Analyse
Erscheinungsdatum: 24. Januar 2023

„Wir müssen definieren: Was heißt gewinnen konkret?“

Commander Allied Joint Force Command Brunssum, General Hans-Lothar Domröse during the multinational Saber Strike 2015 military exercise in Adazi Training Area, Latvia, 11 June 2015. (Foto: EPA/VALDA KALNINA
Dass die Ukraine den von Russland entfesselten Krieg gewinnen muss, wird inzwischen, wenn man den auch in seiner Wortwahl vorsichtigen Bundeskanzler Olaf Scholz einmal ausnimmt, von vielen deutschen Politikern gesagt, zuletzt vom neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius. Aber was heißt gewinnen konkret? Berlin.Table hat darüber mit dem ehemaligen Heeresgeneral Hans-Lothar Domröse gesprochen. Domröse war zuletzt bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum und damit einer der höchsten Nato-Generäle. In seiner militärischen Laufbahn hat er als Panzerkommandant unmittelbare Erfahrungen in der Führung von Panzereinheiten gesammelt.

Herr Domröse, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss, sagen hierzulande viele Politiker, zuletzt auch der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius. Wie realistisch ist es denn aus militärischer Sicht, dass dieses Ziel auch erreichbar ist?

Wir müssen definieren: Was heißt gewinnen konkret? Wenn man die Äußerungen des ukrainischen Präsidenten Selenskij verfolgt, dann hat er ungefähr bis April/Mai gesagt, er wolle die Grenzen vom 22. Februar, also vor der russischen Invasion, wiederhaben. Das wäre ein Gebiet ohne die Krim. Heute spricht er von der gesamten Ukraine, also einschließlich der Krim.

Halten Sie es militärisch überhaupt für machbar, die Krim zurückzuerobern?

Ich halte das kaum für möglich. Aber auch die andere Frontlinie im Donbass ist schwierig. Denn die ist 1500 Kilometer lang und etwa 100 Kilometer tief. Die Russen hier zurückzudrängen, schafft die Ukraine nur mit massiver westlicher Unterstützung. Und dazu gehören auch westliche Kampfpanzer.

Was müsste die Ukraine hier militärisch erreichen?

Der Ukraine müsste es gelingen, dem russischen Dauerfeuer zu widerstehen und örtliche Erfolge zu erzielen wie vor einigen Monaten in Charkiw. Zurzeit haben die Russen eine deutliche Übermacht. Die Russen führen die 200.000 zusätzlichen Soldaten aus der Teilmobilmachung jetzt heran. Die Ukraine kann personell und materiell nichts dazulegen, Russland kann dagegen sehr viel dazulegen.

Das heißt, die eher optimistische Einschätzung der militärischen Lage im Sommer, als die Ukraine einige Gebiete zurückerobern konnte, hat sich geändert?

Absolut. Die Lage am Boden ist sehr schwierig für die Ukraine.

In Deutschland wird seit Wochen über die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern gestritten. Könnten diese schweren Panzer die militärische Wende bringen?

Der Leopard-Panzer ist jedenfalls den im Augenblick eingesetzten russischen Panzern in allen wichtigen Belangen überlegen. Wenn man davon genügend hat, gibt es die Chance auf lokale Durchbrüche und damit, im Verbund mit anderen Kräften, die Möglichkeit, Ortschaften zu befreien.

Wie viele dieser Panzer wären denn genügend? Deutschland selber könnte ja nur sehr wenige liefern.

Man muss hier die Summe aus vielen Nationen nehmen. Wir haben 13 oder 14 Nationen, die über Leopard-Panzer verfügen. In Europa gibt es ungefähr 2000 Leopard-Panzer. Frau Strack-Zimmermann spricht ja nicht umsonst von ungefähr 100 Panzern. Wenn jedes Land einige liefert, kommt man schnell auf diese Zahl.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat vielen Monaten in der Frage von Panzerlieferungen gezögert. Was vermuten Sie als Motiv dahinter?

Es ist aus Sicht der SPD, und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat das ja gerade erst wieder betont, die Eskalationssorge, die mit der Lieferung deutscher Kampfpanzer verbunden ist. Aber warum Leopard-Panzer aus Polen oder Spanien, die zugesagten britischen Panzer oder mögliche französische Panzer keine Eskalationsgefahr bergen, ist schwer verständlich. Immerhin hat ja die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock erklärt, dass Deutschland die Leopard-Lieferungen anderer Länder nicht blockieren würde.

So wird es jetzt ja wohl auch kommen. Nun gibt es eine aktuelle Umfrage, wonach 54 Prozent der Befragten grundsätzlich für die Lieferung von Leopard-Panzern sind. Aber 58 Prozent wollen nicht, dass damit die Krim zurückerobert wird. Steckt Scholz angesichts solcher Zahlen nicht tatsächlich in einem echten Dilemma?

Ja, er steckt in einem Dilemma. Deshalb ist es ja so wichtig, zu definieren, was ein Sieg der Ukraine bedeutet. Kein Mensch traut sich doch derzeit öffentlich zu sagen, die Ukraine darf alles gewinnen außer die Krim.

Vor wenigen Tagen hat der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger einen Vorschlag gemacht, der in diese Richtung geht. Einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen auf der Basis der Grenzlinie vor dem russischen Einmarsch. Danach müsste die Ukraine die Krim und Teile des Donbass aufgeben. Kann ein solches Signal am Ende nur von den Amerikanern kommen?

Das Signal muss von Selenskij kommen. Er muss zu erkennen geben, dass das eine Lösung ist, die er sich vorstellen kann. Das kann er aber nur dann machen, wenn er angesichts der immensen Zerstörungen sieht, dass er sein Maximalziel nicht mehr erreichen kann.

Was ist aus Ihrer Sicht militärisch ein realistisches Szenario für die nächsten Monate?

Ich glaube, dass sich die Situation an der Front mehr oder weniger so verfestigen wird, wie wir sie jetzt erleben. Die Russen sind seit einigen Monaten übergegangen zu einer strategischen Verteidigung ihrer Stellungen. Sie haben sich einbetoniert, sie bauen Panzersperren, sie haben wahrscheinlich eine vierstellige Zahl von Minen gelegt. Und sie haben frische Kräfte und diese Schlachtertruppe Wagner eingesetzt, die den Ukrainern enorme Bodenverluste zufügt. Dazu kommen die terrorartigen Zerstörungen im ganzen Land. Und das werden die Russen so weitermachen.

Welche Chancen hat angesichts dieser Situation die Ukraine?

Wenn die Ukrainer clever sind, gelingt ihnen hier und da ein Ortserfolg. Ich sehe nicht, wie sie den Russen militärisch die gesamte Landbrücke wegnehmen können. Und ich sehe nicht, wie sie die Krim zurückerobern können. Immer unter der Maßgabe, dass sie nicht das gesamte High-Tech-Material des Westens bekommen, also etwa Drohnen, Artilleriemunition mit 300 Kilometer Reichweite oder auch Flugzeuge und Hubschrauber. Die Ukraine wird sich nur mit enormer westlicher Hilfe behaupten können.

Und am Ende?

Wenn es im Verlauf dieses Jahres zu einem Waffenstillstand und anschließenden Verhandlungen kommen sollte, müsste natürlich für die Restukraine eine Schutzgarantie ausgesprochen werden, und die müsste amerikanisch-europäisch sein. Und die Zukunft der Krim ist aus meiner Sicht dann eine Verhandlungssache für die nächsten 50 Jahre im Rahmen eines politischen Prozesses.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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