. Wir haben nicht wirklich die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder im Blick, sondern es geht in der Regel eher darum, wo können wir einen Vorteil generieren, insbesondere dann, wenn es bei uns eng wird.

„Da ist die Regierung hinter den Erwartungen zurückgeblieben.“

In der Bundesregierung scheint das ja auch in Teilen angekommen zu sein.

Richtig. Außerdem: Während zum Beispiel international der Stellenwert Großbritanniens abgenommen hat, sagen mir amerikanische Gebervertreter, wir schauen auf Deutschland, welche Initiativen Deutschland einbringt. Deutschland ist nicht nur ein großer Geber, sondern tut sich innerhalb der Gebergemeinschaft auch immer wieder mit Initiativen hervor.

Nur nicht bei der Ernährungssicherung.

Bei der von Deutschland während der G7-Präsidentschaft initiierten Global Alliance for Food Security hat man sicher mehr von Deutschland erwartet. Da ist die Regierung hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Insgesamt hat Deutschland aber in den letzten Jahren sehr viel in das Thema Ernährungssicherheit investiert, etwa im Rahmen der „Eine Welt ohne Hunger“ Initiative.

In Afghanistan hat die Bundesregierung sehr darauf hingearbeitet, dass Auswärtiges Amt, BMZ und Verteidigungsministerium kooperieren. Es war ein umstrittenes Konzept, weil sich militärische Operationen und humanitäre Hilfe schon im Ansatz ausschließen. Umstritten auch aus Ihrer Sicht?

Aus meiner Sicht war die von FDP-Entwicklungsminister Dirk Niebel zwischen 2009 und 2013 hochgelobte Vernetzung unterschiedlicher Ministerien und Dienste kontraproduktiv. Wir haben das als Welthungerhilfe stets abgelehnt. Wir haben immer gesagt, es muss eine klare und erkennbare Trennung zwischen militärischen Zielen und humanitärer Hilfe geben. Das war damals mit Minister Niebel allerdings nicht ganz einfach.

Es gibt immer wieder Stimmen, die eine Zusammenlegung der gesamten Hilfe in einem Ressort vorschlagen. Wäre das erfolgsversprechend?

Dazu gibt es auch bei den Mitgliedsorganisationen von Venro unterschiedliche Sichtweisen. Einige sagen, legt das Auswärtige Amt und das BMZ zusammen, dann erreichen wir endlich eine bessere Kooperation. Andere sagen, auf gar keinen Fall, weil dann das Thema Entwicklungszusammenarbeit komplett der Außenpolitik unterstellt ist. Als Chef der Welthungerhilfe würde ich einerseits sagen, dass es gut ist, dass in Deutschland ein eigenes Ministerium dafür sorgt, dass diese Themen auch jenseits der Außenpolitik eine Rolle spielen. Andererseits könnte die Zusammenarbeit zwischen BMZ und Außenamt erheblich besser sein.

„Es gab erhebliche Zuwächse."

Das Jahr 2022 war für die deutschen Hilfsorganisationen insgesamt das spendenreichste ihrer Geschichte. Gilt das auch für die Deutsche Welthungerhilfe?

Ja, es gab erhebliche Zuwächse. Es war für uns – was die Spenden angeht – auch ohne die Mittel für die Ukraine ein gutes Jahr.

Können Sie das konkretisieren? Es gibt Organisationen, die haben ihr Spendenaufkommen durch die Ukraine-Zuwendungen nahezu verdoppelt.

So ist es bei uns nicht. Wir hatten ein besonderes Jahr mit einem Spendenaufkommen von über 90 Millionen Euro im letzten Jahr, davon über zehn Millionen für die Ukraine. In früheren Jahren kamen wir auf bis zu 77 Millionen Euro.

Haben Sie eine Erklärung für die Spendenfreude? Sind es das schlechte eigene Gewissen, die Spendenaufrufe im Fernsehen, der Charity-Gedanke, oder was ist das treibende Motiv?

Die Gründe sind vielfältig. Oft ist die Spendenbereitschaft für Opfer von Kriegen oder bewaffneten Konflikten nicht sehr hoch, die Ukraine bildet da eine Ausnahme. Aber vielen ist wohl inzwischen die Bedeutung des Klimawandels klar geworden. Und es dringt ins Bewusstsein, dass es uns immer noch viel besser geht als vielen anderen. Da möchte man einen Beitrag leisten.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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